Geesthacht/Bergedorf. „150 Jahre BZ“: 1983 verlaufen Aktionen gegen den Atommeiler bei Geesthacht noch recht friedlich. Und der HSV ist die Nr. 1 in Europa.
Der HSV ist die Nummer eins in Europa, gewinnt erst den Europapokal der Landesmeister und später zum sechsten Mal die Deutsche Fußball-Meisterschaft. Die Stimmung im Land ist derweil geprägt vom Kalten Krieg. Wegen der geplanten Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik im Zuge des Nato-Doppelbeschlusses demonstrieren landesweit über eine Million Menschen für Frieden und Abrüstung. Die Grünen ziehen zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag ein und Helmut Kohl (CDU) wird Bundeskanzler. All das passierte im Jahr 1983, von dem der heutige Teil unserer Serie „150 Jahre bz“ handelt.
In unserer Region sorgen sich zu der Zeit viele Menschen vor einem atomaren Unfall. Am 14. September nimmt das Kernkraftwerk Krümmel mit der Erprobungsphase den Betrieb auf. Ab 1984 speist der „größte Atomkochtopf der Welt“ (BZ/LL vom 17./18. September) dann Strom ins Netz. Alle Proteste der Atomgegner waren somit vergeblich. Doch nicht immer blieb es so friedlich, wie bei der letzten großen Demo mit 2000 Teilnehmern am 13. Juni vor Inbetriebnahme.
150 Jahre bz: Kernkraftwerk Krümmel geht trotz Protesten ans Netz
„Mit Steinen schmiss bei der Demo nur er: Jörn-Peter (1)“ – stand unter einem Foto in unserem Zeitungsartikel, das einen kleinen Jungen beim Spielen zeigte. Dabei handelte es sich um den Sohn von Bettina und Gerhard Boll, die sich seit Anfang der 1980er-Jahre in der Protestbewegung engagieren. Das Material dazu haben sie bei sich zu Hause in einem Widerstandsarchiv zusammengetragen, das ein ganzes Zimmer füllt.
„Unser Ansatz war immer: Gewalt hilft uns nicht weiter“, sagen sie. Doch friedlich blieb es bei den nahezu jährlichen Demonstrationen nicht immer. 1981 hat die Polizei etwa bei heftigen Protesten Wasserwerfer eingesetzt. Am 25. Januar 1985 sprengt eine unbekannte Gruppe, die sich „Hau weg den Scheiß“ nennt, mit selbst gebauten Sprengsätzen zwei Strommasten im Hasental, die zum AKW führen, und beschädigt einen dritten. Damit ist Krümmel kurz lahmgelegt.
Fertigstellung des Kernkraftwerks zieht sich jahrelang hin
Ehe der größte Siedewasserreaktor der Welt stand, waren Jahre ins Land gegangen. Schon 1968 kaufte die HEW von der Dynamit Nobel AG das 80 Hektar große Grundstück am heutigen Standort. Die ersten Arbeiten begannen 1974, wenig später formierte sich der Widerstand vor Ort. Die Fertigstellung konnte damit aber nur hinausgezögert werden. Auch die Kosten stiegen von anvisierten 1,6 auf 3,5 Milliarden D-Mark.
Gesprächsbedarf gibt es 1983 immer noch, auch in den umliegenden Gemeinden. Die Bergedorfer Bezirksversammlung vermisst ausreichende Informationen über Maßnahmen im Katastrophenfall, in Schwarzenbek berichtet ein Arzt des DRK, dass die Krankenhäuser in der Region nicht auf einen Strahlenunfall vorbereitet seien. Apropos Krankenhaus: Beim Neubau des Johanniter-Krankenhauses in Geesthacht wird im Dezember 1983 Richtfest gefeiert.
Kernkraftwerk bringt Arbeitsplätze und Steuereinnahmen
Die Kernkraftwerk-Betreiber versuchen die Bevölkerung mit ganzseitigen Anzeigen, in denen sie auf Sicherheitsfragen eingehen, zu besänftigen. Wobei es in Geesthacht auch viele Fürsprecher gibt. Denn das AKW bescherte der Stadt Arbeitsplätze und viele Steuereinnahmen.
Gleichwohl prägt das Kernkraftwerk in den Jahren bis zu seiner endgültigen Abschaltung im Jahr 2011 auch das Image der Elbestadt. „Nirgends stand ein AKW so dicht an einer Stadt“, sagt Bettina Boll, die im Ortsteil Krümmel geboren ist. Bis ins Geesthachter Stadtzentrum sind es nur vier Kilometer.
Themen des Jahres: Hitler-Tagebücher und AIDS
Auch der Atomunfall in Tschernobyl 1986 und die ungeklärten Leukämie-Fälle in der Elbmarsch, wo ab 1990 allein 18 Kinder erkrankten (ein statistisch dreifach erhöhter Wert), machten Geesthacht als Wohnort unbeliebt. Das ist heute ganz anders. Mittlerweile ist die Stadt zur zehntgrößten in Schleswig-Holstein aufgestiegen. „Der Einsatz hat sich gelohnt“, zieht Bettina Boll heute ein zufriedenes Fazit ihres jahrelangen Kampfes mit jährlichen Demonstrationen auf der einen und Klagen gegen Krümmel auf der anderen Seite.
Doch es gibt im Jahr 1983 noch mehr Schlagzeilen: Der „Stern“ blamiert sich mit der Veröffentlichung vermeintlicher Hitler-Tagebücher, die sich später als Fälschung entpuppen. Die Immunschwächekrankheit AIDS tritt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit und Aerobic wird zur Massenbewegung. Zivildienstverweigerer können fortan auch schriftlich den Wehrdienst verweigern. Und Udo Lindenberg bringt den „Sonderzug nach Pankow“ heraus, samt Auftritt in der DDR. Tennis-Star Björn Borg verkündet seinen Rücktritt, während in Deutschland „Albatros“ Michael Groß und Zehnkämpfer Jürgen Hingsen Weltrekorde aufstellen.
Christine Steinert wird Bergedorfs „Bürgermeisterin“
Bergedorf braucht derweil einen neuen Bezirksamtsleiter, weil Jörg König (SPD) unter dem Ersten Bürgermeister Klaus von Dohnanyi zu Hamburgs Finanzsenator berufen wird. Einer der gehandelten Nachfolger ist der spätere Geesthachter Bürgermeister Peter Walter (1988-2000). Stattdessen wird mit Christine Steinert die erste Frau Bergedorfs Bezirksamtsleiterin – und bleibt das bis 2001.
In Geesthacht wiederum wird Karsten Ebel (CDU) zum Nachfolger des im Vorjahr verstorbenen Siegfried Weiße gewählt. In Glinde stirbt Bürgermeister Karlheinz Friederici am 12. Dezember 1983 an den Folgen eines Hirntumors kurz nach seinem 51. Geburtstag. Im September wird der Glinder Michael Rohrbacher 100 Jahre alt. Zu den Gratulanten zählt auch Ex-Kanzler Helmut Schmidt, denn Rohrbacher ist ein treuer Genosse und seit 81 Jahren in der SPD.
1983 ist Bergedorf im Rollschuh-Fieber
In Sachen Verkehr werden die Hamburger Randgebiete besser erschlossen. Die S-Bahn-Linie nach Harburg wird eingeweiht und im Oktober wird verkündet, dass die A25, die bislang an der Hamburger Stadtgrenze endet, ab 1985 bis nach Geesthacht weitergebaut werden soll. Und an der A24 wird die Autobahnraststätte Gudow, die letzte vor der DDR, eröffnet. In Bergedorf wird die Alte Holstenstraße zur Fußgängerzone umgebaut.
Der Bezirk ist im Rollschuh-Fieber. Die Rollerdisko im Gewerbegebiet Boberg an der Osterrade verzeichnet schon 14 Tage nach der Öffnung am 4. März 20.000 Besucher. Bei der Faschingsparty LiLaBe im Februar feiern 10.000 Gäste. 35.000 Bergedorfer beteiligen sich an einer Unterschriftenaktion für den Erhalt des AK Bergedorf. Infrage steht auch die Zukunft der Elbfähre Zollenspieker, bis schließlich am Jahresende Karl-Heinz Büchel als Fährmann übernimmt.
Hitzler-Werft erhält heutige Schiffbauhalle
In Glinde wird im Oktober der historische Glinder Gasthof abgerissen, Aumühle stimmt für den Bau des Augustinum Senioren-Wohnheims (Baubeginn 1984), in Geesthacht wird der Neubau des Otto-Hahn-Gymnasiums fertig und in Lauenburg bekommt die Hitzler-Werft durch Verkleidung ihrer Helgen-Anlage ihre heutige Schiffbauhalle.
Der Reinbeker Rowohlt-Verlag und die Wilhelm Fette GmbH in Schwarzenbek feiern 75-jähriges Bestehen. In Schwarzenbek erinnert ab sofort der umbenannte Ritter-Wulf-Platz an die Anfangsphase der Dorfgeschichte. Das Rittergeschlecht Wulf von Swartenbeke wird schon 1291 bei der ersten urkundlichen Erwähnung genannt.
Vorbestrafter Geesthachter erwürgt Geliebte
Rührend: Die Bergedorfer Ernst Priehn (damals 70) und Ernst Krassau (73), die seit 60 Jahren befreundet sind, wollen nach einem halben Jahrhundert die Reise ihres Lebens wiederholen. Als junge Männer waren sie mit dem Rad an den Bodensee und zurück gefahren. Gemeinsam kommen sie nur bis Niedersachsen: Der ältere muss aus gesundheitlichen Gründen aufgeben.
Traurig: Im April stirbt ein Sprengmeister bei einer Explosion auf dem Polizei-Gelände in Altengamme. Ende September tötet ein wegen Totschlags vorbestrafter Geesthachter seine Geliebte. Er wird erst nach Tagen auf der Elbinsel am Stauwehr im Auto neben der toten Freundin gefunden. Im Mai hatte ein Mann sich und seine MS-kranke Frau erschossen, weil das Paar den Söhnen die hohen Kosten für die Unterbringung der Frau im Heim ersparen wollte.
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Kindstötung schockiert Lauenburg
In Lauenburg schockiert der Fall einer Kindstötung die Öffentlichkeit. Erst als sie nicht zur Schule angemeldet wird, fällt auf, dass der kleinen Melanie etwas zugestoßen ist. Im Prozess räumt die Mutter ein, dass sie das Kind schon 1979 erwürgt hatte. Erst versteckte sie die Leiche jahrelang in der Wohnung und entsorgte sie später auf einer Müllkippe.
Doch zurück zu erfreulichen Ereignissen im Jahr 1983: Die B-Jugend-Fußballer mit dem späteren Profi Marcus Marin schreiben Geschichte, indem sie sich als erstes Team aus der Region für die deutsche Meisterschaft qualifizieren. Geschichte schreibt, wie eingangs erwähnt, auch der HSV. Der amtierende und spätere neue Bundesliga-Meister spielt gleich zu Jahresbeginn mit allen Stars wie Uli Stein, Manfred Kaltz, Felix Magath und Horst Hrubesch in der Region. Das Testspiel vor 2500 Zuschauern beim Verbandsligisten VfL Geesthacht endet mit 6:1.