Reinbek. Streit und Gewalt: Die Lage in den Unterkünften droht zu eskalieren. Gleichzeitig sinkt die Akzeptanz in der Bevölkerung.

Die Situation in den Flüchtlingsheimen in Reinbek wird immer unerträglicher, Flüchtlinge haben keine Chance auf dem Wohnungsmarkt und die Akzeptanz in der Bevölkerung sinkt: Das berichtete Bernhild Ziehm von der Flüchtlingsinitiative Reinbek den Mitgliedern des Sozial- und Schulausschusses. Bei der Vorstellung des Aktivitätenberichts 2023 sprach die Initiatorin von „Alarmstufe Rot“.

Die Lage in den Unterkünften werde „immer heftiger“, so die Ehrenamtliche: „Die Enge in den Unterkünften nimmt zu“, sagt sie. Für 2023 spricht die Initiative von 113 ihnen bekannten Zuweisungen, dazu kommen Ukrainer, die teilweise zunächst privat unterkommen und später in Notunterkünfte umgesetzt worden sind. Der Strom reiße nicht ab: „Es kommen weiter Menschen aus Afghanistan, Syrien, Irak und der Ukraine“, so Ziehm.

Flüchtlingsinitiative Reinbek spricht von „Alarmstufe Rot“ in Unterkünften

Weil neue Unterkünfte, so etwa im Krabbenkamp, auf sich warten lassen, müssen bestehende Flüchtlingsheime überbelegt werden. „Allein in der Borsigstraße und Hamburger Straße befinden sich doppelt so viele Personen, als eigentlich möglich sind. Es fehlt an ausreichend sanitären Einrichten sowie Kochmöglichkeiten. Das führt zu immer größerem sozialen Sprengstoff“, sagt die Ehrenamtliche.

Auch die Zimmersituation sei extrem. „Viele Geflüchtete leben seit 2015 oder 2016 in den Unterkünften und haben längst Arbeit gefunden“, so Bernhild Ziehm. „Auf einmal haben sie neue Mitbewohner.“ Wenn ein Zimmergenosse im Schichtdienst arbeite und der andere nicht, führe das zu Schlafproblemen. Ruhe sei für die meisten ein Fremdwort, Auszubildende könnten nicht für ihre Prüfungen lernen. „Unter diesen Umständen sind Konflikte verständlich“, sagt Ziehm. Es komme zu Handgreiflichkeiten, ständig gehe der Feueralarm.

Viele Flüchtlinge lebe seit fast zehn Jahren in den Gemeinschaftsunterkünften

Dass die Geflüchteten teilweise seit fast zehn Jahren in den Gemeinschaftsunterkünften ausharren müssen, sei ein großes Problem und der Tatsache geschuldet, dass sie auf dem freien Wohnungsmarkt keine Chance hätten. „Wer Ali oder Mohammed heißt, wird nicht mal zu einer Besichtigung eingeladen“, so die Erfahrung der Ehrenamtlichen.

„Geflüchtete stehen bei der Wohnraumvergabe an letzter Stelle“, so Ziehm. Trotz erheblicher Eigeninitiative der Geflüchteten werden sie laut Bericht höchstens zu Besichtigungsterminen eingeladen, wenn es um prekären Wohnraum geht. Ziehm: „Das sind Wohnungen, in die kein Deutscher einziehen will. Sie sind vom Schimmel befallen, die Heizungen sind defekt, die Fenster undicht und vieles mehr.“

Geflüchtete haben keine Chance auf dem Wohnungsmarkt

Fast nur durch Beziehungen und Kontakte sei es der Flüchtlingsinitiative ab und zu möglich, unter der Hand an Wohnraum für Geflüchtete zu kommen. Das sei aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. „Es wäre schön gewesen, wenn die Menschen, die seit fast zehn Jahren in den Unterkünften leben, mittlerweile anders untergebracht worden wären“, sagt Ziehm.

Blick in das Beratungsbüro der Flüchtlingsinitiative Reinbek (FIR)
(v. l.:) Sonja Enslin-Farcas, Roderich Ziehm und Nicole Stechhammer bei der Beratungsarbeit
Blick in das Beratungsbüro der Flüchtlingsinitiative Reinbek (FIR) (v. l.:) Sonja Enslin-Farcas, Roderich Ziehm und Nicole Stechhammer bei der Beratungsarbeit © HA | Bernhild Ziehm

Problem sei, dass der Wohnungsmarkt in Reinbek leer gefegt sei, dass es dramatisch an bezahlbarem Wohnraum fehle – und dass keine schnelle Besserung in Sicht sei. „Selbst, wenn heute beschlossen werden würde, Wohnungen zu bauen, würde es bestimmt zehn Jahre dauern, bevor Menschen einziehen könnten“, sagt Ziehm. „Das wird so nicht funktionieren. Wo bleiben die Menschen?“

Betreuung der Geflüchteten ist zum Fulltimejob geworden

Die Betreuung der Geflüchteten sei zum Fulltimejob geworden. Die zahlreichen Angebote der Flüchtlingsinitiative – Deutschunterricht, Frauen-Café, Schwimmtraining, Fahrradlernkurse, Filmnachmittage für Kinder, ein Theaterprojekt, Begleitungen im Alltag und vieles mehr – füllen im Bericht mehrere Seiten. Das Büro der Flüchtlingsinitiative an der Borsigstraße steht allen Reinbeker Geflüchteten offen. Es ist zweimal wöchentlich geöffnet – theoretisch von 17 bis 19 Uhr, praktisch aber oft bis 22 oder 23 Uhr.

Pro Öffnungstag kommen zwischen 15 und 25 Geflüchtete, Tendenz steigend. Rund 1400 Stunden Arbeit haben die Ehrenamtlichen 2023 dort geleistet. Sie helfen beim Verstehen von Behördenbriefen, unterstützen bei Anträgen für Jobcenter, Wohngeld, Kindergeld und mehr oder beraten bei der Schuldenregulierung. „Bei der Bürokratie können wir helfen, bei vielen Konflikten nicht“, sagt Ziehm.

Sozialarbeit der Stadt vor Ort wegen Sicherheitsbedenken eingestellt

Aktuell, so die Ehrenamtliche weiter, sei in der Borsigstraße keine Sozialarbeit der Stadt vertreten. Das bestätigte Bürgeramtsleiter Torsten Christ. Aus Sicherheitsgründen finde derzeit keine Beratung vor Ort statt. Die Geflüchteten seien nicht mit allem, was die Stadt mache, einverstanden. „Es soll aber bald wieder eine Sprechstunde angeboten werden“, sagt Christ. Diese solle von einem Sicherheitsdienst begleitet werden, falls es zu Übergriffen komme.

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Doch nicht nur unter den Geflüchteten herrsche angesichts der prekären Lage Unmut. Auch die Akzeptanz in der Bevölkerung sinke immer weiter. „Die Planung weiterer Flüchtlingsunterkünfte löst Ängste aus“, sagt Ziehm. Im privaten Umfeld höre sie immer häufiger, dass Flüchtlinge unerwünscht seien. „Wir hatten selbst kürzlich Schmierereien von Hakenkreuzen an unserem Gartenzaun. Die Situation ist nicht rosig.“

Initiatoren der Flüchtlingsinitiative hatten Hakenkreuze am Gartenzaun

Dementsprechend sei es auch immer schwieriger, Menschen für die Mitarbeit in der Flüchtlingsinitiative zu begeistern – obgleich ihre Arbeit wichtiger denn je scheint. Von rund 120 Ehrenamtlichen 2016 seien rund 30 geblieben, dazu kommen etwa 20 Sprachpaten. Die Zukunft ist ungewiss: „Die meisten sind älter als 70 und werden das nicht mehr ewig machen können“, sagt Ziehm.

Hochachtung, Lob und Dank sprachen die Mitglieder des Sozial- und Schulausschusses Ziehm und ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern für ihre Arbeit aus. Man sei bemüht, neue Unterkünfte zu schaffen. Neben dem Containerdorf im Krabbenkamp sollen Plätze in der Schulstraße, der Stettiner Straße und auf der Mehrzweckfläche Schönningstedt geschaffen werden. Ein Arbeitskreis berät über weitere Standorte.

„Ich rechne damit, dass die Unterkunft im Krabbenkamp Ende Mai oder Anfang Juni stehen wird“, sagt Torsten Christ. Die rund 30 Plätze sollen Abhilfe schaffen bei der aktuellen Überbelegung der bestehenden Unterkünfte. Auch ein Sozialarbeiter solle zum Bezug der Unterkunft vor Ort seine Arbeit aufnehmen.