Hamburg. Dürfen die HSV-Vorstände einen Neuanfang unternehmen? Zweifel sind angebracht. Boldt pocht auf eine Verlängerung – auch für Walter.
Thomas Wüstefelds Nacht vom Montag auf den Dienstag war kurz. Gegen 3 Uhr ist der HSV-Vorstand nach der 0:2-Niederlage im Relegationsrückspiel gegen Hertha BSC aus dem Volkspark nach Hause gekommen, um 7 Uhr begann für ihn die neue Saison. Knapp anderthalb Stunden lief der 53-Jährige am frühen Morgen an der Elbe entlang, um einmal kurz auf andere Gedanken zu kommen, den Kopf durchzupusten. Dann, gegen 9 Uhr, fuhr er wieder ins Büro.
„Wir haben einiges zu tun und nur wenig Zeit“, sagt Wüstefeld um 12.30 Uhr im ersten Stock des Stadions. Um genau diese Zeit wäre er lieber ganz woanders gewesen. „Genau jetzt wären wir im Aufstiegsfall zum Senatsempfang im Rathaus gewesen“, verrät der Vorstand, der, dem Anlass entsprechend, ganz in Schwarz zum Gespräch am Tag danach erscheint. Doch statt Rathaus, Bürgermeister und Feierlichkeiten heißt es für ihn am Dienstag: Volkspark, Vorstandskollege Jonas Boldt und die weiteren Planungen für eine fünfte Zweitligasaison.
Geht das mit Boldt und Wüstefeld gut beim HSV?
Am frühen Nachmittag wollten sich die beiden Vorstände zusammensetzen, um den Zweitliga-Fahrplan zu verabschieden – und die alles entscheidende Aufsichtsratssitzung, die noch in dieser Woche stattfinden wird, vorzubereiten. Dieses angekündigte Treffen hat es nach Abendblatt-Informationen aber gar nicht gegeben. Und so bleibt die allerwichtigste Frage, die auf der Sitzung mit Chefkontrolleur Marcell Jansen beantwortet werden muss, offen: Wie geht es im Vorstand mit Wüstefeld und Boldt weiter? Offiziell sagt Wüstefeld dazu: „Wir sollten in dieser Konstellation in die neue Saison gehen.“
Inoffiziell hat man in den vergangenen Tagen und Wochen dazu ganz andere Töne vernommen. Und auch am Vorabend vermied der Medizin-Unternehmer auf Nachfrage ein vorschnelles Bekenntnis zur weiteren Zusammenarbeit mit Boldt: „Wir sollten heute erst mal nur das Spiel bewerten. Wir haben eine tolle Mannschaft, einen super Trainer.“
Dieser „super Trainer“ saß am späten Montagabend nach der bitteren Niederlage gegen Berlin im selben Raum wie am Tag danach Wüstefeld und sagte das, was er seit Wochen auf nahezu jeder Pressekonferenz sagt. „Wir haben es über die Saison geschafft, etwas entstehen zu lassen. Auch mithilfe von Jonas Boldt, der uns immer den Rücken gestärkt hat.“
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HSV: Stehen Boldt und Walter alleine da?
Boldt. Immer wieder Boldt. Nach der berühmt-berüchtigten 0:1-Niederlage gegen Holstein Kiel am 10. April, als der HSV sieben Punkte von Rang drei entfernt war und nahezu niemand (außerhalb, aber auch innerhalb des Vereins) noch etwas auf diesen HSV gesetzt hatte, gab es kaum ein kurzes oder längeres Gespräch mit Walter, in dem der Trainer nicht die Unterstützung Boldts betonte – und sämtliche anderen HSV-Funktionsträger wie Wüstefeld, Sportdirektor Michael Mutzel und Aufsichtsratschef Marcell Jansen dagegen gar nicht erwähnte.
Der Grund ist denkbar einfach: Sowohl Walter als auch Boldt spürten spätestens nach diesem Kiel-Spiel, dass sie keine Unterstützung mehr für ihren Kurs hatten. „Wenn man die Uhr ein paar Monate zurückdreht, dann haben wir uns entschieden, etwas zu entwickeln. Dieses Wort ,Entwicklung‘ kann zwar niemand mehr hören. Aber wir haben darauf auch gegen sehr, sehr viele Widerstände gesetzt, gegen die wir ankämpfen mussten“, sagte Boldt am Montagabend. Und weiter: „Ich schützte nicht nur den Trainer, sondern auch die Mannschaft und vor allem die Farben. Das ist mein Auftrag hier, und das werde ich immer tun.“ Sofern man ihn denn lässt: „Alles, was die Zukunft angeht, liegt nicht final in meinen Händen.“
Boldt pocht auf Verlängerung – auch für Walter
Was Boldt nicht sagt, aber meint: Es liegt in den Händen des Aufsichtsrats mit Chefkontrolleur Jansen. Denn sowohl Noch-Interimsvorstand Wüstefeld, dessen Pro-bono-Jahr im Dezember endet, als auch Boldt, der noch bis Sommer 2023 unter Vertrag steht, wollen nach Abendblatt-Informationen eine zügige Entscheidung über ihre weitere Zukunft.
Während Wüstefeld darauf drängt, dass sein kurzfristiges Interimsmandat noch in dieser Woche in einen langfristigen Vorstandsjob umgewandelt wird, hat Boldt intern durchblicken lassen, dass er in der jetzigen Konstellation (mit einem zum Saisonende auslaufenden Vertrag) nicht in die kommende Spielzeit gehen würde. Mehr noch: Boldt will auch auf eine vorzeitige Verlängerung Walters drängen, dessen Aus zum Saisonende nach dem Kiel-Spiel noch als sehr wahrscheinlich galt.
Boldts Problem: Dem selbstbewussten Ex-Leverkusener werden atmosphärische Unstimmigkeiten mit Aufsichtsratschef Jansen und eben Vorstandskollege Wüstefeld nachgesagt. Oder mit anderen Worten: mit den wichtigsten Entscheidungsträgern des Clubs. Dafür hat der baumlange Vorstand nicht nur einen sehr guten Draht zu Trainer Walter und zur Mannschaft. Sondern auch zum Großteil der Geschäftsstelle.
Herrscht beim HSV ein „Klima der Angst“?
Spätestens an dieser Stelle wird es interessant. Denn offenbar geht durch diese Geschäftsstelle ein Riss, wie es ihn in der Post-Bernd-Hoffmann-Zeit schon länger nicht mehr gegeben hat. Unabhängig voneinander haben zahlreiche HSV-Mitarbeiter dem Abendblatt von schlechter Stimmung und einem „Klima der Angst“ berichtet, wie man es in den Hoffmann-Zeiten öfter gehört hatte. Angesprochen auf diese harte Kritik von den eigenen Mitarbeitern sagt Wüstefeld: „Natürlich gibt es bei einer Neuausrichtung nicht immer nur Applaus von allen Seiten. Aber wir müssen uns neu ausrichten. Das steht für mich außer Frage.“
Diese viel diskutierte Neuausrichtung lässt sich auf den Tag genau terminieren. Es war am 3. März, also vier Tage nach der ärgerlichen 2:3-Niederlage gegen Werder Bremen, durch die der HSV von Rang zwei auf Rang vier abrutschte, als Thomas Wüstefeld alle Mitarbeiter zu einer hybriden Mitarbeiterversammlung in den Pressekonferenzraum bat und seinen ausgearbeiteten Transformationsprozess vorstellte.
HSV-Mitarbeiter fürchten Kündigung
Noch mal in Kurzform: Während im Sportbereich, dem Jonas Boldt vorsteht, zunächst alles so bleiben soll, wie es ist, will Wüstefeld den Rest des HSV komplett neu ausrichten. Direktiven sollen aufgelöst werden, dafür sogenannte Business Units gegründet werden. Einerseits will er flache Hierarchien einführen, „damit wir viel agiler werden in den Bereichen Marketing, Hospitality und in der Unternehmenskultur“. Andererseits soll es dann statt Direktoren auf Neu-Deutsch Business Unit Leaders und darunter Juniors, Seniors und Head-ofs geben.
Seinen gesamte Umstrukturierungsplan stellte der Neu-Anteilseigner, der im vergangenen Jahr 5,1 Prozent der AG-Anteile von Klaus-Michael Kühne erwarb, den Mitarbeitern in einer rund 20-minütigen Powerpointpräsentation vor, die im Anschluss große Verunsicherung verursachte. Das Abendblatt weiß von mehreren HSV-Mitarbeitern, die sich nach dieser Versammlung Zwischenzeugnisse ausstellen lassen wollten. Darauf angesprochen sagt Wüstefeld: „Immer wenn etwas Neues kommt, muss man sich natürlich auch damit identifizieren. Mein Büro steht für jeden offen. Wenn es Unklarheiten gibt, kann jeder auf mich zukommen.“
Warum wählt Wüstefeld Alleingänge?
Unklarheiten gibt es offenbar mehr als genug. Das Problem: Während die einen Wüstefelds rigorose Neustrukturierung befürworten und für überfällig halten, ist bei anderen die Skepsis groß. Der Spitzname „Ankündigungsweltmeister“ hat längst die Runde gemacht. Und daran hat möglicherweise Wüstefeld selbst auch seinen Anteil. Der Unternehmer, der nicht aus dem Fußballbereich kommt, spricht gerne von seinen guten Kontakten zu anderen Clubs, Entscheidern und in die Politik, wobei manch ein Detail bisweilen durcheinandergerät.
So soll er in internen Gesprächen vor mehreren Zeugen von einem Untersuchungsausschuss gewarnt haben, vor dem er wegen des 23,5-Millionen-Stadiondeals mit der Stadt vorgeladen sei. Darauf angesprochen relativierte Wüstefeld am Dienstag, dass es sich lediglich um den ständigen Sportausschuss handelt, zu dem er eingeladen wurde.
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Überhaupt: Wüstefelds Beziehung zur Stadt Hamburg scheint – vorsichtig formuliert – ungewöhnlich. Anders als Vorgänger Frank Wettstein, der bei Terminen mit den Vertretern der Stadt immer den jeweiligen Bereichsleiter mitnahm, pflegt Wüstefeld zu sämtlichen Terminen mit der Politik alleine zu gehen. Begründet werden diese Alleingänge mit seinem extrem guten Draht ins Rathaus.
Wollte Wüstefeld 25 Millionen von der Stadt?
Im Rathaus heißt es auf Nachfrage des Abendblatts zu diesem Thema: Zwischen dem Bürgermeister und Wüstefeld gebe es eine gewisse Reserviertheit. Allerdings kann auch niemand bestreiten, dass sich Wüstefeld sehr viel mehr den entscheidenden Vertretern der Stadt widmet, als es beispielsweise Vorgänger Wettstein getan hat.
Dass er aber intern vor einigen Monaten angekündigt habe, durch seine guten Beziehungen zu den Entscheidern der Politik 20 bis 25 Millionen Euro für den HSV zu akquirieren, dementierte Wüstefeld am Dienstag. Er habe sich lediglich alle Möglichkeiten angeschaut, „wie man mögliche finanzielle Defizite ausgleichen kann“. Es gebe da „unterschiedliche Modelle. Das ist eine große Herausforderung.“
Stehen Boldt und Wüstefeld am Scheideweg?
Die größte Herausforderung scheint aber in dieser Woche eine andere: Können Wüstefeld und Boldt tatsächlich den HSV noch einmal gemeinsam auf Kurs Erste Liga führen? Boldt umgeht bei Nachfragen zu seinem Verhältnis zu Wüstefeld eine konkrete Antwort. Wüstefeld sagt: „Jonas und ich haben ein kollegial gutes Verhältnis. Wir sind in einem engen Austausch.“
Wüstefeld berichtete am Montagmittag davon, wie Boldt und Trainer Walter kurz zuvor in der Kabine die Ansprache hielten, um die hängenden Köpfe der Spieler gemeinsam wieder aufzurichten. Der Trainer habe ein paar Worte verloren, ansonsten sei es mucksmäuschenstill gewesen. Das sei auch verständlich, sagt Wüstefeld – und hat natürlich recht. Einziger Haken: Bei dieser Versammlung am Dienstagmorgen war Wüstefeld nach Abendblatt-Informationen gar nicht anwesend.
Bei der Aufsichtsratssitzung, die in den kommenden Tagen stattfinden soll, wird Wüstefeld dagegen definitiv dabei sein. Genauso wie auch Boldt. Die beiden Vorstände werden den Kontrolleuren Jansen, Andreas Peters, Markus Frömming, Michael Papenfuß, Hans-Walter Peters und Lena Schrum ganz genau aufzeigen, wie der HSV einen fünften Anlauf in Richtung Bundesliga wagen kann.
Forciert Wüstefeld Stellenabbau beim HSV?
Auch das Thema Stellenabbau dürfte in dieser Runde diskutiert werden. Während Wüstefeld öffentlich immer betont hatte, auch ohne Kündigungen auszukommen, soll er Mitarbeitern zufolge intern von einem notwendigen Stellenabbau von 30 bis 40 Prozent gesprochen haben.
Auch dies dementierte der HSV-Vorstand am Dienstag. Er habe nie über Prozentzahlen geredet, versichert Wüstefeld. „Ich habe einen konkreten Businessplan. Generell müssen Einsparungen ja aber nicht zwingend im Zusammenhang mit dem Personal stehen. Und natürlich gibt es die eine oder andere Stelle, wo der Kollege altersbedingt ausscheidet beziehungsweise Verträge auslaufen. Da überlegen wir dann im Einzelfall, wie es bezogen auf die Rolle und jeweilige Aufgabe an dieser Stelle weitergeht.“
Wie es zwischen ihm und Boldt weitergeht, dürfte auch sehr interessant werden. In der Kreisliga würden sich die beiden Entscheider wahrscheinlich ins Vereinshaus einschließen, eine Kiste Bier dazu nehmen und erst wieder rauskommen, wenn man alle Differenzen ausgeräumt hat. Der HSV ist zwar aber nicht in der Bundesliga, aber eben auch noch nicht in der Kreisliga. Boldts Schlusswort „Ich bin jetzt drei Jahre hier. Jeder sieht, wie ich für diese Farben brenne und wie ich mich mit dem Verein, den Menschen und der Stadt identifiziere. Solange ich diese Chance habe, werde ich weiter vorangehen.“
Immerhin: Über diese Vorangehen-Chance dürfte noch in dieser Woche Klarheit herrschen.