Hamburg. Die Lemckes haben ihre Gewürzfirma zur Erfolgsgeschichte gemacht. Der Verkauf an Nestlé wirft Fragen auf. Die Hintergründe.

  • Ankerkraut: Ankündigung über Nestlé-Übernahme löste Shitstorm aus
  • Ankerkraut-Fans fühlen sich durch den Verkauf an Nestlé getäuscht
  • Verkauf an Nestlé wirft für viele Fragen auf

Auf der Facebook-Seite von Ankerkraut geht es normalerweise äußerst nett zu. Da wird erklärt, wie man aus einem leeren Gewürzglas ein Mitbringsel für die abendliche Essenseinladung bastelt. Es gibt Tipps zum Backen und Kochen. Regelmäßig wird über neue Produkte und Namen für das wachsende Gewürzsortiment abgestimmt.

Unter der Überschrift „Zusammen sind wir stark“ informiert das Unternehmen aus Hamburg im März über eine Spendenaktion für Menschen in der Ukraine. Und immer wieder geben die Gründer Anne (42) und Stefan (44) Lemcke sehr persönliche Einblicke in ihr Leben mit zwei Kindern und zwei Hunden. Jeder, so die Botschaft, soll sich als Teil der großen Ankerkraut-Familie fühlen.

Ankerkraut: Über 23.000 Kommentare bei Facebook

Am 13. April war es mit Wohlfühl-Posts samt Küsschen-Smileys und Doppel-Herzchen mit einem Schlag vorbei. Die Ankündigung, dass Ankerkraut die Mehrheit der Firma an den Lebensmittelkonzern Nestlé verkauft, löste einen veritablen Shitstorm aus. „Echt jetzt? Für Geld verkaufen manche sogar ihre Seele“, schreibt ein Facebook-Nutzer. Andere kündigten den Boykott an.

„Danke für die schöne geschmackvolle Zeit mit euch, aber hier und jetzt hat diese nun leider ein Ende“, kommentierte eine andere. Mehr als 23.000 Einträge gibt es bislang allein bei Facebook – die allermeisten offenbar von enttäuschten Fans. Vor allem die Kritik an dem neuen Hauptgesellschafter Nestlé mit Sitz in der Schweiz ist der Grund für den Unmut. „Sehr schade, aber Nestlé ist ein No-Go“, heißt es etwa. Nur wenige äußern sich anders: „Wenn das Angebot stimmt, warum nicht“, schreibt beispielsweise einer.

Ankerkraut-Fans fühlen sich durch den Verkauf an Nestlé getäuscht

Schon jetzt ist es nicht übertrieben, von einem der spektakulärsten Deals in der deutschen Gründerszene zu sprechen. Dabei kann über die Verkaufssumme nur spekuliert werden. Experten gehen von einen dreistelligen Millionenbetrag aus. Das Unternehmerpaar, das es mit der Teilnahme an der Fernsehshow „Die Höhle der Löwen“ vor knapp sechs Jahren zu bundesweiter Bekanntheit brachte, begründet den Verkauf damit, für weiteres – auch internationales – Wachstum Unterstützung zu brauchen.

„Wir sind sicher, dass wir mit Nestlé einen starken Partner gefunden haben. Das ist ein Ritterschlag für uns“, hatten sie die Entscheidung in der vergangenen Woche im Exklusiv-Interview mit dem Hamburger Abendblatt erklärt. Dass die Lemckes, die bereits nach einem Verkauf von 20 Prozent der Anteile 2020 an die Investmentgesellschaft EMZ Partners Millionen einstrichen, jetzt nochmals kräftig Kasse machen, ist ein Aspekt, den sie nicht kommentieren. Da gibt es natürlich Neider. Nicht wenige werfen den Gründern vor, nur das Geld zu sehen.

Ankerkraut soll eigenständig bleiben

Dabei ist ein Exit, wie die Übernahme eines Start-ups durch ein anderes Unternehmen genannt wird, an sich nichts Ungewöhnliches. Für die Mehrzahl der Gründer ist es der absolute Traum. Aber Stefan und Anne Lemcke haben als omnipräsente Galionsfiguren ihrer Marke jahrelang den Ruf als Branchenrebellen gepflegt, die mit Herz und Seele hinter ihrer Firma stehen – und damit ihren Erfolg begründet.

Auch wenn sie jetzt betonen, Ankerkraut bleibe eigenständig, die Geschäftsführung im Amt und sie selbst Gesellschafter und Markenbotschafter, wirft der Verkauf an einen internationalen Großkonzern wie Nestlé, der unter anderem wegen der Abrodung des Regenwaldes, der Ausbeutung von Wasserressourcen und ungesunder Babynahrung in der Kritik steht, einige Fragen auf. Noch im September 2020 hatte Stefan Lemcke im Abendblatt-Podcast „Entscheider treffen Haider“ gesagt: „Wir wollen möglichst viel selber machen und in unserer Hand behalten.“

Erfolgsgeschichte begann mit einer Lüge

Angefangen hat die Geschichte des Aufstiegs vom Vorzeige-Start-up zum Rockstar der Foodszene vor neun Jahren. Stefan Lemcke, als Sohn von Entwicklungshelfern in Tansania aufgewachsen und damals als selbstständiger IT-Berater im Online-Marketing tätig, hatte Ankerkraut 2013 nach einer Reise auf die Philippinen mit einem Geschäftspartner gegründet. Von Anfang an setzten die Start-up-Unternehmer auf Frische, Ursprünglichkeit und den Verzicht auf Geschmacksverstärker und Konservierungsstoffe.

Die Gewürze bezogen sie über den Hamburger Hafen, mischten sie in einer Garage in Wilhelmsburg zusammen. Ehefrau Anne, als PR-Beraterin in der Musikbranche unter anderem für Scooter unterwegs, war mit ihrem zweiten Kind schwanger. Die beiden erzählen gern die Geschichte, dass ihr Mann ihr zwar vorher von seiner Geschäftsidee erzählt, aber verschwiegen hatte, dass er seinen Job hingeworfen hatte. Die ersten Jahre waren Knochenarbeit, der Markteinstieg über den Onlineversand nicht leicht. Branchenprimus Fuchs hatte mit seinen Marken wie Fuchs, Ostmann, Ubena und Kattus quasi das Monopol in den Gewürzregalen der deutschen Supermärkte.

Erster Deal in der TV-Show „Die Höhle der Löwen“

Die Wende kam im September 2016 mit einem Auftritt bei der Gründershow „Die Höhle der Löwen“. Anne Lemcke, die nach dem Ausscheiden des Mitgründers bei Ankerkraut eingestiegen war, hatte heimlich die Bewerbung abgeschickt. Mit einem Schlag war das Hamburger Gründerpaar einem Millionenpublikum bekannt. Innerhalb von Minuten riefen Hunderttausende die Homepage auf.

Den Deal machte der gewiefte Investor Frank Thelen, der 300.000 Euro in Ankerkraut steckte – und sich dafür 20 Prozent der Anteile sicherte. Vor allem aber half er den Gründern mit Know-how. Unter anderem – so erzählt es Anne Lemcke – hatte Thelen die Idee, in den Supermärkten ein Display mit den Gesichtern des Ehepaars zu stellen. Von da ging es immer nur noch steil bergauf.

Ankerkraut: 2021 lag der Jahresumsatz bei 40 Millionen Euro

Inzwischen hat Ankerkraut mit Sitz am Harburger Tempowerkring mehr als 500 Gewürze, Gewürzmischungen und Tees im Sortiment – von Aglio e Olio bis Zitronensalz. Die Marke hat bei vielen Kunden Kultstatus. Neue Produkte werden begierig erwartet und in den sozialen Medien gefeiert. Selbst eine Mischung wie Zimt & Zucker, die jeder schnell selbst zu Hause machen kann, verkauft Ankerkraut für 4,49 Euro. Die charakteristischen Korkengläser stehen in mehr als 10.000 Geschäften. Das Unternehmen betreibt vier eigene Läden, unter anderem an der Hamburger Mönckebergstraße.

2021 lag der Umsatz nach eigenen Angaben bei 40 Millionen Euro. Für dieses Jahr peilt Ankerkraut, das unter anderem mit dem Hamburger Gründerpreis in der Kategorie „Aufsteiger“ ausgezeichnet wurde und es gerade erneut in die Liste der am schnellsten wachsenden Unternehmen in Europa geschafft hat, Erlöse in Höhe von 52 Millionen Euro. Die Zahl der Beschäftigten ist auf mehr als 230 gestiegen. Im Sommer soll der Bau einer neuen Firmenzentrale in Winsen/Luhe starten. Investitionskapital: 13 Millionen Euro.

Schatten auf der Erfolgsstory der Selfmade-Millionäre

Schon in den vergangenen Jahren hatten die Lemckes angefangen, Ankerkraut umzubauen. Unter dem Dach einer Holding gibt es unter anderem die Immobilienfirma Ankerkraut’s Huus, die Stefan Lemckes Schwester Lena leitet. Die ehemaligen Teilnehmer in der Sendung „Die Höhle der Löwen“ traten im vergangenen Jahr als Gastlöwen auch erstmals als Investoren in Erscheinung. Weitere Beteiligungen sollen folgen. Auch dafür gibt es eine Ankerkraut-Tochter. Überschattet wurde die rasante Erfolgsstory der Selfmade-Millionäre von dem plötzlichen Tod der Eltern von Stefan Lemcke, mit denen die Familie in Jesteburg vor den Toren Hamburgs Tür an Tür gelebt hatte.

Im Sommer 2021 war die Familie für ein Jahr nach Mallorca gezogen, um Abstand vom Alltagsgeschäft zu bekommen. Das Experiment hatte es bis in einen Artikel im „Spiegel“ unter der Überschrift „Reich, berühmt und ausgebrannt“ geschafft. Es sei ihm nicht gut gegangen, und er habe sich einige grundsätzliche Fragen gestellt, sagte Unternehmer Lemcke im März im Abendblatt. „Geld ist nicht alles. Natürlich macht es vieles einfacher, aber das letzte Hemd ist taschenlos.“ Auf der spanischen Sonneninsel haben sie sich berappelt – und die Entscheidung für den Verkauf an Nestlé gefällt.

Experte: Ankerkraut ist auch ein knallhartes Finanzprodukt

Während die Fans Sturm laufen, reagieren Branchenkenner weniger überrascht. „Dass ein Exit geplant ist, war klar, als die Lemckes in die Höhle der Löwen gegangen sind. Wenn Investoren an Bord sind, geht es immer um Rendite“, sagt Cyriacus Schultze, der seit mehr als 30 Jahren mit seiner Firma Food And Wine Culture Unternehmen in der Lebensmittelindustrie berät und ein Expertennetzwerk aufgebaut hat.

„Die Gründer haben die Marke mit viel Herzblut aufgebaut. Aber Ankerkraut ist nicht nur ein Unternehmen, sondern auch ein knallhartes Finanzprodukt.“ Irgendwann komme für jeden Unternehmer die Frage, wie es weitergeht. „Die Gründer von Ankerkraut haben irgendwann entschieden, ihr Baby zur Adoption freizugeben.“ Die aktuelle Empörungswelle sieht er gelassen. „Die wird sich auch wieder beruhigen.“

Investoren machen mit dem Verkauf hohe Rendite

Die Lemckes, die gerade mit der ganzen Familie einen wegen Corona verschobenen Urlaub in Namibia nachholen, haben mit den Reaktionen auf ihren Nestlé-Deal offenbar nicht gerechnet. Wohl auch, weil zwei wichtige Befürworter des Verkaufs zum bisherigen Gesellschafterkreis gehören: EMZ Partners und Frank Thelens Risikokapitalgesellschaft Freigeist Capital – die zusammen mit Knälmann Ventures etwa 30 Prozent an Ankerkraut halten. Nach Abendblatt-Information hatten die Partner schon länger verhandelt und auch mit anderen Großkonzernen wie dem US-Konzern Kraft Heinz gesprochen, der im Dezember schließlich die Start-up-Konkurrenz Just Spices gekauft hatte.

Als am Mittwoch vor Ostern die mehrheitliche Übernahme von Ankerkraut durch Nestlé bekannt wurde, war Frank Thelen der erste Gratulant. Unter anderem bei Twitter schrieb er: „Jetzt seid ihr selber Löwen und gewinnt mit Ankerkraut Nestlé als Partner.“ Für ihn genau wie für EMZ Partners dürfte sich das Investment in die Gewürzmanufaktur gelohnt haben. „Der Verkauf bringe den Investoren in weniger als zwei Jahren ein sogenannte Multiple of Money von 2.0“, teilte die EMZ mit.

Wie die Ankerkraut-Gründer auf die Empörungswelle reagieren

Darüber, ob es von dieser Seite auch Druck gab, lässt sich nur spekulieren. Die Lemckes sind ungewohnt still und äußern sich öffentlich nicht mehr zu dem Millionendeal. Nur einmal hatten sie sich aus Namibia zu den wortgewaltigen Protesten zu Wort gemeldet und die Kritiker zur Mäßigung aufgerufen. Das Paar sagte der Deutschen Presse-Agentur, Ankerkraut stehe für „einen engen Austausch mit unseren Fans“. Deshalb verschließe man sich auch jetzt nicht der Debatte.

„Was wir nicht akzeptieren, sind Hass im Netz und Beleidigungen der Menschen, die bei Ankerkraut arbeiten.“ In einem Fall wurde inzwischen sogar die Kommentarfunktion abgeschaltet. In der nächsten Woche will Anne Lemcke nach Hamburg kommen und Fragen der Mitarbeiter beantworten. Wie konkret sie dabei wird, ist offen. Noch ist der Verkauf nicht rechtskräftig.

Nestlé-Übernahme: Ankerkraut-Gründer müssen nicht mehr arbeiten

Entscheidend sei jetzt, was mit dem Erlösen aus dem Verkauf geschehe, meint Unternehmensberater Cyriacus Schultze. „Wenn die Ankerkraut-Gründer wieder in das Start-up-Ökosystem investieren, können sie weiterhin einen wichtigen Beitrag leisten. Dann ist es für alle Beteiligten eine Win-win-Situation.“

Ankerkraut könne weiterwachsen, Nestlé habe eine hippe Marke im Portfolio, und die Gründer seien unternehmerisch tätig. Wie es für das Paar persönlich weitergeht, muss sich nach ihrer Rückkehr nach Hamburg im Sommer zeigen. Die beiden haben geschafft, wovon Millionen Menschen träumen: eine Firma aufzubauen und reich zu werden. Arbeiten müssen sie nicht mehr. Eigentlich.