Ahrensburg. Kommunalpolitiker massiv bedroht: Er sei eine „Erkrankung für den Volkskörper“ und eine „Perversion“. Staatsschutz ermittelt.

Es war ein verstörendes Bild, das sich Besuchern der Stadtverordnetenversammlung in Ahrensburg am Montagabend, 26. Februar, bot. Zwei Polizeibeamtepatrouillierten vor dem Eingang der Reithalle des Marstalls, sicherten die Sitzung der Kommunalpolitiker, die drinnen tagten. Der Grund sind massive Drohungen gegen den Stadtverordneten Stephan Lamprecht.

Seit vier Monaten erhält der 55-Jährige anonyme Briefe und E-Mails mit Schmähungen und Beleidigungen. Grund ist, dass Lamprecht sich als queer identifiziert. Der Absender forderte den Ahrensburger, der auch Mitglied im Kirchengemeinderat (KGR) ist, auf, sich aus den Ehrenämtern zurückzuziehen. Als Lamprecht dem nicht nachkam, bedrohte ihn der Unbekannte.

Entsetzen in Ahrensburg: Queerer Stadtverordneter wird seit Monaten bedroht

In einer gemeinsamen Ansprache zu Beginn der Sitzung verurteilten Ahrensburgs Bürgermeister Eckart Boege und Bürgervorsteher Benjamin Stukenberg (Grüne) die anonyme Hetze scharf. Boege nannte die Anfeindungen „feige, widerwärtig und in jeder Hinsicht inakzeptabel“. Die Drohungen richteten sich nicht nur gegen Lamprecht. Sie seien ein Angriff auf die Menschenwürde und die Demokratie.

„Der Einschüchterung von Kommunalpolitikern und anderen Ehrenamtlichen stellen wir uns entschlossen entgegen“, so der Bürgermeister. Jegliche Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung habe in Ahrensburg nichts verloren. An Lamprecht gerichtet sagte Boege, es tue ihm „von Herzen Leid“, was er in den vergangenen Wochen und Monaten habe ertragen müssen. „Es ist erschütternd und beschämend, dass Sie solchen Angriffen und Beleidigungen ausgesetzt sind.“

Lamprecht wendet sich mit einer Rede direkt an seinen Peiniger

Stukenberg betonte, dass es sich bei Beleidigungen, Diffamierungen und Gewaltandrohungen nicht nur um inakzeptable Grenzüberschreitungen handele, sondern um Straftaten. „Der Täter oder die Täterin ist gut beraten, sich der Polizei zu stellen“, so der Bürgervorsteher.

Im Anschluss äußerte sich auch Lamprecht. „Ich bin queer. Das ist allen Menschen, die mich näher kennen, seit über 40 Jahren bekannt“, sagte der 55-Jährige. Er wolle den Zeitpunkt nutzen, sich direkt an die Person zu wenden, die sich seit Monaten an seinem Leben, seiner Familie und seinen Freunden abarbeite.

Absender riet dem 55-Jährigen, sich an einem Baum zu erhängen

„Ich bin dreifacher Vater, vierfacher Großvater, Christ und Mitglied des KGR und ehrenamtlicher Politiker“, so Lamprecht. „Das alles stört Sie so unsagbar in der Kombination mit meinem Wesen, dass Sie niederträchtiger Weise selbst meine Freundinnen und Freunde, andere Politikerinnen und Amtsträgerinnen oder die Pastoren meiner Gemeinde mit ihren verbalen Ausfällen belästigen müssen.“

Der Kommunalpolitiker schilderte beispielhaft die Beleidigungen und Bedrohungen, die ihn seit Oktober erreichten. Als „Perversion“ oder „Erkrankung an unserem Volkskörper“ habe der Absender ihn bezeichnet. Zuletzt habe der Unbekannte ihm geraten, sich doch besser am nächsten Baum aufzuhängen, weil Menschen wie er dort hingehörten.

Lamprecht bekommt immer wieder Applaus und am Ende stehende Ovationen

„Genau das werde ich nicht tun. Ich werde nicht schweigen, ich werde mich nicht ins Private zurückziehen. Diesen Gefallen werde ich Ihnen nicht tun“, so Lamprecht. Seit fast vier Jahrzehnten kämpfe er für Toleranz. „Und mein Engagement scheint mir aktuell noch wichtiger als bisher zu sein.“

Polizisten patrouillieren vor dem Marstall in Ahrensburg, dem Tagungsort der Stadtverordnetenversammlung.
Polizisten patrouillieren vor dem Marstall in Ahrensburg, dem Tagungsort der Stadtverordnetenversammlung. © HA | Filip Schwen

Während Lamprechts Rede brandete immer wieder Applaus unter den Stadtverordneten und im Publikum auf. Am Ende gab es stehende Ovationen für den 55-Jährigen. Nachdem die Drohungen immer heftiger wurden, habe er sich für einen „Befreiungsschlag“ entschieden und sei an die Öffentlichkeit gegangen, so Lamprecht. Bereits vor einigen Wochen hat der Kommunalpolitiker Strafanzeige gestellt.

Auch Parteifreunde, Pastoren und die Kirchengemeinde erhielten Briefe

Den ersten anonymen Brief hatte Lamprecht nach eigenen Angaben im Oktober in seinem Briefkasten gefunden. „Ganz normal frankiert mit Briefmarke“, erzählt er. Das Schreiben sei voll von Beleidigungen und Diffamierungen gewesen. „Ich habe mir erstmal nichts weiter gedacht und es weggeworfen.“

Eine Woche später sei dann aber ein zweiter Brief gefolgt und anschließend weitere. Die Schreiben seien wellenweise gekommen, teilweise im Wochenrhythmus, manchmal auch mit zwei Wochen Pause dazwischen. Zudem habe der Unbekannte unter Fotos auf seinen Social-Media-Accounts beleidigende Kommentare hinterlassen. „Ich habe dann erfahren, dass auch Parteifreunde, Pastoren und die Kirchengemeinde Schreiben bekommen haben“, sagt Lamprecht.

Lamprecht hat keine Idee, wer hinter den Drohungen stecken könnte

Der Absender habe gedroht, ihn zu beobachten, wenn er zu bestimmten Veranstaltungen erscheine und verlangt, er möge seine Mandate als Stadtverordneter und als Mitglied des Kirchengemeinderates aufgeben. Ein Mann mit lackierten Fingernägeln solle sich nicht öffentlich äußern.

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Lamprecht hat keine Idee, wer hinter den Briefen stecken könnte. „Der Zeitpunkt ist mir genauso schleierhaft wie warum gerade ich als Zielscheibe ausgewählt wurde“, sagt er. Einige Schreiben hätten Andeutungen enthalten, die einen Zusammenhang mit seiner Mitarbeit in der Kommission zur Überprüfung historischer Straßennamen in Ahrensburg vermuten ließen. Das Expertengremium sollte Leitlinien für den Umgang mit nach realen Personen mit belasteten Biografien benannten Orten erarbeiten. „Das ist aber alles reine Spekulation“, sagt Lamprecht.

Auch die Kirchengemeinde verurteilt die Diffamierungen scharf

Mit dem kürzlich erfolgten Partei- und Fraktionswechsel des 55-Jährigen von der SPD zu den Grünen hätten die Bedrohungen nichts zu tun, so Lamprecht. Auch umgekehrt stehe der Wechsel nicht in Zusammenhang mit den Vorkommnissen, sondern habe inhaltliche Gründe gehabt.

Neben Bürgermeister und Bürgervorsteher verurteilt auch die Kirchengemeinde Ahrensburg die Drohschreiben scharf. „Es ist schockierend, dass Vorurteile und Diskriminierung noch immer existieren“, sagen die Vorsitzende des Kirchengemeinderates, Pastorin Angelika Doege-Baden-Rühlmann, und ihr Stellvertreter Florian Lemberg. Lamprechts Meinung, seine Haltung und sein Mitwirken in den Gremien der Gemeinde seien „von unschätzbarem Wert“.

Lamprecht spricht von einer „überwältigenden Solidarität“

„Es ist traurig zu sehen, dass unser Mitglied Polizeischutz benötigt, um sich an den Sitzungen zu beteiligen. Doch wir werden alles tun, was nötig ist, um ihm in unseren Sitzungen Raum zu geben“, so Doege-Baden-Rühlmann. Das Vorgefallene mache deutlich, dass es noch immer notwendig sei, gegen Intoleranz und Hass anzukämpfen.

Lamprecht ist dankbar für die breite Unterstützung. „Ohne diesen Rückhalt aus den Gremien und aus meinem Freundeskreis hätte ich vermutlich längst aufgegeben“, sagt er und spricht von einer „überwältigenden Solidarität“, die er parteiübergreifend erfahren habe.

Staatsschutzkommissariat der Polizei hat die Ermittlungen übernommen

Inzwischen ermittelt das für politisch motivierte Straftaten zuständige Staatsschutzkommissariat der Bezirkskriminalinspektion Lübeck in Lamprechts Fall. Einzelheiten möchte Sprecher Ulli Fritz Gerlach auf Anfrage zum Schutz der laufenden Ermittlungen nicht preisgeben, auch nicht dazu, inwiefern Anhaltspunkte für eine konkrete Gefährdung vorliegen. „Nach Bewertung der Sachlage wurde die Stadtverordnetenversammlung durch zwei Beamte begleitet“, sagt Gerlach lediglich.