Sylt. Trotz toller Strandlage einst touristisch ziemlich abgehängt, ist der Ort aus dem Dornröschenschlaf erwacht. Was er bietet.
Es gibt Sätze, die so tief sitzen, dass sie auch nach Jahrzehnten noch im Gedächtnis vieler Menschen fest verankert sind. Der Komiker Karl Dall hat einen solchen Satz geprägt, als er einmal formulierte: „Hörnum ist die DDR von Sylt.“ Was er damit meinte, war das Flair am südlichen Zipfel der lang gezogenen Urlauberinsel, welches – anders als in Orten wie Keitum oder Kampen – geprägt war von ehemaligen Kasernen, Jugendheimen und Altlasten im Boden.
Als die Bundeswehr 1993 den Standort aufgab, stand Hörnum vor einer ziemlich ungewissen Zukunft. Die großen Siedlungen waren architektonisch kein großer Wurf und baulich spürbar in die Jahre gekommen. Der Tourismus galt als schläfrig, das kulinarische Angebot als überschaubar, das Nachtleben als weitgehend nicht existent.
Sylt: Ausflüge in den Norden beliebter
Wer in Westerland lebte, der fuhr selten in diese Richtung, eher machte man Ausflüge in den Norden, zur Wattseite oder blieb gleich da am nahen Weststrand. Und auch für die meisten Urlauber galt die Maxime: Hinter Sansibar und Rantum kommt nicht mehr viel, was man unbedingt gesehen haben muss.
„Wenn ich als Kind mit meinen Großeltern einen Ausflug unternommen habe, dann war oft die Frage, ob wir zum Ellenbogen im Norden oder zur Südspitze fahren“, erinnert sich Lars Horn, Jahrgang 1968 und seit 13 Jahren Besitzer des Strandrestaurants Kap Horn. Ging es tatsächlich mal ab in den Süden, dann wusste er: Es dauert über drei Stunden, einmal um die Hörnumer Odde zu laufen, aber dafür bekomme ich zur Belohnung an der Südkap-Bude ein Eis.
Strandbistro genauso gut wie Sansibar?
Den Kiosk gibt es immer noch, die Südspitze allerdings ist in ihrer alten Form längst verschwunden. Blanker Hans und starke Strömungen haben sich Jahr für Jahr große Portionen der Insel einverleibt, irgendwann musste der Küstenschutz trotz zahlreich platzierter Tetrapoden und teurer Aufspülungen kapitulieren.
Aus den strammen Märschen seiner Kindheit sind knappe 45 Minuten geworden, die Spaziergänger heute benötigen, um vom Südkap aus am Wasser entlang die Odde zu umrunden und dann bei Lars Horn einzukehren. Sein Strandbistro kann es von der Lage her mit Inselinstitutionen wie Sansibar oder Samoa aufnehmen, wird aber meistens von Urlaubern aus der Nähe angesteuert.
Wehrheim ist ein waschechter Hörnumer
Kommt mal ein prominenter Gast vorbei, macht niemand großes Aufheben darum, „ich behandle jeden gleich“, betont Horn. Auf der Speisekarte stehen tagsüber kleine Gerichte wie Currywurst, Ofenkartoffel, Suppen oder Rösti, abends kommen regional fokussierte Gerichte auf den Tisch, zum Beispiel das zwei Daumen dicke Kotelett vom Geester Landschwein oder die Scholle „Büsumer Art“ mit Nordseekrabben, Salzkartoffeln und geklärter Butter.
Anders als Horn, der zwar eine Sylter Vergangenheit hat, aber nicht aus dem Inselsüden stammt, ist Jan Wehrheim waschechter Hörnumer. Der 38-Jährige führt seit 2018 mit seinem Schulkumpel Dennis John das Straend, ein Strandrestaurant auf der Düne beim Campingplatz. „Als wir übernommen haben, mussten wir erst mal tüchtig renovieren“, sagt Wehrheim, der wie sein Geschäftspartner gastronomischer Quereinsteiger ist. Doch die Arbeit hat sich gelohnt, denn nun zählt das Straend mit lässigem Beachlife-Interieur, sonniger Terrasse und bezahlbaren Speisen zu den angenehmsten Plätzen in Hörnum, zumal man auch hier mit nur wenigen Schritten hinüber zur Nordsee kommt.
Zahlreiche Unterkünfte werden angeboten
Camping ist ein relevanter Baustein im Übernachtungsangebot in Hörnum, bedeutender sind aber für Klassenreisen die Schullandheime und für Urlauber die vielen Apartments, die über Zimmervermittlungen angeboten werden. Man muss nur einmal durch den kompakten Ort schlendern, schon ist die Jackentasche gefüllt mit Prospekten. Über Internetplattformen finden Urlauber zahlreiche Unterkünfte, in der Ortsmitte haben zudem Vermietungsagenturen ihre Büros.
Zu den Hotels im Ort zählen das Hapimag, eine Time-Sharing-Anlage mit „Urlaubsaktionären“, und das 54 Grad Nord in Hörnum, mit 22 modern-maritim eingerichteten Zimmern und zentraler Lage ein idealer Ausgangspunkt, um den Süden zu entdecken. Von außen sieht das einstige Hapag-Haus wie ein kompletter Neubau aus, und eigentlich ist es das auch, nur eine Wand stammt noch aus dem frühen 20. Jahrhundert.
Leuchtturm gibt historische Einblicke
Das im Auftrag des Hamburger Reeders Alfred Ballin errichtete alte Gebäude entstand, weil damals Hapag-Schiffe im tideunabhängigen Hafen anlegten und Passagiere einen Ort brauchten, um in die Sylter Inselbahn umzusteigen, die nach Westerland und von dort weiter in fernere Orte führte. Bis 1935 blieb die Südbahn die einzige Verbindung nach Hörnum, Straßen existierten damals lediglich bis Rantum. Heute ist die Trasse der Inselbahn ein Radwanderweg.
Einer der Dampfer war die „Cobra“ – ein Modell davon hängt in der St.-Thomas-Kirche. Doch kann man auch noch woanders historische Bilder von Schiffen sehen, die früher Sylt anliefen: im Leuchtturm auf dem Weg nach oben. 128 Stufen führen hinauf, der Eintritt kostet 6 Euro. Das kleine Fitnessprogramm beschert dem Besucher neben einem großartigen Rundumblick auch Einblicke in zwei besondere Etagen. In der einen ist ein kleines Klassenzimmer zu sehen, in dem früher Schüler unterrichtet wurden, in der anderen ist ein Ableger des Standesamtes untergebracht.
Bunker ist ein Relikt aus vergangenen Zeiten
Nahe dem Turm gibt es einen Bunker in den Dünen. Der Schutzraum ist ein Relikt aus jenen Jahren, als das Militär den Süden der Insel zum strategisch wichtigen Stützpunkt gemacht und hier eine Basis errichtet hatte. Vor und während des Zweiten Weltkrieges wurden im Ort zahlreiche Soldaten mit ihren Familien stationiert. Der Hafen wurde ausgebaut, ein Landeplatz für Wasserflugzeuge eingerichtet. Schon 1935 hatte die Luftwaffe mit dem Bau von Wohnhäusern begonnen, aufgeteilt in die etwas abseits gelegenen roten Ziegelhäuser für Externe und die weiß getünchten Offiziershäuser.
Wer noch mehr Rang und Namen hatte, durfte zwischen beiden Siedlungen auf dem sogenannten Lamettahügel residieren. Nach dem Krieg lebten zunächst mehr als 2000 Heimatvertriebene in den zahlreichen leerstehenden Soldatenunterkünften. Auch einige Familien, die ihre Heimatinsel Helgoland verlassen mussten, ließen sich in Hörnum nieder. Als die Bundeswehr ihren Dienst aufnahm, wurde Hörnum Sanitätsausbildungszentrum des Heeres.
Kersig-Siedlung sticht heraus
Die wohl bemerkenswertesten Häuser in Hörnum entstanden in den späten 1950er-Jahren. Die Kersig-Siedlung mit reetgedeckten Feriendomizilen ist heute ein beliebtes Fotomotiv, allerdings gab es schon während der Bauzeit immer wieder die Mahnung, nicht so dicht ans Meer heranzurücken. Niemand kann mit Gewissheit sagen, ob sich der Blanke Hans die hübschen Häuschen nicht doch einmal schnappt, nicht ohne Grund sind unten am Strand mächtige Betonsperren zum Dünenschutz aufgetürmt.
„In den letzten 50 Jahren hat die Odde rund 85 Prozent ihrer Fläche verloren“, sagt Dennis Schaper, seit sieben Jahren Leiter der Schutzstation Wattenmeer. Er und seine Kollegen auf ganz Sylt bringen Urlaubern mit fünf Stationen das Unesco-Weltnaturerbe näher, das sich jenseits der Hotels und Ferienhäuser befindet und Lebensraum zahlreicher Vögel und Meeresbewohner ist.
Arche Wattenmeer bringt Besuchern Natur näher
Die größte dieser Stationen ist die Arche Wattenmeer in Hörnum, in der es einen interessanten Ausstellungsraum gibt. Dort kann man nicht nur lebende Seesterne und andere Vertreter der vielfältigen Unterwasserwelt bewundern, sondern auch einen nachgebildeten Strandabschnitt mit allerlei Treibgut, das man bei Spaziergängen so findet – alte Netze und Plastikkanister inklusive. Damit will Schaper Besucher, zu denen oft auch Schulklassen gehören, das Wattenmeer und die ökologische Bedrohung desselben näherbringen.
Der Hummer, den Schaper in seinem Aquarium hält, wird nicht in einem Kochtopf landen, möglichst soll er wie die anderen Tiere der Arche nach einer gewissen Zeit wieder ausgetauscht und ausgesetzt werden. Das unterscheidet ihn von jenen Exemplaren, die für Sascha Puric eine Lebensgrundlage sind.
Miesmuscheln direkt aus Sylt
Der Geschäftsführer vom Muschel-Bistro am Hafen baut gerade um, damit bei ihm noch mehr Gäste Seafood vom Feinsten genießen können. Neben Hummer und Fisch stehen dort vor allem Miesmuscheln auf der Karte, natürlich nicht irgendwelche, sondern die originalen Sylter Muscheln, die direkt von den Muschelbänken vor Hörnum stammen und viel mehr Fleisch haben als die mickrigen Verwandten, die man sonst bekommt.
Einer, der ebenfalls die blauschwarzen Miesmuscheln schätzt, ist Felix Gabel, junger Sternekoch im Kai3. So heißt im Hotel Budersand das Gourmetrestaurant, das er seit 2017 leitet. Damals war Gabel gerade erst ein paar Monate in den Diensten seines Vorgängers Jens Rittmeyer, als dieser sich entschloss, nach Buxtehude zu wechseln und fast das komplette Team mitzunehmen.
„Konnte mich gegen externe Bewerber durchsetzen"
Für Gabel zuerst ein Schock – und dann eine große Chance. „Ich konnte mich gegen externe Bewerber durchsetzen und habe mit meinem Netzwerk ein neues, hochmotiviertes Team aufgebaut. Wichtig war mir dabei immer, dass wir nicht nur exzellent kochen, sondern auch fair und freundlich miteinander umgehen.“ Und so überrascht es nicht, dass der Ton in der Sterneküche stets freundlich bleibt und das Wort „bitte“ auffallend häufig zu hören ist, ebenso wie „danke“.
Gabels Sieben-Gänge-Menü, das den Titel „Große Aromenreise“ trägt, kostet 168 Euro, als Fünf-Gänge-Version sind es 138 Euro. Wer fragt, bekommt gratis dazu die Entstehungsgeschichte der einen oder anderen Speise, denn nicht selten verbirgt sich ein besonderes Erlebnis des Chefkochs hinter der Kreation, so zum Beispiel bei der „Gangs of New York“ genannten Hummer-Maultasche mit Kanzuri-Mayo und Seeigel-Zitrus-Velouté: „Als ich in Amerika gearbeitet habe, bin ich nach einem langen Arbeitstag mit Kollegen noch nachts um die Häuser gezogen und auf Foodie-Touren gegangen. Dabei hat uns unser Chef einmal ein Restaurant vorgestellt, das du auf normalem Wege gar nicht finden würdest. Daran erinnert mich dieses Gericht.“
Ebert ließ ein Luxushotel entstehen
Spätestens hier zeigt sich: Hörnum ist heute alles andere als eine gastronomische Leerstelle, auch wenn die Zahl der Lokale nicht sehr groß ist. Das ist auch Claudia Ebert zu verdanken, Urenkelin des Wella-Gründers Franz Ströher. Sie investierte am Hörnumer Budersand nördlich des Hafens rund 50 Millionen Euro und machte 2009 aus dem zuvor unansehnlichen und mit Giften belasteten Areal ein Luxushotel mit schönem Golfplatz.
Statt für Reetdachromantik entschied sich die in Sylt verliebte Investorin für eine luftige Fassade mit Zedernholz-Elementen und, wie die lokale Presse lobte, „eine Aufteilung in vier mit Brücken verbundene Häuser, die viel Freiraum für Lichthöfe und Sichtachsen aufs Meer, den Naturgolfplatz und den Hafen schaffen“.
Jens Lund liefert Brote an Sternekoch
Das Haus und der Golfplatz ziehen zwar ein anderes Publikum an, als der Hörnumer früher gewohnt war, „es tut dem Ort aber gut“, wie auch Bistrowirt Lars Horn bestätigt. Da ist er sich mit Bäcker Jens Lund einig. Der liefert die Brote an Sternekoch Gabel, könnte ihm zur Not aber auch in der Patisserie unter die Arme greifen, schließlich hat er früher für Christoph Rüffer im Hamburger Hotel Vier Jahreszeiten gearbeitet.
Doch diese Zeit in Sterneküchen ist für Jens Lund vorbei, er hat lieber den Familienbetrieb übernommen und backt nun mit großer Sorgfalt und ganz speziellem Sauerteig. Lund ist aber nicht nur eine Bäckerei, sondern auch ein Café und abends ein Restaurant – und somit für jeden, der nach Hörnum kommt, fast schon eine Pflicht-Etappe.
Sylt: Hörnum bietet Ruhe und Natur
Ein anderes Hörnumer Original hingegen kann man nicht mehr erleben: die Robbe Willi, die über Jahre in den Hafen kam und sich am liebsten von den bei Matthiesen gekauften Fischen ernährte. Aber vielleicht ist bald Sylta wieder da, eine andere Robbe, die hier schon mehrfach gesehen wurde und offenbar Willis Platz einnehmen will.
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So treffend der Spruch von Karl Dall in den 90ern gewesen sein mag, so falsch wäre er heute. Hörnum ist längst ein touristisches Kleinod mit Strand von drei Seiten, mehr Ruhe und Natur als anderswo – und einer engagierten Community, in der jeder jeden kennt.