Lesen Sie hier, was der Norderstedter Arne Hentschel als Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks bei seinem Einsatz an der jordanisch-syrischen Grenze erlebt. Ein Blog aus dem Krisengebiet.

Am nächsten Morgen fahren wir wieder ins Camp zurück. Manchmal kommt in der Nacht der Ersatzmann für einen eben verabschiedeten Kameraden. Der ist „der Neue“. Er sitzt in unserem Geländewagen und hört interessiert unsere Erklärungen zum Camp an. Wir alle kennen seine Gedanken, seine Aufregung, seine Erwartungen. Vor wenigen Wochen saß ich auf seinem Platz.

Man lernt sich etwas kennen und „beschnuppert sich“. Was kann der Neue? Wo kommt er her? Was denkt er? Wird er den verabschiedeten Kameraden ersetzten können? Ja, er wird! Wir alle haben die gleiche Ausbildung beim THW durchlaufen. Er ist Fachmann auf seinem Gebiet, sonst wäre er nicht hier. Dennoch ist die Neugierde auf ihn groß. In wenigen Tagen haben sich alle Fragen erübrigt. Er wird in kürzester Zeit ein fester Teil unseres Team sein.

Wir erreichen das Camp. Alle seine Vorstellungen und Erwartungen werden in dem Moment der Einfahrt durch das Haupttor über den Haufen geworfen. Das Bild, welches einem hinter dem Tor begegnet, sprengt alle Vorstellungen. Nur aus Berichten kann sich niemand diese Dimension vorstellen. Im Moment der Tordurchfahrt betreten wir eine andere Welt. Wir lassen das bezaubernde Land Jordanien hinter uns und tauchen in die Welt der Tragödien und Schicksale ein.

Za’atari ist für die Flüchtlinge auch die Stadt der Hoffnung. Hoffnung, nicht von der Welt vergessen zu werden. Hoffnung auf einen Ausweg aus dem Leid und auf ein baldiges Ende des Syrienkonfliktes. Darauf hoffen alle, denn dann können sie wieder zurück in ihre Heimat gehen, wie die Kameraden beim Abschied am Vorabend.

Für die Neuen gibt es einen festen Ablauf. Als Erstes gibt es eine umfangreiche Sicherheitseinweisung. Er muss sich mit den wichtigsten Sicherheitsregeln auskennen, um für den „Fall der Fälle“ vorbereitet zu sein. Was immer dieser Fall sein wird, das gesamte Team könnte von seinem Verhalten abhängig sein. Er trägt schon jetzt eine große Verantwortung, dabei ist er eben erst angekommen. Anschließend geht es zur großen Vorstellungsrunde. Er lernt nur den Innenbereich von Za’atari kennen. Wir zeigen ihm die Krankenhäuser, die Sicherheitsbereiche, die Lagerhäuser und unsere Baustellen. Hier lernt er die restlichen Kameraden und unsere lokalen Mitarbeiter kennen. Auf dem Weg zu den einzelnen Stationen lernt er jedoch das Wichtigste kennen: die Bewohner von Za’atari. Er sieht ihr reges Treiben auf der Einkaufsstraße, ihre ideenreichen Umbaumaßnahmen von Zelten und Containern. Er sieht die Kinder beim Spielen, die Menschen beim Beten. Er sieht sie lachen und weinen.

Jeden Tag staune ich erneut über diese riesige Zeltstadt inmitten der Wüste. Za’atari ist zu einer ungeahnten Größe gewachsen. Mehr als 120.000 Menschen überleben hier und müssen versorgt werden. Sie haben einen natürlichen Bedarf an Schulen, Krankenhäusern, Behinderteneinrichtungen und einen Platz für ihren Glauben. Besonders der Glaube ist für die Menschen wichtig. Oft ist es das Einzige, was ihnen geblieben ist.

Jeden Tag werden Tonnen an Brot und Lebensmitteln ins Camp gefahren. In der kargen Gegend von Za’atari gibt es nichts, außer ein paar Olivenplantagen. Selbst das Trinkwasser führen wir mit Lkw zu. Hier gibt es keinen Brunnen, die wir nutzen können. Es gibt nur Sand und Wind.

Deshalb blüht der Handel in der Mainroad. Hier können sich die Menschen von ihrem wenigen Geld das Notwendigste kaufen. Die Mainroad ist die Hauptader von Za’atari. Dicht an dicht reihen sich die kleinen Blechläden aneinander. Notdürftig zusammengeschraube Buden, die kaum den nächsten Sturm überstehen, bieten Waren jeder Art. Decken, Schuhe, Tomaten oder Kaffee. Alles gibt es in der Mainroad. Eine Konzession für ein Geschäft zu bekommen, ist kaum möglich. Keiner möchte hier seine Einnahmequelle hergeben.

40 Grad

Inzwischen übersteigen wir die 40 Grad-Marke regelmäßig. Nur die Zelte spenden einen kleinen Schatten, der den Menschen etwas Schutz vor der Sonne gibt. In den Zelten ist die Temperatur deutlich höher. Bei diesen Temperaturen kommt das Leben im Camp fast zum Erliegen. Die Mittagssonne brennt unerbittlich. Unsere Teams müssen die Arbeit einstellen. Erst am frühen Nachmittag können wir die verlorene Zeit wieder einholen.

Wir hatten hohen Besuch aus Deutschland. Frank-Walter Steinmeier machte sich unter hohem Sicherheitsaufgebot ein Bild von der Lage. Er ließ sich die aktuelle Situation vom UNHCR-Campleiter Kilian Kleinschmidt erklären und informierte sich über die Arbeit des THW. Za’atari ist von weiteren Geldern aus Deutschland abhängig. Die aktuelle Entwicklung der Syrienkrise deutet eindeutig auf viele weitere Monate in der Wüste hin. Die Planungen und Bauarbeiten für ein weiteres Camp laufen auf Hochtouren. Wir haben unser Team dafür um weitere Kameraden aufgestockt.

Nun lebe ich neun Wochen zwischen den Kulturen in Jordanien. Als deutscher Helfer in Jordanien für Flüchtlinge aus Syrien. Unsere lokalen Mitarbeiter kommen aus Jordanien, Syrien, Palästina, Libanon, Iran und Ägypten. Mit Stolz arbeiten sie für uns. Für diese Menschen ist es eine Ehre, für eine deutsche Regierungsorganisation zu arbeiten. Ich habe unter ihnen viele tolle Menschen kennengelernt. Habe versucht, ihre Kultur zu verstehen, und sie haben versucht, etwas über Deutschland zu lernen. Diese gegenseitige Bereicherung hätte ich als Tourist wahrscheinlich nie erfahren. Mein Wissen über Jordanien, Syrien und den Bürgerkrieg hätte ich mir aus den Nachrichten gebildet. Ich habe die Möglichkeit, hinter die Kameras zu schauen. Ich sah Menschen und ihre Verletzungen, die traumatisierten Frauen und Kinder. Männer, die ihre Familien nachts brachten und nun wieder in den Krieg ziehen. Menschen, die in dieser unwirklichen Welt versuchten, die Zeit bis zum Frieden zu überstehen. Ich sah aber auch Hoffnung. Mutter mit ihren Neugeborenen. Täglich kommen hier acht bis zehn in der zur Welt. Sah, wie die Menschen sich über die Eröffnung der von Deutschland finanzierten Schule freuten, oder die großen Hochzeitsgemeinschaften.

In den Organisationen fand ich Menschen aus aller Welt, die für ein gemeinsames Ziel arbeiten. Das Ziel lautet, 120.000 Syrern beim Überleben zu helfen. Ohne mehr Spenden wird dieses Ziel immer schwerer zu erreichen sein. Wir können den Menschen finanziell helfen. Die tätigen Organisationen sind gut und investieren die Spenden an den richtigen Stellen.

Meine Zeit ist nun vorbei. Ich packe meine Sachen und werde kurz vor meiner Abreise meinen Namen von der Tafel wischen. Ich reise mit verschiedenen Gefühlen heim. Freude auf die Heimat und die Familie, aber auch mit Tränen in den Augen für die Menschen, die in dieser ungewissen Zukunft verbleiben. Welchen Weg wird das Land gehen? Breitet sich der Syrienkonflikt auch auf Jordanien aus? Die Zukunft geht auf einem schmalen Grad.

Meine Arbeit ist beendet, und mein Nachfolger wird meine Aufgabe weiterführen. Die Bewohner von Za’atari nehme ich in meinen Erinnerungen mit. Ich war neun Wochen ein Teil von ihnen. Sie gaben wir etwas, was mir nie wieder jemand nehmen wird.

Ich nehme meinen Rucksack und fahre in meine Heimat. Sie bleiben hier, weil ihre Heimat in einem der schlimmsten Bürgerkriege untergeht. Ihre Heimat ist nun die Wüste von Jordanien, und sie sind die Bewohner von Za’atari.