Westerland. Marketingchef Luft: Wirtschaftskrise beginnt, auch Urlaubsregionen zu erreichen. Verbesserungen für 2023 geplant. Kommen E-Scooter?

Es ist Zufall, dass der Blick aus dem Büro des Sylter Marketingchefs direkt auf den kleinen Park fällt, der im Sommer die mediale Republik in Atem hielt: Damals hausten dort rund 50 Punks, zeitweise von 120 Journalisten „betreut“, erzählen Insulaner. Internetportale, Zeitungen, TV-Sender und sogar eine Spiegel-Titelgeschichte stellten sich die Frage, was diese Menschen für die „Insel der Reichen und Schönen“, für die „Sandburg der Superreichen“ bedeuten.

Nicht nur die Insulaner sind von diesem Zerrbild inzwischen genervt. Der bekannte Sylt-Fotograf Hans Jessel hat deshalb einen neuen Bildband veröffentlicht, um die schönen Seiten der Insel zu zeigen.

Sylt: Marketingchef will Bild gerade rücken

Auch Moritz Luft, seit 16 Jahren Geschäftsführer der Sylt Marketing GmbH, möchte ein Bild gerade rücken. Er zieht für den Sommer 2022 ein positives Resümee. „Wir hatten einen sehr schönen Sommer, gerade im August. Das Echo in den sozialen Medien war wahnsinnig positiv, die Menschen hatten einen schönen Urlaub. Es tat gut, das zu lesen bei all diesen ganzen negativen Schlagzeilen.“

Er hadert mit der Berichterstattung über die Insel. „Ich habe Anfang Mai in einem Interview gewarnt, dass die Kapazitäten der Bahn für das Neun-Euro-Ticket nicht ausreichen werden. Und daraus hat dann die „Bild“-Zeitung gemacht, die Insel der Reichen und Schönen habe Angst vor Billigurlaubern. Das hat eine Welle losgetreten, die durch die Hochzeit von Christian Lindner noch einmal größer wurde.“ Dabei zeigt eine solche Feier eigentlich die Qualität einer Urlaubsregion.

Sylt erlebte „drei intensive Jahre“

Luft spricht von „drei intensiven Jahren“ für die Insel. „Abgesehen vom Neun-Euro-Ticket haben wir nach den zwei sehr harten Corona-Jahren endlich wieder eine typische Saison erlebt, die langsam anstieg und nun zunehmend abflaute“, sagt Luft. Tiefere Spuren habe die Pandemie hinterlassen. Zunächst wurde die Insel im März 2019 binnen Stunden komplett heruntergefahren, dann drängten die Menschen im Sommer zurück.

„Die Pandemie war für alle sehr fordernd, weil es mehrfach von 0 auf 100 hochging.“ Seitdem werden die Fragen nach den Grenzen des touristischen Wachstums nicht nur auf Sylt noch intensiver diskutiert. Luft sagt: „Wir haben eine Sättigung der Nachfrage erreicht und rechnen nun mit einer langsam beginnenden Zurückhaltung. Die Wirtschaftskrise beginnt, auch Urlaubsregionen zu erreichen.“

Leichter Rückgang bei Übernachtungen

So dürfte das laufende Jahr den Rekord des Jahres 2019 nicht brechen – damals kam die Insel auf 7,1 Millionen Übernachtungen bei knapp einer Million Gästeanreisen. In diesem Jahr, so schätzt der 47-jährige Luft, dürften es knapp sieben Millionen Übernachtungen werden. „Die Zuwächse in den letzten Jahren vor Corona entstanden nicht in der Hauptsaison, sondern in der Vor- und insbesondere Nachsaison.“

Allerdings sind alle Zahlen mit einem Makel behaftet – ganz genau werden die Gäste nicht gezählt, weil die Inselgemeinden nicht einheitlich erheben und viele Besucher wie zum Beispiel Tagestouristen teilweise durch das Rost fallen. Eigentlich sollte ein neuerlicher Vorstoß das Datendickicht etwas lichten – aber nun wird dieser wieder einmal ausgebremst, weil einige Gemeinden plötzlich zögern.

„Auf der einen Seite fordern alle zurecht valide Daten, aber es droht aktuell, dass daraus nichts wird“, kritisiert der Geschäftsführer. Da könne auch Sylt Marketing wenig ändern. Das Unternehmen funktioniert wie ein Regionalverband mit mehreren Gesellschaftern. Die fünf eigenständigen Gemeinden auf der Insel haben ihren jeweils eigenen Tourismusservice und beschäftigen einen eigenen Kurdirektor oder Betriebsleiter.

In Sylt herrscht Mangel an Wohnraum

Dabei sind die Probleme überall die gleichen. Auch den Marketingchef treiben der Fachkräftemangel und der Mangel an Wohnraum um. „Sylt hat sich früh des Themas angenommen.“ Aber der Platz ist begrenzt und die Preise für Grundstücke liegen in astronomischen Höhen.

Luft wünscht sich, dass zumindest die Grundstücke des Bundes, der noch immer über beträchtliche Flächen auf Sylt verfügt, zu vernünftigen Konditionen erschlossen werden können. „Aber die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben verfolgte bislang oft eine andere Strategie und versuchte, ihre Flächen zu Marktpreisen zu verkaufen, was natürlich nicht im Interesse der Gemeinde ist.“

Luft drängt darauf, dass die Insel in Zukunft selbstbewusster ihre Stärken präsentiert: So müsse sich Sylt noch deutlicher mit dem Thema Natur positionieren. „Das ist das Hauptthema: Die Naturgewalten, das Wasser, der Strand, die damit verbundene Sehnsucht.“ Wo sonst finde sich ein so grandioser Erholungsraum mit einem hochwertigen Angebot im Bereich Beherbergung und Gastronomie?

Sylt als Trendsetter in der Gastronomie

Sylt sei Trendsetter: „Es muss keine steife Sterne-Küche mit gestärkten Tischdecken sein, die herausragende Küche der Insel ist eher mit einem legeren Erlebnis verbunden, so wie beispielsweise viele Strandbistros wie die Sansibar es vormachen.“

„Dafür steht Sylt“, sagt der gelernte Hotelkaufmann Luft. „Wie beispielsweise das Alsterhaus mit seinem breiten Angebot bietet auch die Insel allen etwas. Wir machen ein Angebot, das zum Beispiel sowohl Schulklassen wie Golfer, Camper wie Kurgäste gleichermaßen gut bedient und Natur mit Genuss vereint.“

Eine der Hauptaufgaben sieht er in der Erhöhung der Aufenthaltsdauer. Bis zur Pandemie urlaubten die Menschen zwischen 7,38 und 7,45 Tagen auf der Insel. Vor einem Vierteljahrhundert blieben die Menschen im Schnitt noch zehn Tage. „Diesen Trend sehen wir überall. Wenn es uns aber gelingt, dass die Menschen wieder länger kommen, entspannt sich auch das An- und Abreiseaufkommen über den Damm.“

Vorbild Kopenhagen: Sylts neue Tourismusstrategie

Zudem gelte es, das Angebot der Insel für Einheimische und Gäste zugleich zu denken. „Wir orientieren uns stark an einer Tourismusstrategie, die Kopenhagen 2017 veröffentlicht hat. Sie nimmt alle in den Blick: Egal, ob man dauerhaft oder vorübergehend in der Stadt oder auf der Insel ist – alle nutzen die gleiche Infrastruktur. So ist eben auch die Fußgängerzone in Westerland für alle da.“

Sylt daher als attraktiven Lebensraum wieder stärker ins Bewusstsein der Insel zu rücken, erscheint für Luft als eine der wichtigsten Aufgaben.

Die Fußgängerzone in Westerland ist für alle da – sagt Sylts Marketingchef Moritz Luft.
Die Fußgängerzone in Westerland ist für alle da – sagt Sylts Marketingchef Moritz Luft. © Imago/Chris Emil Janßen

Im reinen Wachstum liege jedenfalls kein Erfolgsmodell: „Um die Qualität der touristischen Marke Sylt sicherzustellen, darf es nicht wie früher nur um ein höher und weiter gehen. Wir stoßen an deutliche Grenzen.“ Das gelte auch für die Nachfrage. „Aus betriebswirtschaftlicher Sicht stellt sich die Frage, ob eine Kapazitätserweiterung noch Sinn ergibt. Zudem ist der Raum ist ausgereizt.“

Klimawandel bringt neue Besucher nach Sylt

Andererseits gibt es Trends, die die Insel noch verlockender machen. Der Klimawandel macht Sommerreiseziele am Mittelmeer unattraktiver, Nord- und Ostsee gewinnen. Erst kürzlich schwärmte die Neue Zürcher Zeitung von der Insel, eine Direktfluglinie bringt Züricher nach Sylt. „Das ist die größte Gruppe aus dem Ausland mit einem Anteil von 1,2 Prozent. Das Gute: Sie bleiben sehr lange.“ Insgesamt liegt der Ausländeranteil aber nur bei knapp drei Prozent.

Wo kann Sylt besser werden? Luft zögert. Ausgebaut werden könne das Angebot noch für jüngere Aktivurlauber. „Die Insel bietet optimale Bedingungen für Kiter und Wellenreiter.“

Zweigleisiger Ausbau der Bahnstrecke

Auch die Mobilität nach Sylt und auf der Insel ist ausbaufähig. Der zweigleisige Ausbau der Bahnstrecke und die Elektrifizierung stehen seit langem auf der Wunschliste der Insulaner und der Gäste. „Die Zweigleisigkeit ist im vordringlichen Bedarf des Bundes und in der Planung. Ich hoffe, dass wir sie bis 2030 zwischen Niebüll und Westerland bekommen“, sagt Luft. Positiv sei auch, dass das Land sich sehr um die Elektrifizierung der Strecke bemühe.

Luft hofft, dass es mit diesen Investitionen in Zukunft einfacher wird, das Auto auf dem Festland stehen zu lassen. Auch die Mobilitätsangebote auf der Insel müssten sich verbessern. Um den Parkplatzsuchverkehr zu reduzieren, wünscht er sich eine digitale Verkehrsführung, in der auch per App ein Parkplatz angesteuert werden kann. Zugleich geht es darum, den Autoverkehr zu reduzieren: So gibt es erste gute Ansätze, den Busverkehr zumindest für Übernachtungsgäste kostenlos anzubieten.

E-Scooter für die Insel?

Luft will nicht ausschließen, dass wie in der Großstädten E-Scooter-Anbieter vermehrt auf die Insel kommen werden. „Ich habe zumindest meine grundsätzliche Meinung geändert, weil Städte wie Paris mit festen Abstellplätzen ein aufgeräumtes Stadtbild sicherstellen können. Tatsächlich hätten Scooter-Anbieter bereits zwei, drei Mal nachgefragt, um auf Sylt vor einem großen Publikum ihre Marke auszurollen.

Luft mahnt bei aller Kritik an, auch die Verbesserungen wahrzunehmen. So haben sich beispielsweise die Rückstaus bei der Autoverladung, die in der Vergangenheit teilweise Westerland lahmlegten, deutlich reduziert, nachdem beide Autozugbetreiber Reservierungen eingeführt haben. „Das Angebot läuft jetzt verlässlich und wir haben an An- und Abreisetagen fast kaum noch größere Wartezeiten.“

Sylt: Die Nordseeinsel spart Energie

Wie überall schaut auch Sylt fragend auf die kommenden Monate. Zu der wirtschaftlichen Unsicherheit kommen noch mögliche Versorgungsengpässe. Was passiert, wenn eine Gasmangellage eintritt – gerade für die Spitzenhäuser mit ihren Wellness-Tempeln keine ganz einfache Frage. Schon jetzt reduzieren manche Hotels etwa die Öffnungszeiten ihrer Spa-Bereiche.

„Die Häuser und die Kommunen verbessern ihre Energieeffizienz, die Sylt Welle etwa schließt zu bestimmten Zeiten die Rutsche, weil sie nicht ideal isoliert ist“, sagt Luft. Auch die Weihnachtsbeleuchtung werde auf ein sinnvolles Maß reduziert. Auch die „Sandburg der Superreichen“ spart.

Vor der neuen Saison ist Luft dennoch nicht bang: „Wir stellen uns auf leicht rückläufige Zahlen ein. Aber zugleich können wir an einer noch höheren Qualität arbeiten und die Besucher noch besser lenken. Das hat uns dieses Jahr bereits gezeigt. Und das macht uns Mut für 2023.“