Kiel. HSV in Auswärtsspielen weiter desolat. Walter kritisiert die Profis, macht aber auch Fehler. Wie der Club zu ihm steht.

Am Morgen nach dem denkwürdigen 2:4 des HSV bei Holstein Kiel kochte die Stimmung in manchen Fankreisen über. Von einer angeblichen Krisensitzung war plötzlich die Rede, in der es um die Zukunft von Trainer Tim Walter gegangen sein soll.

Die sich auf einen Medienbericht beziehende Nachricht verbreitete sich derart rasant, dass die Dynamik nicht mehr aufzuhalten war. Allerdings hielt sich der Wahrheitsgehalt in Grenzen, denn es gab weder eine Krisensitzung noch einen entsprechenden Medienbericht. Stattdessen findet nach Abendblatt-Informationen aktuell keine Trainerdiskussion über Walter im Volkspark statt.

HSV steht zu Tim Walter und nimmt Spieler in die Pflicht

Vielmehr sehen die Verantwortlichen die Spieler in der Pflicht, nach starken Heimspielen endlich auch auswärts zu liefern. Und dennoch zeigt dieses Beispiel, wie nervös manche Fans angesichts des verheerenden Bildes geworden sind, das der HSV auswärts abgibt. Gerade einmal sechs von möglichen 21 Punkten holten die Hamburger in der Fremde. Eine besorgniserregende Ausbeute, die den Aufstieg gefährdet. „Wenn wir das auswärts nicht ändern, wird es schwer, unsere Ziele zu erreichen“, mahnte Torhüter Daniel Heuer Fernandes.

Wie so häufig in fremden Stadien lag der HSV auch in Kiel zurück (0:2) und kämpften sich dank der individuellen Qualität Robert Glatzels wieder heran (2:2). Doch ähnlich wie vor zwei Wochen in Kaiserslautern, als der HSV nach einem 1:3-Rückstand zumindest noch einen Punkt geholt hatte (3:3), verpasste es der Club, auf den neuen Spielstand zu reagieren und die Defensive geordneter zu positionieren. Mit dem Unterschied, dass Kiel seine zahlreichen Konterchancen nutzte.

Walter und die Gastgeschenke des HSV

Die Auswärtsspiele des HSV lassen sich fast schon wie eine Schablone übereinanderlegen. Ein Lerneffekt bleibt aus, weshalb sich die Frage nach der Entwicklung aufdrängt. „Das hat mit auswärts und heim nichts zu tun“, antwortete Walter, um sich bereits in seinem zweiten Satz zu widersprechen. „Wir machen auswärts mehr Fehler.“ Es folgte ein, auch das ist typisch für den HSV-Coach, flapsiger Spruch, der nicht gerade zur Beruhigung der aufgewühlten Fans beigetragen hat. „Wenn ich mir die Fehler anschaue, dann sind das alles Gastgeschenke. Aber wir sind ja auch zu Gast, also kann man auch ein paar Geschenke verteilen.“

Tatsächlich war gerade die Fehlerkette vor dem spielentscheidenden 2:3 eklatant, als zunächst Bakery Jatta den Ball an Lewis Holtby verlor und schließlich Moritz Heyer das Foul an Fiete Arp verpasste. „Wenn wir da kein taktisches Foul machen, dann ist das einfach dämlich“, schimpfte Walter.

Es liegt aber eben auch im Verantwortungsbereich des HSV-Trainers, für eine stabile Restverteidigung zu sorgen.

Diesmal war die linke Seite komplett unbesetzt, während sich vier Spieler zum Ball auf der rechten Seite orientiert hatten. Solche Szenen häufen sich auswärts. In Kiel sah Arp den freien Raum und bediente Finn Porath, der ohne Gegenwehr leichtes Spiel hatte – und das mitten in einer Drangphase des HSV, der das Momentum auf seiner Seite hatte.

HSV-Laufwerte desolat

„Wir haben wieder kopflos verteidigt und zu leicht das Gegentor kassiert. Das war naiv von uns“, monierte Torjäger Glatzel, der die fehlende Grundordnung beklagte. „Wir mussten gar nicht alles nach vorne werfen, weil wir total am Drücker waren. Stattdessen hätten wir darauf vertrauen müssen, uns noch ein, zwei Riesenchancen herauszuspielen.“

Doch der HSV habe zu viel gewollt und zu ungeduldig agiert, wie auch Heuer Fernandes kritisierte. „An so einem Tag hätten wir vielleicht besser unverdient einen Punkt mit nach Hause nehmen müssen.“

In Kiel liefen die Hamburger 9,3 Kilometer weniger und zogen erschreckende 76 Sprints weniger an (266:190). „Würden wir zu Hause so spielen, würden wir auch nicht gewinnen“, sagte Jonas Meffert. Der Auftritt erinnerte an die 1:2-Niederlage in Osnabrück, das schlechteste HSV-Spiel dieser Saison, als der Gegner ebenfalls reihenweise zu Torchancen kam.

Walter schützt HSV-Profis nicht mehr bedingungslos

Am Sonnabend rückte der sich sonst so schützend vor seine Spieler stellende Walter von seinen Prinzipien ab. Er kritisierte, dass sein Matchplan nicht eingehalten worden sei und erwähnte Doppeltorschütze Glatzel namentlich, weil dieser den Strafraum zu selten besetzt habe. „Wenn sich Spieler nicht an einen Plan halten, bekommen sie ihre Quittung dafür“, klagte Walter. „Wenn sie sich daran halten, genauso.“

Die Tabellenspitze der 2. Bundesliga
1. FC St. Pauli 19 / 35:16 / 39
2. Kiel 18 / 34:25 / 35
3. HSV 18 / 35:22 / 34
4. Fürth 18 / 28:20 / 32
5. Düsseldorf 19 / 40:25 / 31
6. Hannover 19 / 35:25 / 28
7. Paderborn 19 / 28:29 / 28

HSV-Derby entscheidend für Tim Walter?

Auffällig ist, dass dem HSV in Abwesenheit des verletzten Kapitäns Sebastian Schonlau ein Abwehrchef fehlt. Guilherme Ramos kann diese Rolle nicht ausfüllen, und Dennis Hadzikadunic ist bislang einen nachhaltigen Beweis schuldig geblieben, eine Verstärkung zu sein. Statt die Defensive zu sortieren, wie es Schonlau immer tat, ist der bosnische Nationalspieler fast an jedem Gegentor beteiligt.

Allein Walter für die energielosen Auswärtsspiele seiner Mannschaft verantwortlich zu machen, wäre also zu einfach. Zumal es nicht die Aufgabe eines Profitrainers sein kann, den Spielern erst die nötige Grundeinstellung für eine Partie bei einem laufstarken Zweitligisten zu vermitteln. Klar ist aber auch, dass der HSV-Coach in der Pflicht steht, auf die Schwächen seiner Spieler einzugehen und Lösungen zu präsentieren.

Nach der Länderspielpause geht es für den Tabellenzweiten mit einem Heimspiel gegen Abstiegskandidat Eintracht Braunschweig weiter (24. November). Nur eine Woche später könnte das Stadtderby für Walter bereits richtungweisend sein.

Beim Tabellenführer erwarten die HSV-Fans nicht weniger als eine Mannschaft, die mit Energie, Wille und hoher Intensität dagegenhält – also die Grundtugenden des Fußballs beherzigt. Bei einer erneuten Minusleistung könnte die Stimmung dagegen kippen – nicht nur in Fankreisen.

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