Vor vier Jahren ging die Kadettin Jenny Böken über Bord und ertrank. Die Umstände wurden nie aufgeklärt. Eltern sehen Ungereimtheiten.

Geilenkirchen. Marlis und Uwe Böken haben an dem Nachmittag viel über ihre Tochter Jenny gesprochen: Über die „Gorch Fock“, die vielen Fragen, auf die sie seit fast vier Jahren keine Antwort bekommen. Wie es ist, gegen eine „Wand des Schweigens“ zu rennen. Über ihre Zweifel am Rechtsstaat. Während des Gesprächs schienen Schmerz und Trauer sicher eingekapselt. Bis auf diesen einen Moment.

Früher sei er mit Begeisterung gesegelt, setzt Uwe Böken an. Er schluckt, schweigt und ringt. „Danach konnte er kein Schiff mehr betreten“, fährt Marlis Böken fort.

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Danach, das ist der 4. September 2008. Es war der Tag vor Jennys 19. Geburtstag. Die Familie wollte zu Hause mit ihr feiern. „Jenny ist verschwunden“, erinnert sich Marlis Böken an den ersten Satz ihres Mannes als sie mit einem Blumenstrauß für die Tochter nach Hause kam. „Wie, Jenny ist verschwunden?“, habe sie gefragt. So banal können Alpträume beginnen.

Jenny fiel nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft am 3. September gegen 23.43 Uhr 15 Kilometer vor Norderney in die Nordsee und ertrank. Die Behörde sprach zum Abschluss der Untersuchungen von einem „tragischen Unglück“.

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„Die Ursache für den Todesfall konnte nicht abschließend geklärt werden“, hatte Oberstaatsanwalt Uwe Wick damals festgestellt. Für Uwe Böken ist das wie lebenslänglich. Lebenslänglich gefangen im Gedankenkarussell, in den Fragen, die ihm niemand ausreichend beantwortet. Die Ehe hat dieser Extrembelastung nicht standgehalten.

Marlis Böken ist irgendwann ausgezogen aus dem Haus der Familie. „Männer trauern anders“, versucht sie eine Erklärung. Das Paar ist mittlerweile geschieden. Die 54-Jährige wohnt weiterhin in dem kleinen Ort Teveren bei Geilenkirchen. Sie lebt im Haus des früheren Kindermädchens von Jenny.

Das war eine andere Zeit. Im Wohnzimmer stapeln sich jetzt Berge von Akten und Unterlagen. Das wirkt, wie nicht angekommen sein. Die Aktenberge stehen in auffallendem Widerspruch zu der lichten freundlichen Foto-Ecke mit Bildern von Jenny.

Das letzte Foto der Tochter steht auf einem Tischchen. Es war auf dem Speicherchip ihrer Kamera: Eine junge unbeschwerte Frau. Das Gesicht ist braungebrannt. Sie lacht in die Kamera. Die langen blonden Haare sind vom Wind zerzaust. Glück. Freude. Zuversicht. Es ist der 3. September 2008, an Deck des Segelschulschiffes „Gorch Fock“. Sie hat frei an dem Nachmittag. In der Nacht wird sie Wache haben, auf dem „Postenausguck“ ganz vorn, wo man nach anderen Schiffen Ausschau hält.

An der Wand dahinter das Kind mit seinen beiden Brüdern, die heranwachsende hübsche junge Frau mit ihrem Freund, im Ballkleid bei einer Hochzeit, im Matrosenanzug – lachend, schön, stolz, nachdenklich.

„Man weiß nicht, was passiert ist. Aber es war ein Unfall.“ Uwe Böken formuliert den Schluss der Staatsanwaltschaft betont sachlich. Er ist Schulleiter einer Gesamtschule in Geilenkirchen, seine Frau ist Lehrerin. Den Schülern erklären sie die Grundlagen des Rechtsstaats. An dem zweifeln die Bökens zunehmend.

X-mal haben die beiden in den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft gelesen, insgesamt 2000 Seiten. Sie haben nach Erklärungen gesucht und sind auf Sachverhalte gestoßen, die sie für widersprüchlich halten. Die Eltern nennen nur einige, die sie aus der Akte herauslesen.

In jener Septembernacht erschallt um 23.43 Uhr der Ruf „Mann über Bord“. Da ein Mensch akut in Lebensgefahr war, hätte über Sprech- und Datenfunk das dringlichste Notsignal „Mayday“ gegeben werden müssen, sagt Uwe Böken: „Zu der Zeit war Krabbensaison. Ich weiß, dass über 40 Fischerboote in der Gegend waren, die sicher alle bei der Suche geholfen hätten.“ Stattdessen habe die „Gorch Fock“ laut Akte das abgeschwächte Notsignal „Pan-Pan“ gegeben, üblich bei einem zweitrangigen Notfall, etwa einem technischen Defekt. „Warum?“

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Aber selbst wenn fremde Schiffe hätten helfen wollen – sie wären nicht in der Lage gewesen, erklärt Böken. Aus den Akten gehe hervor, dass die „Gorch Fock“ kurz nach dem Unfall ihren Funkrufnamen ausgeschaltet habe, das sei so was wie der Absender-Name im Funk. Die „Gorch Fock“ selbst habe nach nur einer dreiviertel Stunde ihre Fahrt fortgesetzt.

Die Leiche von Jenny Böken trieb elf Tage im Wasser. Sie sei 120 Kilometer nordwestlich von Helgoland entdeckt worden, wo niemand sie aufgrund der Strömung vermutet habe, sagt Marlis Böken. Jenny sei mit Uniformhose und T-Shirt bekleidet gewesen. „Aber, wo waren die Schuhe?“ Schnürstiefel, die über die Knöchel reichen und die man nach Meinung der Eltern beim Kampf gegen das Ertrinken nicht einfach mal abstreifen kann.

Die Pressestelle der Staatsanwaltschaft Kiel antwortet nicht konkret auf Fragen zu diesen Aspekten. Stattdessen schickt sie die alten Pressemitteilungen der vergangenen Jahre zu dem Fall. Darin hatte sie den Eltern schon in anderen Punkten widersprochen. „Mit Rücksicht auf die Persönlichkeitsrechte werden aus den Akten keine weiteren Angaben gemacht“, schreibt die Pressesprecherin, Oberstaatsanwältin Birgit Heß.

„Man muss den Eindruck gewinnen, dass es Institutionen gibt, die an der Aufklärung nicht das geringste Interesse haben“, sagt Uwe Böken. Der Fall Jenny Böken sei bei der Bundeswehr wohl Verschlusssache.

In der zivilen Seefahrt untersucht die Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung (BSU) Unfälle auf See. Die sehr ausführlichen Unfallberichte sind im Internet für jeden einsehbar. Für einen Zwischenfall auf einem rein militärischem Fahrzeug ohne Beteiligung ziviler Fahrzeuge sei die BSU nicht zuständig, sagt ein Sprecher. Im Fall Jenny Böken hat die Staatsanwaltschaft Kiel nach eigenen Angaben den Verdacht einer Straftat geprüft. Die habe nicht vorgelegen.

Parallel habe die Marine über ihren Beauftragten für Havarieuntersuchungen in Rostock den Unfall untersucht. Im Fall Böken sei es Kapitän zur See Michael Brühn gewesen. Brühn war der Vorgänger von „Gorch Fock“-Kommandant Norbert Schatz.

Die Bökens sollten doch Ruhe geben und endlich die Geschichte mit ihrer Tochter verarbeiten, ist manchmal zu hören. „Dazu müssen wir wissen, was wir verarbeiten sollen“, sagt Uwe Böken. Er und seine Ex-Frau strengen seit Jahren ein juristisches Verfahren nach dem anderen an – und haben auf der ganzen Linie verloren. Nun haben sie beim Bundesverfassungsgericht geklagt. Werden sie irgendwann mal Ruhe geben: „Nein“, antworten sie bestimmt wie aus einem Mund. Nicht bevor sie Antworten auf ihre Fragen haben.

Marlis Böken hat die „Jenny-Böken-Stiftung“ gegründet, die Hinterbliebenen von Bundeswehrsoldaten hilft. Für sie lebt die Tochter in der Stiftung weiter – irgendwie. Sie hat versucht, Kontakt aufzunehmen zu einer anderen Mutter, die ihre Tochter auf der „Gorch Fock“ verlor.

Die 25-jährige Sarah Lena Seele war im November 2010 beim Aufentern aus der Takelage 27 Meter tief in den Tod gestürzt. Auch hier war die genaue Todesursache nicht geklärt. Sarahs Familie hatte ebenfalls vergeblich Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung gestellt. Die andere Mutter hat sich nicht gemeldet.

Ein paar Fußminuten von seiner Ex-Frau entfernt öffnet Uwe Böken die Haustür. Hier lebt er mit seinen beiden Söhnen Sven und Björn. Er holt das Tagebuch von Jenny. Die Marine hat es zugeschickt. „Ich habe es zwei Jahre nicht in der Hand gehabt.“ Das Büchlein mit dem unempfindlichen schwarzen Einband lag lange in einem selten genutzten Zimmer. Der letzte Eintrag ist vom 3. September 2008, Szenen aus dem Bord-Alltag.

Bilder der letzten Jahre von Uwe Böken sind verblasst. Auch die Bilder vom Tod seiner Eltern. „Aber das mit Jenny ist so präsent, als wäre es gestern gewesen. Es entfernt sich nicht.“

Jenny liegt auf dem Dorffriedhof. Von der kleinen Straße aus ist es eines der ersten Gräber. Auf dem schwarzen Stein steht ein Flaschenschiff. Es war ein Geburtstagsgeschenk. Jetzt ist es Gedenken. Klein und zerbrechlich steht es auf schwarzem Stein.

Auch die „Gorch Fock“ ist da. Sie ist fein wie eine Grafik in Stein gehauen. Mit vollen Segeln peitscht der Dreimaster durch die schäumenden Wellen. „Jenny ist mit Feuer und Flamme auf das Schiff gegangen“, sagt Böken. Er und seine Ex-Frau wollten dem Schiff nichts. Sie suchten auch keinen Schuldigen.

Aber sie wollen wissen, was passiert ist. In Stein gehauen steht ein Spruch des Schriftstellers Gorch Fock in Niederdeutsch. Übersetzt heißt er: „Über dem Leben steht der Tod und über dem Tod steht das Leben.“ Jenny hatte großes Gottvertrauen, sagt der Vater. (dpa)