Westerland. Warme Winter, lange Sommer und ein steigender Meeresspiegel – das Klima verändert die Insel drastisch. Forscher geben einen Ausblick.

Schon der Blick aus dem Fenster zeigt dem Biologen Christian Buschbaum jeden Tag den Wandel auf der Insel. Noch vor einigen Jahren blickte der Wissenschaftler vom Alfred-Wegener-Institut in List auf eine Mauer, hinter der das Meer lag. Nun breitet sich vor seinem Fenster ein Nordseeidyll aus – bewachsene Dünen, davor ein Weg, dahinter das Meer. Die Insel Sylt, die noch vor wenigen Jahrzehnten dem Untergang geweiht schien, scheint dem Teufel vorerst von der Schippe gesprungen zu sein.

Die Erklärung für die neuen Perspektiven lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: Sandvorspülung und Sandaufspülung. Dabei wird Sand vor oder auf die Strände gepumpt. Er lässt neue Dünen entstehen, wo der Blanke Hans knabbert, er bildet Schutzwälle gegen Sturmfluten und schenkt der Insel eine Atempause. Kurzum, er hat die Ostverlagerung der Insel gestoppt.

Sylt und der Klimawandel: Sand ist der beste Küstenschutz

„Die Sandvorspülungen sind effektiv, aber kosten viel Geld. Bislang bezahlt sie zum größten Teil der Bund – mal sehen, wie lange das die Bayern noch mitmachen“, sagt Buschbaum. Diese Technik sei effizienter Küstenschutz. Jahrzehntelang kippt man Steine an die Küste, baute Buhnen oder versenkte monströse Tetrapoden. „Künstliche Dünen sind alternativer Küstenschutz, Sand ist der natürliche Übergang von Land zu Meer.“

Auch Ekkehard Klatt sieht die Sandvorspülungen grundsätzlich positiv. Jahrzehntelang hatte der 70 Jahre alte Geologe Inselführungen veranstaltet und den Wandel tagtäglich gesehen. „Die 50 Jahre Sandaufspülung haben sich bewährt“, sagt Klatt, der 1964 als Kind auf die Insel zog. Sie seien der bis dahin gültigen Strategie deutlich überlegen. Besonders fatal habe sich das Tetrapodenquerwerk an der Hörnumer Odde ausgewirkt, das 1968 fertiggestellt wurde.

Hörnum Odde auf Sylt ist dramatisch geschrumpft

„Das war menschengemachter Wahnsinn.“ Es stoppte den natürlichen Sandkreislauf: „Der Sand vom Roten Kliff wurde bei Flut nach Norden und bei Ebbe nach Süden Richtung Hörnum getragen“, sagt der Geologe. „Das Tetrapodenquerwerk hat die Insel verkürzt.“ Der Sand erreichte die Strände südlich von Rantum nicht mehr, sondern wurde ins Meer getragen oder zu den Sandbänken. „Es wäre das Beste, dass Tetrapodenquerwerk abzubauen.“ Der fatale Prozess lässt sich auf Landkarten beobachten. In den vergangenen 25 Jahren ist die Odde noch einmal um 800 Meter kürzer geworden.

Im Vergleich: Die Hörnum Odde auf Sylt 1999 und 2015. Die Insel ist deutlich schmaler geworden.
Im Vergleich: Die Hörnum Odde auf Sylt 1999. © LKN.SH

... und 2015. Die Südspitze von Sylt ist deutlich schmaler geworden.
... und 2015. Die Südspitze von Sylt ist deutlich schmaler geworden. © LKN.SH

Inzwischen kommt aber ein weiteres Problem hinzu – der Wasserspiegel steigt durch das Abschmelzen der Gletscher und des Polareises kontinuierlich, hinzu kommt die thermische Ausdehnung der Wassermassen durch den Klimawandel. Deshalb hält Klatt Sandvorspülungen nicht für eine Dauerlösung. „Wir halten damit den Status Quo an der Westküste. Als Naturwissenschaftler weiß ich aber, dass es keinen Status Quo gibt. Wir akzeptieren nicht, dass auch Sylt sich verändert.“

In seiner Geschichte sei die Insel von Westen Richtung Osten gewichen, die Insulaner hätten deshalb ihre Dörfer stets an der Ostseite errichtet. „Das Hotel Miramar in Westerland wurde 1903 gebaut, 1907 war die Düne schon so dicht dran, dass die einzige Chance war, die Küstenlinie mit einer Steinmauer zu fixieren. Seitdem darf Sylt nicht weichen.“ Der Klimawandel verändert vieles: „Das ist hier auf der Insel nicht mehr zu übersehen. Ich beobachte eine Verschiebung der Jahreszeiten – der Sommer reicht bis in den Herbst und der Winter mitunter ins Frühjahr“, sagt Klatt.

Klimawandel: Revolutionäre Veränderungen im Watt

Längst sind die Veränderungen auch in der Natur zu beobachten: „Das Wattenmeer hat sich in den letzten 20 Jahren revolutionär verändert“, sagt Buschbaum, der seit 1998 auf der Insel lebt. Ein Strandspaziergang 2022 sei ein ganz anderer als im Jahr 1980. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich viele neue Arten im Watt angesiedelt.

Eingeschleppte Arten, die etwa über die Schifffahrt in unsere Region kamen, breiten sich aus: „Die Nordsee ist wärmer geworden: Ausschlaggebend ist aber nicht der mittlere Anstieg, es sind die milden Winter. Im Winter wird im Watt gestorben, das Ökosystem neu geschüttelt, dafür sind Eiswinter wichtig. Sie fehlen nun.“ So breiten sich neue Arten aus wärmeren Gefilden rasant aus – wie etwa der Japanische Beerentang, die Amerikanische Schwertmuschel, die Australische Seepocke oder die Pazifische Felsenkrabbe. Jedes Jahr komme eine bis zwei Arten neu hinzu.

Die Pazifische Auster wurde 1986 bewusst nach Norddeutschland in Aquakulturen angesiedelt und verbreitet sich rasant. „Miesmuschelbänke sind heute Austernriffe – die Pazifische Auster hat die Miesmuschelbänke besiedelt, sie haben eine Wohngemeinschaft gebildet.“ Insgesamt sei das Wattenmeer als sehr junger Lebensraum nicht voll besetzt und so offen für neue Arten, Nahrung reichlich vorhanden. Das Ökosystem existiert in dieser Form erst seit 7000 bis 8000 Jahren – und bislang ist es mit dem Klimawandel ganz gut zurechtgekommen. „Man kann auch sagen, es ist sehr immigrationsfreundlich.“

Barfußlaufen vor Sylt wird gefährlicher

Bein Wattspaziergang bergen die neuen Bewohner aber neue Gefahren: „Das Barfußlaufen ist gefährlicher geworden, weil die Schalen der Amerikanischen Schwertmuschel und die Pazifischen Auster sehr scharfkantig sind. Das kann auch den Badespaß auf der Wattseite einschränken.“ Eine Frage, die die Forscher beschäftigt, sind die mittelfristigen Folgen. „Das Wattenmeer ist ein dynamisches Ökosystem, das besser auf Änderungen reagieren kann. Es ernährt Millionen von Zugvögeln.“

Die Frage laute nun: „Wird das Wattenmeer seine ökologischen Funktionen weiter wahrnehmen können?“ Die Wissenschaftler in List untersuchen, wie sich der Anstieg des Meeresspiegels auswirkt. „Wir simulieren hier veränderte Wasserstände und schauen wie sie auf Lebewesen wirken.“ Klar ist, inzwischen steigt der Spiegel an der nordfriesischen Küste pro Jahr um rund 2,6 bis 2,7 Millimeter.

Ein Stück könne das Watt mitwachsen – aber der Platz ist begrenzt. „Durch den 1000-jährigen Deichbau ist dieser Lebensraum inzwischen eingezwängt. Wir benötigen einen Küstenschutz, der über den Deichbau hinausgeht.“ So könne es geboten sein, in dünn besiedelten Gebieten die Deiche zurückzubauen und Überflutungsgebiete zu schaffen, wie es die Briten und Holländer machten. „Die Häuser dort könnten schwimmen oder auf Warften stehen“, schlägt Buschbaum vor. Das könnte auch eine Basis für sanften Tourismus sein.

Klimawandel bringe mehr Touristen an Nord- und Ostsee

Eins ist Buschbaum klar: Der Klimawandel wird nicht nur die Insel verändern, sondern auch den Tourismus. „Nord- und Ostsee werden noch attraktiver, weil es im Hochsommer am Mittelmeer zu heiß wird. Der Norden wird an Bedeutung gewinnen und braucht dringend neue Konzepte für sanften Tourismus.“

Auch Ekkehard Klatt fordert, dass die Insel sich nicht den natürlichen Entwicklungen entgegenstemmt. „In den Gebirgen akzeptieren wie Erosion, aber auf Sylt stört sie uns.“ Die Sandvorspülungen vor Sylt – immerhin 55 Millionen Kubikmeter in 50 Jahren – könnten nicht ewig weitergehen, sagt der Geologe. „Inzwischen gibt es Warnungen, dass der Sand knapp werden kann. Wie sinnvoll ist es, auch nach 2030 oder 2050 an dieser Methodik festzuhalten?“, fragt Klatt. Der Mensch müsse bereit sein, sich zurückziehen. „Wir müssen nach Osten umziehen, das Miramar kann 2100 nicht noch an dieser Stelle stehen.“

Sylt: Der nächste Orkan könnte verheerend sein

Wilde Nordsee: Sturmtief
Sturmtief "Nadia" hat Ende Januar 2022 für erhebliche Schäden in List auf Sylt gesorgt. © Ketelsen/LKN SH | Ketelsen/LKN SH

Ohnehin ärgert den Insulaner eine gewisse Sorglosigkeit, die sich breit gemacht habe: „Wir fühlen uns dank der Sandvor- und aufspülungen zu sicher.“ Zudem habe es in den letzten 30 Jahren deutlich weniger schwere Stürme gegeben als im Vergleichszeitraum 1960 bis 1990. „Seit 2000 hatten wir keine schlimmen Orkanschäden, wir haben das Gefühl für die Naturgewalten etwas verloren. Aber es wird nicht immer so bleiben“, warnt der Geologe.

Völlig unverständlich sei ihm, dass noch am Strand neue Bewirtschaftungsgebäude errichtet werden wie Johnnys Strandbar in Wenningstedt. „Wenn der richtige Orkan kommt, ist das Gebäude ein Fall für die Versicherung.“