Nach dem Verkauf der Gewürzfirma an Nestlé müssen die Lemckes für Geld nie mehr arbeiten. Darum sei es ihnen aber nicht gegangen.
- Ankerkraut: Gründer haben ihre Gewürzfirma an Nestlé verkauft
- Ankerkraut-Deal sorgte auf Facebook und Co. für heftige Kritik
- Wie es für die Gründer von Ankerkraut in Hamburg nun weitergeht
Wenn eine Familie den Wohnort wechselt, ist das immer eine aufregende Sache. Was nimmt man mit, was lässt man zurück. Als die Ankerkraut-Geschäftsführer Anne (42) und Stefan (44) Lemcke im vergangenen Sommer ihr Haus im Süden von Hamburg verriegelten, war das nicht anders. Für ein Jahr, so der Plan, wollten sie die Geschäfte ihrer erfolgreichen Gewürzmarke hauptsächlich von der Mittelmeerinsel Mallorca aus führen.
Abstand vom Alltag hatten die Gründer sich nach neun rasanten Wachstumsjahren verordnet. Jetzt sind sie seit einem Monat zurück. Ganz bodenständig haben sie Kinder und Hunde ins Auto verfrachtet und mit der Fähre aufs spanische Festland übergesetzt. Dann ging’s 1800 Kilometer nach Norden. „Wir kehren anders wieder, als wir gegangen sind“, sagt Stefan Lemcke.
Ankerkraut: Nach Nestlé-Deal gab es viel Kritik
Das kann man so sagen: Das Unternehmerpaar kommt ohne Firma zurück. Die Ankündigung, dass sie Ankerkraut mehrheitlich an den internationalen Großkonzern Nestlé verkaufen, hat im Frühjahr bundesweit für Aufsehen gesorgt – inklusive massiver Kritik bei Facebook & Co. Die Lemckes, sonst viel und gern in den sozialen Medien sichtbar, waren danach praktisch vom Bildschirm verschwunden.
Seit dem 1. Juni ist der Deal abgeschlossen, der zu den spektakulärsten der deutschen Gründerszene zählt. „Es ist alles planmäßig gelaufen“, sagt Anne Lemcke. „Wir sind nicht mehr Teil der Geschäftsleitung. Das ist erst mal ein formaler Akt auf dem Papier. Aber in der Praxis bedeutet es, dass die Verantwortung für das ganze Unternehmen nicht mehr auf unseren Schultern lastet.“ Die Gründer halten noch einen Minderheitsanteil, treten künftig als Markenbotschafter auf – und müssen wohl nie mehr für Geld arbeiten.
Gründer müssen sich an Rollenverteilung gewöhnen
Jetzt sitzen sie in einem Konferenzraum in der Ankerkraut-Zentrale im Tempowerkring in Hamburg-Heimfeld. Bordeauxdogge Fips schnarcht unter dem Tisch. Erna, ein rumänischer Straßenhund, liegt nicht weit entfernt. Auf den ersten Blick hat sich kaum etwas geändert, wenn Anne und Stefan Lemcke mit ordentlicher Bugwelle im Haus sind und von Mitarbeitern begrüßt werden. Aber sie sind jetzt quasi Gäste, das operative Geschäft leiten die beiden bisherigen Mitgeschäftsführer Timo Haas und Alexander Schwoch.
Noch müssen alle sich an die neue Rollenverteilung gewöhnen. Die vergangenen Monate haben die Selfmade-Millionäre, die es mit der Teilnahme an der Fernsehshow „Die Höhle der Löwen“ zu bundesweiter Bekanntheit brachten und Ankerkraut mit viel Herzblut aufgebaut haben, kräftig durchgeschüttelt – auch wenn sie selbst mit den Mechanismen im Netz bestens vertraut sind.
Ankerkraut musste sich nach Nestlé-Deal Shitstorm stellen
„Die Vehemenz hat uns überrascht und schockiert“, sagt Stefan Lemcke zu der Kritik an dem Verkauf an Nestlé. Vor allem dass auch Mitarbeiter angegangen worden sind, sei eine Linie, die nicht hätte überschritten werden dürfen. „Das war nicht schön“, sagt seine Frau. Shitstorm nennt man es, wenn sich die Empörungswelle in den sozialen Medien entlädt. „Echt jetzt? Für Geld verkaufen manche sogar ihre Seele“, war noch einer der gemäßigteren Kommentare bei Facebook.
Andere kündigten den Boykott von Ankerkraut-Gewürzen an. Dabei ging es in mehr als 20.000 Einträgen weniger um den Ausstieg der Gründer als um den neuen Mehrheitseigentümer Nestlé, der unter anderem wegen der Abrodung von Regenwald, der Ausbeutung von Wasserressourcen und ungesunder Babynahrung in der Kritik steht.
Ankerkraut-Gründer Stefan Lemcke verteidigt Nestlé
„Ich kann das nicht nachvollziehen“, sagt Stefan Lemcke und wirft denen, die wortgewaltig Sturm laufen, vor, die Vorwürfe nicht überprüft zu haben. „Vielleicht hat Nestlé in seiner über 150-jährigen Geschichte Fehler gemacht – wie wahrscheinlich jeder global agierende Konzern. Aber da hat sich inzwischen wahnsinnig viel getan. Die Menschen, die wir bei Nestlé getroffen haben, beschäftigen sich intensiv mit Umwelt- und Gesellschaftsthemen und wollen das Richtige machen.“
Als Unternehmer hätten er und seine Frau die Verantwortung für ihre Firma. „Wir sind ja kein Verein, bei dem jeder mitentscheidet“, sagt Anne Lemcke. Und man hört eine gewisse Entfremdung raus. Zumal nicht sicher sei, wer hinter den Angriffen und Boykott-Aufrufen gestanden habe. „Wir haben das analysiert. Mehr als 90 Prozent sind nicht unsere Kunden.“
Nestlé soll Ankerkraut auf das "nächste Level bringen"
Inzwischen hat sich die Situation beruhigt. Zeit für eine erste Rückschau – und die Frage, was zu der Verkaufsentscheidung geführt hat. „Wir haben uns gefragt, ob wir wirklich diejenigen sind, die Ankerkraut auf das nächste Level bringen können“, sagt Anne Lemcke. „Und wir mussten eingestehen, das schaffen wir nicht.“ Vor allem Stefan Lemcke, der in den vergangenen Jahren beide Elternteile kurz hintereinander verloren hatte, wirkt nach dem Ausstieg befreit. Es habe Verhandlungen mit mehreren möglichen Käufern gegeben, die sich über Monate hingezogen hätten.
„Vom größten Lebensmittelunternehmen gekauft zu werden, ist eine Auszeichnung“, sagt er. Dabei soll Ankerkraut international wachsen und, so ist es vertraglich festgelegt, eine eigenständige Marke im weltumspannenden Nestlé-Imperium bleiben. „Für die Mitarbeiter verändert sich nichts. Wir haben mit allen gesprochen und Ängste ausgeräumt“, betonen die Lemckes, die sich mit einem Treue-Bonus in Millionenhöhe bei der Ankerkraut-Belegschaft bedanken und weiterhin in einem Beirat bei großen Entscheidungen mitsprechen sollen.
Ankerkraut war durch "Die Höhle der Löwen" bekannt geworden
Dass der Exit jetzt kam, hat neben strategischen und privaten Gründen wohl auch mit den bisherigen Ankerkraut-Anteilseignern zu tun. 2016 war Frank Thelen als Investor in der TV-Show „Die Höhle der Löwen“ eingestiegen, 2020 hatten die Gründer weitere Anteile an die Beteiligungsgesellschaft EMZ verkauft – und damals einen zweistelligen Millionenbetrag erlöst. „Es gab jetzt keinen Druck zu verkaufen, aber natürlich möchten Investoren irgendwann ihr Geld zurück“, sagt Stefan Lemcke. Weitere Details gibt er nicht preis.
Aber klar ist: Die schnell wachsende Gewürzmarke ist eben auch ein Finanzprodukt – mit knallharten Rendite-Erwartungen. Dass die erfüllt wurden, lässt sich an den zufriedenen Reaktionen der drei Ex-Mitgesellschafter ablesen. Über die Verkaufssumme wurden keine Angaben gemacht. Experten gehen von einem dreistelligen Millionenbetrag aus. „Wer uns kennt, weiß, dass es uns nicht nur um das Geld geht“, sagen die Lemckes.
Baukosten für neue Ankerkraut-Zentrale steigen massiv
Inzwischen wird immer klarer, dass es angesichts von Kriegsangst und Rezessionsrisiken möglicherweise auch der bestmögliche Zeitpunkt für den Verkauf war. „Es hätte wahrscheinlich mehr Auswirkungen für Ankerkraut, wenn wir nicht verkauft hätten“, sagt Stefan Lemcke. Schon seit Jahresbeginn sei das konstante Umsatzplus bei dem Unternehmen mit mehr als 500 Produkten im Portfolio und einem Jahresumsatz von zuletzt 40 Millionen Euro zurückgegangen. „Gewürze sind ein Luxusgut. Wir schrumpfen mit dem Markt“, sagt Gründer Lemcke. Ob die Boykott-Aufrufe nach dem Nestlé-Verkauf dabei eine Rolle spielen, lasse sich angesichts der allgemein schwierigen Lage nicht feststellen.
- Internationaler Konzern übernimmt Mehrheit bei Ankerkraut
- Corona: Gewürzbox soll bei Geschmacksverlust helfen
- Warum so viele Deals in der Gründershow wieder platzen
- Warum Judith Williams nach dem Pflaumen-Deal doch ausstieg
Auch das Expansionstempo wurde inzwischen gedrosselt. Eine Marktanalyse in den Niederlanden sei nicht erfolgversprechend gewesen. Voraussichtlich im vierten Quartal startet Ankerkraut nun zunächst in Dänemark. Und noch ein anderes großes Projekt ist erst mal auf Eis gelegt: der Ankerkraut-Neubau in Winsen/Luhe, an dem die Standorte in Heimfeld (Zentrale), Sinstorf (Produktion) und Stelle (Lager) zusammengeführt werden sollen. „Die Baukosten haben sich mehr als verdoppelt“, sagt Lemcke. Bei ersten Planungen hatten sie bei acht Millionen Euro gelegen, inzwischen würden 20 Millionen Euro veranschlagt. „Die Entscheidung liegt jetzt bei Nestlé.“
Ankerkraut-Gründer ziehen in Hamburg um
Anne und Stefan Lemcke kümmern sind um andere Projekte. Schon seit 2020 haben sie sich als Investoren an Start-ups beteiligt. Die Gründung einer Stiftung ist in Vorbereitung, mit der sie vor allem Sozial- und Umweltprojekte in Afrika unterstützen wollen. Bereits im Bau ist eine Schule in Tansania, wo Stefan Lemcke als Sohn von Entwicklungshelfern aufgewachsen ist.
Auch in Immobilien wollen sie künftig investieren. „Eher in kleinteilige Projekte“, sagt Anne Lemcke. „Da wissen wir, dass wir das können.“ Ankerkraut wird auch weiterhin eine Rolle in ihrem Leben spielen. Unter anderem hat Stefan Lemcke sich vorgenommen, einmal im Monat in der Produktion mitzuarbeiten. „Ich will in Kontakt bleiben“, sagt er.
Und dann ist noch ein Umzug geplant. Die Lemckes haben eine Wohnung im Hamburger Westen gemietet. „In den vergangenen neun Jahren haben wir die meiste Zeit in die Firma investiert, jetzt sind die Kinder dran“, sagen sie und nennen es Familie 2.0.