Hamburg. Die Autoren Silke von Bremen und Hans Jessel fürchten um die Zukunft ihrer Insel. Ein Gespräch über den Fluch des Paradieses.

Wer kennt Sylt besser als Hans Jessel und Silke von Bremen? Der 1956 in Westerland geborene Jessel erinnert sich an eine Zeit, die inzwischen längst verschüttet ist und nur noch auf antiquarischen Postkarten existiert. Mit der Kamera hat der 66-Jährige den ständigen Wandel und die ewige Schönheit der Insel mit seiner Kamera eingefangen und dieser Tage seinen neuen Bildband „Sylt“ veröffentlicht.

Seine Gattin Silke von Bremen arbeitet seit 25 Jahren als selbstständige Gästeführerin und Reiseschriftstellerin, von ihr stammt die „Gebrauchsanweisung für Sylt“. Groß geworden ist sie auf einem Obsthof im Alten Land und hat so den Blick von außen. Ein Gespräch über eine Insel am Abgrund, ihre verletzliche Schönheit sowie Porsche und Punks im Sommer.

Hamburger Abendblatt: Beginnen wir mit einer ehrlichen Diagnose – wie geht es Sylt?

Hans Jessel: Ich bin schwer in Sorge, was die Entwicklung der Insel betrifft. Einiges läuft aus dem Ruder, es wird zu viel mit dem Tourismus. Früher war Sylt nur im Sommer voll, jetzt ist bis in den November hinein der Teufel los. Aus meiner Kindheit erinnere ich die Zeit, als mit dem Ende der Sommerferien die Bürgersteige hochgeklappt wurden. Jetzt ist fast das ganze Jahr Hauptsaison. Es nimmt uns Insulanern den Atem.

Dann war Corona eine Atempause für die Insel?

Jessel: Ja. Aber die Saison hat sich seitdem noch weiter ausgedehnt. Das bekomme ich als Fotograf überall zu spüren: Für meine Fotos benötige ich möglichst menschenarme Landschaften – aber die sehe ich kaum noch.

Silke von Bremen: Als Gästeführerin bin ich beruflich vom Boom weniger betroffen. Meine Klientel ist eher die Gruppe der Best Ager, mit ehrlichem Interesse für die Insel. Insgesamt nimmt der Druck auf die Bewohner aber zu. Weniger werdende Einheimische müssen eine lebenswerte Insel organisieren, was immer schwerer wird. Deshalb engagiere ich mich im Bürgernetzwerk „Merret reicht’s“. Darin haben sich unterschiedliche Menschen zusammengeschlossen, die für den Erhalt des Sozialgefüges und Dauerwohnraum kämpfen und um mehr Wertschätzung gegenüber den Syltern.

Ganz neu ist diese Debatte ja nicht – über Verdrängung und die Überdosis Urlauber wurde auf Sylt schon vor 50 Jahren diskutiert.

Im Abendblatt-Interview: Hans Jessel und Silke von Bremen.
Im Abendblatt-Interview: Hans Jessel und Silke von Bremen. © Matthias Iken

Jessel: Deshalb bin ich so frustriert. Vorausschauende Insulaner haben damals gegen das gigantische Hochhaus Atlantis protestiert, das direkt am Strand entstehen und 80 Meter hoch werden sollte. Damals unkten einige: Was nicht in die Höhe gebaut wird, wird am Ende in die Breite gebaut. Leider ist es so gekommen.

von Bremen: Aber Atlantis hat ja am Ende die Landesregierung verhindert. Die Politik in Westerland aber hätte es gebaut! Nach dem damals wie heute gleichen alten Lied: Der Fremdenverkehr ist unser Rückgrat, den müssen wir stärken. Aber man muss sich fragen, ob wir nicht längst ein Invest-Standort geworden sind, der Einheimische nur noch als Servicepersonal und Kulisse benötigt. Von großen Immobiliendeals profitieren selten die Sylter, die immer schwerer bezahlbare Wohnungen finden und abwandern. In der Folge wird unsere Inselstruktur geschreddert. Wir haben keine Geburtsstation mehr, wir haben Schulen verloren – welche junge Familie zieht da auf die Insel?

Das wäre genau die Geschichte von Dörte Hansen „Zur See“ ...

von Bremen: Genau, das ist doch interessant, dass dieses Problem jetzt sogar in der Literatur angekommen ist. Und die Landespolitik nimmt nach einer fatalen Tourismusstrategie unter Minister Buchholz das Thema auch endlich in den Blick.

Auch das ist nicht so neu: 1974 kam ein Gutachten der Landesregierung „zur Struktur und Entwicklung der Insel Sylt“ zum Ergebnis, wonach die Obergrenze der Aufnahmefähigkeit Sylts bei 100.000 Personen liegt. Heute sind wir locker bei 150.000.

Jessel: Mindestens! Da kann man noch 30 Prozent draufschlagen, ich gehe eher von 200.000 aus. Am schlimmsten ist es an heißen Sommerwochenenden. So genau kann es keiner sagen, weil Tagesgäste nicht gezählt und Unterkünfte unter neun Einheiten überhaupt nicht erfasst werden.

von Bremen: Leider gibt es kein funktionierendes statistisches Material, wie viele Menschen hier wirklich leben und Urlaub machen, wie viele Ferienwohnungen es gibt. Man muss sich fragen, ob das Nachlässigkeit ist oder Methode der Mehrheitsfraktionen in den Ortsparlamenten. Hinweise auf den sich abzeichnenden „overtourism“ hat man einfach ignoriert.

Oder liegt es an Corona? Hat der Lockdown die Wahrnehmung verändert?

Jessel: Das kann sein. Der Lockdown war – sorry – paradiesisch. Wir konnten sonntags um 11 Uhr an den Hauptstrand gehen, ohne dass es eine Spur im Sand gab. Gelegentlich beschlich mich das Gefühl, die vom Tourismus gestresste Natur würde diese Zeiten nutzen, um sich zu regenerieren ...

von Bremen: Ich habe alle meine Freunde am Ende des Lockdowns gebeten, ihre Erfahrungen dieser Ausnahmezeit aufzuschreiben. Daraus ist ein bewegendes Zeitdokument geworden, viele fühlten sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Anderen wurde schmerzlich bewusst, wie wenige Nachbarn sie eigentlich haben.

Nun klingt die Kritik am Ausverkauf der Insel etwas wohlfeil – denn es verkaufen ja Sylter ...

Silke von Bremen: Das stimmt. Einige spekulieren vielleicht auch auf das Erbe. Aber wer bleiben will, kann oft die Geschwister nicht ausbezahlen und ist nicht in der Lage, die Erbschaftssteuer zu bezahlen. Da bleibt dann nur noch der Verkauf. Und weil wir zu wenige B-Pläne haben, entsteht an selber Stelle ein Vielfaches an Ferienunterkünften. Und die Preise für Immobilien sind schwindelerregend, diese Form von Luxus nimmt uns langsam die Luft.

Was wird aus Sylt, wenn sich die Sylter ihre Heimat nicht mehr leisten können?

Jessel: Man sieht schon überall, dass die Einheimischen fehlen. Bei der Trachtengruppe der Sölring Foriining fehlt der Nachwuchs, die ganze ehrenamtliche Arbeit auf Sylt von der Freiwilligen Feuerwehr über die Turnvereine bis zur Telefonseelsorge leidet.

von Bremen: Was macht Leben aus? Das ist nicht das Geld, das sind Nachbarschaften, Freunde, die Kneipe um die Ecke, das sind die gewachsenen Strukturen.

Jessel: Viele Veranstaltungen machen die Vereine nur noch für die Touristen. Kürzlich traf ich Westerländer, die in Morsum am Watt saßen. Warum? Sie wollten einfach mal Ruhe. Die Einheimischen sind zunehmend erschöpft.

Doch sie verdienen gut an den Gästen ...

von Bremen: Aber es kostet uns auch viel.

Jessel: Es ist eine Frage der Quantität. Und es geht um die Frage, welchen Tourismus wir wollen. Remmidemmi und Harley-Days passen nicht auf die Insel. Was wollen die Motorradfahrer auf der Promenade?

von Bremen: Die Gäste leiden ja auch, wenn es zu viel wird. Früher hat mich niemand gefragt, wie wir Einheimische das eigentlich aushalten.

Wer liebt die Insel mehr? Die Zugeschwommene von Bremen oder der Alteingesessene Jessel?

Jessel: Wir fühlen anders.

von Bremen: Ich sehe das alles erst seit 1989, Hans seit 66 Jahren: Du hast eine wirkliche Liebe, Du leidest ehrlich. Manchmal kommst Du nach Hause und bist richtig seelenwund. Ich bin dagegen sauer, das ist ein Unterschied. Ich ärgere mich. Und engagiere mich in einem Bürgernetzwerk.

Wird auf der Insel zu viel gebaut?

von Bremen: Wenn Sie die Bürger fragen, bekommen Sie ein eindeutiges Ja. Diese Entwicklung betrifft aber die ganze Nordseeküste. Sylt ist Amrum und Föhr vielleicht 20 Jahre voraus. Zurzeit ist List unsere Boomtown. Über den Lanserhof kann man streiten, aber ich frage mich, ob so ein Luxus noch in die Zeit passt und warum man im „Dünenpark“ so viel Ferienbebauung genehmigt hat, obwohl wir genau das nicht mehr brauchen. An den damit verbundenen Verkehr gar nicht zu denken.

Jessel: Der Verkehr auf der Insel wächst stetig – kilometerlange Staus sind die Folge. Frische Meeresluft adieu!

Vielleicht weil ich meinen Porsche, wenn ich einen besitze, auch mal gern zeigen möchte?

Jessel: Genau: Sylt ist die Autofahrerinsel Deutschlands. Die fahren nicht nach Amrum.

Sie haben gemeinsam Reiseführer über die Azoren und Madeira geschrieben. Spüren Sie manchmal Sehnsucht nach anderen Inseln?

Jessel: Ja, ich liebe Portugal. Aber die Entwicklung ist überall die gleiche – ich war bereits zur Zeit der Nelkenrevolution 1974 dort. Damals sagten die dortigen Behördenvertreter, man werde die Fehler des Massentourismus an der Algarve nicht wiederholen. Und hat sie dann doch gemacht. Geld regiert die Welt.

Dann müssten Sie ja den Sommer der Punks mit Wohlwollen gesehen haben ...

Jessel: Nein. Ganz ehrlich, das war einer der Gründe, warum ich nun ein neues Sylt-Buch gemacht habe. Über Wochen gab es kein anderes Thema in den deutschen Medien als Punks und Lindners Hochzeit. Das ist nicht meine Insel!

von Bremen: Ich hatte den Eindruck, die Presse war dankbar über diesen neuen Aufreger und die Punks wiederum über die ungewohnte Aufmerksamkeit, die sie bekamen. Das war oft krass und hat kaum die Wirklichkeit vor Ort widergespiegelt. Mein Bild von Punks war bisher eher politisch. Erschüttert hat mich der viele Alkoholkonsum und auch die Gewalttätigkeit, die damit einherging.

Jessel: Es waren auch kluge Köpfe dabei, die das Gespräch suchten. Die Gruppe war sehr heterogen. Ein Bild hat sich mir eingeprägt: Ich werde nicht vergessen, wie ein weißer Porsche-Cabrio stoppte, damit die Beifahrerin ein Handyfoto machen konnte. Da flogen die Bierdosen, und der Fahrer gab Gas.

Da treffen zwei Klischees zusammen: Die Reichen und Schönen treffen die Punks – was ist Sylt abseits der Klischees?

von Bremen: Es ist wirklich erstaunlich, wie sich die Presse dieser Sylt-Klischees seit Jahren bedient. Vermutlich ist das einfacher, als sich die Insel einmal genauer anzusehen. Dann könnte man feststellen, wie sehr das Bild heute hinkt. Und die rauschhaften Champagner-Partys der 50er- und 60er-Jahre haben auch damit zu tun, dass da Menschen mit Kriegserinnerungen zusammenkamen, die endlich einmal vergessen wollten. Und dass Pressegrößen wie Henri Nannen, Rudolf Augstein und Axel Springer regelmäßig auf der Insel waren, hatte natürlich auch Folgen. Sylt war überproportional oft in den Medien.

Jessel: Mich hätte Gunter Sachs einmal fast in der Norderstraße mit seinem Motorrad als kleiner Junge überfahren, weil er im Slalom die Autos umkurvte. Das war der Trubel von ein paar Wochen – dann war es vorbei.

Bei aller Wehmut und Kritik, die Sie äußern – was spricht denn für die Insel?

Jessel: Sylt ist einer der tollsten und spektakulärsten Orte Deutschlands – hier findet sich auf engstem Raum eine landschaftliche Vielfalt wie sonst nirgends. Sylt ist voll mit Superlativen im Land: die mächtigsten Dünen, die höchste Steilküste, den längsten Strand, das wildeste Meer, die größten Heideareale ganz Schleswig-Holsteins. Die Insel ist ein wirkliches Paradies. Es ist ein Glück, auf Sylt leben zu dürfen!

von Bremen: Und Sylt hat perfekte Gastgeber, und das seit Generationen. Eine Luxusmarke kann man meines Erachtens nur aufrechterhalten, wenn einheimische Gastgeber sie leben.

Sturmfluten waren und sind auf Sylt immer ein großes Thema. Hat sich das durch die großen Sandvorspülungen endlich entspannt?

Jessel: Es sieht so aus; ich war zunächst skeptisch, ob das klappt. Aber es scheint zu funktionieren. Erstmals wächst die Insel an der Westseite, sodass wir fast wieder die Küstenlinie von 1900 erreichen. Aber wir wissen nicht, wie es draußen auf dem Meeresboden aussieht. Nachhaltig ist die ganze Aufspülerei natürlich nicht.

Aber es ist besser als Tetrapoden im Meer – sie haben Teile der Hörnumer Odde vernichtet.

Jessel: Das beobachte ich seit 1967. Damals haben viele Geologen vor dem Tetrapoden-Querwerk gewarnt – es wurde trotzdem gebaut. Deshalb bin ich auch so verzagt, weil wir zu wenig auf die Wissenschaft hören. In meiner Kindheit dauerte es dreieinhalb Stunden, einmal um die Odde herumzulaufen, nun reicht eine Dreiviertelstunde.

von Bremen: Dieser Flutschutz durch die Tetrapoden war offenbar ein Wunsch des damaligen Bundesverkehrsministers Seebohm, der ein flutgefährdetes Reetdachhaus in Hörnum hatte. Dafür bekam Kiel dann den Autobahnzubringer pünktlich zu den Olympischen Segelwettbewerben 1972.

Wenn Sie drei Wünsche für Sylt frei hätten – welche wären das?

von Bremen: Dass die verschiedenen Gemeinden erkennen, wir können die Pro­bleme der Insel nur gemeinsam lösen, und dass wir nicht die cash cow für Investoren sind. Es muss auch mehr direkte Bürgerbeteiligung bei maßgeblichen Entscheidungen geben. Und um Sylter in ihren Häusern zu halten, wäre eine Änderung bei der Erbschaftssteuer sinnvoll. Warum wird diese in Touristenorten nicht erst in dem Moment fällig, in dem die Familie das Haus verkauft? Man könnte Lösungen finden. Wir benötigen vernünftige Bebauungspläne und ein wirksames Beherbergungskonzept, das weitere Ferienbebauung verhindert.

Das war jetzt sogar einer mehr, für Sylt reichen keine drei Wünsche mehr.

Jessel: Darf ich mal träumen? Jedes Jahr zwischen Januar und Biikebrennen am 21. Februar ein paar Wochen Ruhe auf Sylt. Wie im Lockdown vor zwei Jahren, damit die Insel und wir Einheimischen uns wieder regenerieren können.