Hamburg. Zwei namhafte Entlassungen, eine große Enttäuschung und heiße Pyro-Pläne des Clubs: die Höhe- und Tiefpunkte des HSV-Jahres.
Der Fall Bakery Jatta, ein verpasster Aufstieg, der Neustart im Sommer und am Ende Platz zwei – keine Frage, das HSV-Jahr 2019 war turbulent wie eh und je. Auch diesmal sind die Club-Verantwortlichen nicht ohne Entlassungen des Führungspersonals ausgekommen.
Fairerweise muss man den Hamburgern zugutehalten, dass je eine Trainer- (Hannes Wolf) und Vorstandsbeurlaubung (Ralf Becker) für HSV-Verhältnisse deutlich unter dem üblichen Schnitt liegen.
Doch es gab noch weitere Ereignisse im Volkspark, über die Hamburg diskutiert hat. Das Abendblatt hat eine Übersicht mit den Höhe- und Tiefpunkten zusammengestellt.
- Der stärkste Auftritt: Gala gegen Stuttgart
- Größter Aufreger: Der Fall Bakery Jatta
- Die größte Enttäuschung: Lewis Holtby
- Der Königstransfer: Tim Leibold
- Der Realist: Dieter Hecking
- Das Sorgenkind: Aaron Hunt
- Heiße Pläne: Pyrotechnik legalisieren
- Größte Ernüchterung: Absturz nach Platz eins
- Schmerzhafteste Entlassung: Hannes Wolf
- Größtes Auf und Ab: Die Stadtderby am Millerntor
- Größtes Pfund: Die HSV-Allesfahrer
- Der größte Traum: Ein Finale in Berlin
Der stärkste HSV-Auftritt
Es ist ein wahres Fußball-Fest, das die 57.000 HSV-Fans am 26. Oktober 2019 im Volksparkstadion bestaunen dürfen. Mit 6:2 fertigen die Hamburger das vermeintliche Top-Team der Zweiten Liga, Bundesliga-Absteiger VfB Stuttgart, ab.
Dieter Hecking entscheidet das Trainerduell gegen seinen Amtskollegen Tim Walter klar für sich. Der HSV-Coach deckt von der ersten Minute an die Schwächen des Systems der Schwaben auf. Weil Walter nicht bereit ist, von seiner Idee abzurücken und umzustellen, wird Stuttgart phasenweise sogar vorgeführt.
Nach dem Spiel ist nicht mehr der VfB (der Walter schließlich kurz vor Weihnachten entließ), sondern plötzlich der HSV der klare Favorit auf den Aufstieg. Doch die Hanseaten können an ihre bis dahin gezeigten Leistungen nicht mehr anknüpfen und holen nur sieben Punkte aus den darauffolgenden sieben Spielen. Die bittere Erkenntnis: Der HSV ist inzwischen ein normaler Zweitligist.
Die Bilder des HSV-Siegs gegen Stuttgart:
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Größter Aufreger: Der Fall Jatta
"Ist HSV-Star Bakery Jatta in Wahrheit Bakary Daffeh?", fragt die "Sport Bild" auf ihrer Titelseite am 7. August und eröffnet damit eine Causa, die teilweise im Minutentakt bundesweit für Schlagzeilen sorgt. Das Magazin behauptet, Jatta hieße in Wahrheit Bakary Daffeh und wäre zweieinhalb Jahre älter – und zitiert als Kronzeugen zwei mutmaßliche Trainer Daffehs aus Gambia. Diese angebliche Identitätsfälschung soll dem Gambier Vorteile bei der Einreise nach Deutschland verschafft haben.
Die Bremer Innenbehörde, die für Jatta nach dessen Einreise im Jahr 2015 zunächst zuständig war, rollt den Fall noch einmal auf und bekräftigt, dass der Reisepass des Offensivspielers nicht gefälscht sein soll. Später taucht auch eine von gambischen Behörden beglaubigte Geburtsurkunde auf. Zudem wird Jatta durch neue Zeugen und brisante Videos entlastet. Letztlich stellt das Bezirksamt Hamburg-Mitte und die Staatsanwaltschaft Bremen das Verfahren ein.
Der HSV steht von Anfang an hinter seinem Spieler, riskiert dafür sogar Punktabzüge und gewinnt schließlich große Sympathiepunkte im gesamten Land. Emotionaler Höhepunkt der Geschichte ist Jattas Tor im Heimspiel gegen Hannover, als der Flügelstürmer in die Arme seines großen Unterstützters Dieter Hecking rennt und die ganze Mannschaft eine Jubeltraube um ihn herum bildet. Später lässt sich Jatta bei einer Ehrenrunde von den Fans feiern. Selten war die Stimmung so gefühlsbetont im Volkspark.
Die größte HSV-Enttäuschung: Holtby
Für den traurigen Höhepunkt in seinen fünf Jahren beim HSV sorgt Lewis Holtby selbst. Als der Spieler, der in puncto Einsatz- und Kampfbereitschaft ein Vorbild sein will, beim Abschlusstraining vor dem richtungweisenden Spiel am 28. April bei Union Berlin (0:2) bemerkt, dass er erneut nicht in der Startelf stehen wird, teilt er dem damaligen Trainer Hannes Wolf mit, nicht dem Kader angehören zu wollen.
Später bittet Holtby zwar Wolf in einem persönlichen Gespräch um Entschuldigung und revidiert seine Meinung. Doch der HSV sieht keinen Weg mehr zurück für Holtby und suspendiert den Profi bis zu seinem Vertragsende im Juni. Nach 138 Pflichtspielen für den HSV ist dies das unrühmliche Ende für Fanliebling Holtby, der inzwischen beim englischen Zweitligisten Blackburn Rovers unter Vertrag steht.
Der Königstransfer: Tim Leibold
Kann ein Königstransfer nur 1,8 Millionen Euro kosten? Was vor wenigen Jahren beim HSV noch unvorstellbar gewesen wäre, wurde in diesem Sommer Realität. Der im Sommer von Zweitligaabsteiger Nürnberg verpflichtete Linksverteidiger Tim Leibold hat sich diesen inoffiziellen Titel ohne Wenn und Aber verdient. Dem unermüdlichen Antreiber gelang das Kunststück, den Abgang von Douglas Santos (Zenit St. Petersburg/Ablöse: 12 Millionen Euro) vergessen zu machen. Neun Vorlagen steuerte Leibold in der Hinrunde zu Platz zwei bei – ein Spitzenwert für einen Abwehrspieler.
Dabei war Leibolds Konkurrenz um das Etikett Königstransfer selten so groß wie in diesem Jahr. Nach dem verpassten Aufstieg im Mai 2019 wagte der HSV unter der Regie des ebenfalls neuen Sportvorstands Jonas Boldt einen Komplettumbruch: 17 Spieler mussten gehen, zwölf Neue kamen. Neben Leibold haben vor allem zwei weitere Zugänge überzeugt: Topscorer Sonny Kittel (neun Saisontore) und Mittelfeldchef Adrian Fein.
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Der Realist: Dieter Hecking
Es gibt nicht wenige in Hamburg, die behaupten: Wenn Dieter Hecking den HSV nicht zurück in die Bundesliga führt, dann schafft es keiner. Kaum einer verarbeitet die zweifellos hohe Erwartungshaltung im Volkspark derart souverän wie Hamburgs Trainer. Hecking ist ein Realist, der Hamburg und dem HSV guttut. Er weiß genau, wann er interne Abläufe oder seine Mannschaft auch mal öffentlich kritisieren muss, um das Maximum an Erfolg herauszuholen.
Seit dieser Saison ist Hecking Cheftrainer beim HSV. Mit ihm ist der Glaube unter den Fans zurückgekehrt, dass der Verein in Zukunft wieder an bessere Zeiten anknüpfen kann. Hecking sorgt für eine souveräne Außendarstellung des Clubs – und er sitzt so fest im Sattel wie seit Jahren keiner seiner zahlreichen Vorgänger.
Das Sorgenkind: Aaron Hunt
112 Pflichtspiele absolvierte Aaron Hunt für den HSV seit seinem Wechsel in den Volkspark zu Beginn der Saison 2015/16 – 155 hätten es sein können. Wäre da nicht die Verletzungsanfälligkeit des Routiniers. So verpasste Hunt auch in diesem Jahr insgesamt 23 von 41 Terminen und damit nahezu die Hälfte der Spiele. Mit Folgen für den HSV: In der Liga sammelte das Team in diesem Kalenderjahr mit seinem Kapitän an Bord im Schnitt 1,75 Punkte, ohne Hunt hingegen nur 1,22 Punkte.
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Zum Jahresende plagte sich der 33-Jährige mit Sprunggelenksproblemen. Bleibt Hunt und dem HSV zu wünschen, dass der Offensivstrategie gesund ins neue Jahr und die große Mission Bundesligarückkehr starten kann.
Heiße Pläne: Pyrotechnik legalisieren
Dieses Vorhaben wird durchaus heiß diskutiert: Um den Kreislauf der drastischen DFB-Sanktionen nach Pyro-Vergehen der eigenen Fans zu durchbrechen, geht der HSV als einer der ersten Vereine auf die aktive Fanszene zu und setzt sich für ein kontrolliertes Abbrennen von Pyrotechnik ein. Vorstandschef Bernd Hoffmann akzeptiert den heißen Spaß aus der Kurve als "Teil der Fankultur". Auch wenn Polizei und Feuerwehr dem Vorstoß der Hamburger eine Chance geben wollen, sind die Verbände DFB und DFL bislang wenig begeistert.
Der Club lässt sich davon nicht beirren und plant im Heimspiel gegen Karlsruhe am 8. Februar eine eigene Pyro-Choreografie. Das Signal ist klar: Der HSV ist bereit, dem DFB den ganz großen Kampf anzusagen.
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Größte Ernüchterung: Der verpasste Aufstieg
Nach 37 Punkten in der Hinrunde 2018/19 zweifelte beim HSV eigentlich niemand mehr am Aufstieg. Doch es folgte eine katastrophale Rückserie mit nur 19 Punkten und schmerzhaften Heimpleiten gegen die späteren Absteiger Ingolstadt (0:3) und Magdeburg (1:2) sowie einem Arroganz-Anfall gegen Darmstadt (2:3): Wähnten sich die Hamburger Aufstiegsträumer nach einer 2:0-Führung zur Pause gegen die Lilien noch als sicherer Sieger – von einem Spieler sollen die Worte gefallen sein: „Mann, sind die schlecht“ –, wurde in Hälfte zwei der Grundstein für ein weiteres Jahr in Liga zwei gelegt.
Clubboss Bernd Hoffmann sprach hinterher im Mai vom "überflüssigsten Nicht-Aufstieg der Fußballgeschichte". Nach einem "Systemversagen" kündigte er an, keinen Stein auf dem anderen zu lassen. „Das Sportsystem ist bei uns irgendwann im Winter kollabiert und nicht wieder auf die Beine gekommen", lautete Hoffmanns deutliche Analyse, die der Anfang vom Ende des damaligen Sportvorstands Ralf Becker sein sollte.
Sowohl im Vorstand als auch im Aufsichtsrat mehrten sich die Zweifel, dass Becker die richtigen Schlüsse aus einer desaströsen Saison ziehen können würde. Und so wurde Becker entlassen und gleichzeitig Jonas Boldt als sein Nachfolger präsentiert.
Die schmerzhafteste Entlassung: Hannes Wolf
Am 17. Mai 2019 und damit noch vor dem letzten Spieltag gegen Duisburg (3:0) verkündet der HSV das Aus für Tainer Hannes Wolf zum Saisonende. Diese Entlassung schmerzt die Verantwortlichen um Clubchef Bernd Hoffmann mehr als die von Sportvorstand Becker. Denn sie ist gleichbedeutend mit einem Eingeständnis, dass die Trennung von dem bei den Fans so beliebten Ex-Coach Christian Titz nicht zum Erfolg geführt hat.
Doch nachdem durch das 1:4 bei Konkurrent Paderborn, der dritten deutlichen Pleite in Serie, der Aufstieg endgültig verspielt wird, haben die HSV-Bosse keine andere Wahl, als mit der Beurlaubung von Wolf den Neustart auszurufen.
Kurz zuvor wird Becker, der bei Wolfs Rauswurf eine unglückliche Figur abgibt, noch auf "bild.de" mit den Worten zitiert: „Ich habe Hannes nach dem 0:3 gegen Ingolstadt gesagt, dass es für ihn hier im Sommer nicht weitergehen wird, dass wir etwas anderes machen wollen.“ Eine unglückliche Aussage, die letztlich auch Becker den Job kosten soll.
Eigentlich wollte der HSV endlich den Kreislauf der ständigen Trainerentlassungen durchbrechen. Doch die Mission scheitert. Unter Wolfs Leitung zerfällt die Mannschaft in ihre Einzelteile. Dass Becker dem spürbar angeknockten Trainer nach dem 0:3 gegen Ingolstadt – und vor dem Entscheidungsspiel gegen Paderborn – mitteilt, dass er womöglich nach der Saison rausgeworfen werden würde, toppt die vielen unglücklichen Entlassungen in Hamburg jedoch locker.
Die Stadtderbys: Einmal hü und einmal hott
Achteinhalb Jahre mussten die Fans auf eine "Auswärtsreise" zum FC St. Pauli warten. 2019 spielte der HSV dann gleich zwei Stadtderbys am Millerntor – und die hätten unterschiedlicher kaum laufen können. Beim 4:0-Sieg am 10. März avancierte Pierre-Michel Lasogga per Doppelpack zum Helden. Bei der 0:2-Pleite ein halbes Jahr später wurde dann nicht nur Eigentorschütze Rick van Drongelen zur traurigen Gestalt.
Die gute Konsequenz aus der Niederlage: Während die HSV-Profis den Kantersieg feucht-fröhlich feierten, im Anschluss daran im Aufstiegsrennen aber bedenklich wankten und schließlich endgültig abstürzten, fand die Truppe nach der 0:2-Niederlage durch einen 4:0-Sieg gegen Aue schnell wieder ins Gleichgewicht.
Teuer zu stehen kamen dem Verein gleichwohl beide Derbys. Für unter anderem vier Pyro-Unterbrechungen beim 4:0 musste der HSV 150.000 Euro an den DFB zahlen. Ein Rekord, der durch die ursprünglich 250.000 Euro teuren Zündeleien rund um das 0:2 noch einmal pulverisiert wurde.
Die von dem Sportgericht verhängte Summe konnte der HSV inzwischen allerdings auf 200.000 Euro drücken. Nach Abendblatt-Informationen ist es nicht ausgeschlossen, dass das Strafmaß noch weiter reduziert wird.
Die Allesfahrer: Europa kennt den HSV
Auf seine Fans kann sich der HSV stets verlassen. Unabhängig von der sportlichen Situation und egal, ob freitags oder am ungeliebten Montag – die Anhänger mit der Raute im Herzen reisen ihrer Mannschaft überall hinterher.
In der Auswärtstabelle der Zweiten Liga stand der HSV im Sommer mit durchschnittlich 3438 Fans ganz oben. Und auch nach zehn Gastspielen in der aktuellen Saison waren im Schnitt wieder 3260 treue HSV-Seelen dabei – momentan Platz zwei hinter dem VfB Stuttgart (3489 Fans in neun Spielen).
Den Höchstwert aus der Vorsaison konnten die Allesfahrer dabei sogar übertreffen. In Sandhausen waren noch einmal 500 Fans mehr in der Gästekurve als zuvor (6500). Den kleinsten Auswärtsblock (1400) gab es in Darmstadt – abhängig allerdings auch von der geringen Gesamtkapazität des Stadions.
In der Heimtabelle kann der HSV indes weiter locker mit den ganz Großen der Republik mithalten. Mit im Schnitt 47.490 Zuschauern liegen die Rothosen ligaübergreifend auf Rang acht.
Auch international muss sich der Europapokalsieger der Landesmeister von 1983 nicht verstecken. In Europa rangiert der HSV in der Zuschauergunst auf Platz 22 und damit sogar noch vor dem aktuellen Champions-League-Sieger FC Liverpool.
Der Höchstwert wurde mit 57.000 Zuschauern gegen Stuttgart erreicht – ausverkauft. Das galt eigentlich auch für den Saisonabschluss gegen Duisburg, im Endeffekt kamen zum Spiel um die goldene Ananas aber nur noch 51.147 Zuschauer ins Volksparkstadion.
Der Tiefstwert des Jahres datiert vom 4. März. Damals wollten den 1:0-Arbeitssieg gegen Fürth nur 36.560 Zuschauer sehen. Dennoch waren auch in der vergangenen Saison am Ende durchschnittlich 48.864 Zuschauer im Volkspark (Platz zwei hinter Aufsteiger 1. FC Köln/49.494 Zuschauer).
Der Traum: Berlin, Berlin, wir warten auf Berlin
Bis weit ins Frühjahr hinein durften die Fans noch auf das erste Pokalfinale des HSV seit dem Cupsieg 1987 hoffen, doch dann kam RB Leipzig. Im Halbfinale am 23. April machte der Favorit dem Zweitligisten mit 3:1 einen Strich durch die Rechnung.
Dabei hatte sich der HSV wacker geschlagen und nach dem spektakulären Ausgleichstreffer durch Bakery Jatta, der zum Missfallen des damaligen RB-Coachs Ralf Rangnick zum "Man of the Match" gekürt wurde, noch alle Chancen.
Die hat der HSV im laufenden Wettbewerb bereits verspielt – drei Tage nach dem fulminanten 6:2 über Stuttgart in der Liga schied der HSV am 29. Oktober durch ein 1:2 gegen den VfB schon in der zweiten Runde aus.