Geesthacht. Am. 11. März 2011 besiegelt ein Erdbeben in Japan den deutschen Atom-Ausstieg. AKW vom Netz, aber längst noch nicht zurückgebaut.

Februar 2011. Bei den Geesthachtern Bettina und Gerhard Boll, die zu diesem Zeitpunkt seit 30 Jahren engagiert gegen das Kernkraftwerk Krümmel (KKK) kämpfen, laufen die Vorbereitungen zur üblichen Protestaktion anlässlich des Jahrestags der Katastrophe von Tschernobyl. Diesmal soll es etwas ganz Besonderes sein. Schließlich jährt sich der ukrainische Super-GAU am 26. April 2011 zum 25. Mal.

Die Geesthachter Grünen-Politiker Bettina und Gerhard Boll engagieren sich seit 1981 gegen das Atomkraftwerk Krümmel. In ihrem Haus füllen Andenken an ihre Protestaktionen ein ganze Zimmer.
Die Geesthachter Grünen-Politiker Bettina und Gerhard Boll engagieren sich seit 1981 gegen das Atomkraftwerk Krümmel. In ihrem Haus füllen Andenken an ihre Protestaktionen ein ganze Zimmer. © Privat

Die Pläne der Umweltaktivisten von „Robin Wood“ für eine konzertierte Aktion an mehreren AKW lehnt Bettina Boll ab. „Sie wollten eine Atomkatastrophe nachahmen, bei der am Ende alle in einem ,Die-In’ (Wortspiel mit Sit-In, Anm. die Red.) so tun sollten, als würden sie sterben. ,Nee’, habe ich gesagt: Hier in Krümmel machen wir eine Kehrtwende. Alle sollten sich gleichzeitig vom AKW wegdrehen“, blickt Boll zurück.

Zehn Jahre nach Fukushima: Der Tag, der Krümmels Aus einläutete

Eine Kehrtwende! Genau diese sollte wenig später auch Kanzlerin Angela Merkel vollziehen. Nämlich die Kehrtwende zum Ausstieg aus der Atomenergie.

Der Anlass dafür war die Nuklearkatastrophe von Fukushima, die heute vor zehn Jahren, am 11. März 2011 mit einem Erdbeben seinen Anfang nahm. In der Folge überschwemmte ein Tsunami das Kernkraftwerk an der japanische Ostküste und führte zu Kernschmelzen in mehreren Reaktorblöcken.

Der größte Siedewasserreaktor der Welt geht nie wieder ans Netz

Ingo Neuhaus erinnert sich genau an diesen Tag. Erst ein Jahr zuvor war er aus Bayern mit der Perspektive nach Tesperhude gezogen, dass er mittelfristig einmal die Leitung im KKK übernehmen würde. „Als ich die Nachrichten hörte, die Lage aber noch unklar war, habe ich mich persönlich etwas beunruhigt gefühlt. In der Mittagspause waren die Sorgen bezüglich meiner beruflichen Karriere dann schon größer und als ich von den massiven Kernschmelzen hörte, ahnte ich, dass es mit den Laufzeitverlängerungen wohl nichts wird“, sagt der heute ­49-Jährige.

Mit diesen hatte die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung den Atomausstieg aus der Ära Gerhard Schröder auf die lange Bank schieben wollen. Der größte Siedewasserreaktor der Welt in Krümmel hätte demnach mindestens bis 2031 Strom liefern können. „Dass er nie wieder angefahren würde, hätte ich mir nicht vorstellen können“, räumt Neuhaus ein, der das KKK nie im Betrieb erlebt hat.

Trafobrand und Leukämie-Fälle prägten Krümmels Betriebszeit

Das Feuer im Trafohaus in Krümmel am 28. Juni 2007 leitete das Ende des größten Siedewasserreaktors der Welt ein. Der Brand bewirkte eine Schnellabschaltung und löste eine Pannenserie aus.
Das Feuer im Trafohaus in Krümmel am 28. Juni 2007 leitete das Ende des größten Siedewasserreaktors der Welt ein. Der Brand bewirkte eine Schnellabschaltung und löste eine Pannenserie aus. © dpa | Kay Nietfeld

Denn bereits seit dem Brand im Trafohaus am 28. Juni 2007, als eine schwarzen Rauchwolke den Meiler vernebelte, stand die Anlage überwiegend still. Es war der spektakulärste der 313 Ereignisse, die seit der Inbetriebnahme am 14. September 1983 an die Atombehörden gemeldet werden mussten. In den 1990er-Jahren hatte Krümmel im Mittelpunkt einer nie dagewesenen und bis dato ungeklärten Häufung von Leukämie-Fällen bei Kindern gestanden.

Das Aus von Krümmel riss derweil ein großes Loch in Geesthachts Stadtkasse. Lange Zeit war das KKK der größte Steuerzahler der Stadt und sicherte in der Spitze über 500 Arbeitsplätze. „In diesem Punkt hat Geesthachts Image damit gewonnen. Vorher gab es ja viele Menschen, die wegen des Kernkraftwerks nicht hierher ziehen wollten“, sagt Bürgermeister Olaf Schulze. Die Fukushima-Katastrophe erlebte er als damaliger energiepolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion in Kiel. „Die Bilder haben mich entsetzt“, so Schulze.

Deutschland zahlt rund 2,428 Milliarden Euro Entschädigung

Obwohl der Beschluss zum Atomausstieg zügig nach Fukushima beschlossen wurde, ziehen sich die rechtlichen Auseinandersetzungen mit den Betreiberfirmen der AKW bis heute hin. Erst kürzlich verständigte sich die derzeitige Bundesregierung mit den betreffenden Energieversorgern über einen finanziellen Ausgleich und die Beilegung aller Rechtsstreitigkeiten. Insgesamt zahlt Deutschland rund 2,428 Milliarden Euro.

„Die geeinigten Entschädigungssummen stellen zwar eine weitere Belastung für die Allgemeinheit dar. Im Gegenzug wird allerdings Rechtssicherheit geschaffen, die in der Vergangenheit fahrlässig riskiert wurde“, stellt ­Nina Scheer, die SPD-Bundes­tagsabgeordnete des Wahlkreises Herzogtum Lauenburg/Stormarn Süd, klar.

Beim Krümmel-Rückbau kommt erneut Ingo Neuhaus ins Spiel

Derweil steht die Genehmigung zum Abbau von Krümmel noch aus. Vattenfall hatte 2015 den Antrag gestellt und erwartet die Entscheidung. Beim Rückbau der Anlage kommt wieder der verhinderte Kraftwerksleiter Ingo Neuhaus ins Spiel.

Ingo Neuhaus ist technischer Direktor bei Vattenfall und wollte eigentlich mal Leiter der Anlage in Krümmel werden.
Ingo Neuhaus ist technischer Direktor bei Vattenfall und wollte eigentlich mal Leiter der Anlage in Krümmel werden. © Vattenfall | Bengt Lange

Er ist inzwischen als technischer Direktor für den Abbau von Brunsbüttel und Krümmel zuständig. Für diese Rolle hatte er sich wegen seiner Erfahrungen in Garching empfohlen. „Wenn man emotional nicht zu sehr mit der Sache verbandelt ist, kann das eine spannende Sache sein. Anders ist es natürlich für Kollegen, die eine lange Betriebszeit miterlebt haben“, sagt Neuhaus.

Von einst 330 Mitarbeitern sind heute noch knapp 200 geblieben

Von rund 330 Vattenfall-Mitarbeitern, die vor zehn Jahren im KKK arbeiteten, sind heute noch knapp 200 übrig geblieben. Auch in der Nachbetriebsphase ist eine kontinuierliche Überwachung der Betriebssysteme erforderlich.

Zudem werden vorbereitende Arbeiten für den Abbau durchgeführt. Derzeit werden etwa 507 Fässer mit Filterkonzentraten in sogenannte Konrad-Container umgefüllt. Diese schwach- und mittelradioaktiven Abfälle sollen später ins Bundesendlager Schacht Konrad „umziehen“ und machen etwa zwei Prozent der Abbaumasse in Krümmel aus. Das wird nicht vor 2027 sein.

Endlager für radioaktive Abfälle wird noch gesucht

Bis es soweit ist, werden sie in einem Zwischenlager „geparkt“, das derzeit im rückwärtigen Bereich der Anlage gebaut wird. Dagegen bleiben 42 Castoren wohl noch länger im Standortzwischenlager. Denn ein Endlager für hoch radioaktive Abfälle muss erst gefunden werden. Beide Zwischenlager werden von einer bundeseigenen Gesellschaft betrieben.

Die Reaktor in Krümmel wird derweil von innen nach außen zurückgebaut. Von außen tut sich also zuletzt etwas.

Bis zur grünen Wiese in Krümmel dürften noch gut 15 Jahre vergehen

Das erste große Projekt wird die Zerlegung und Verpackung der Einbauten des Reaktordruckbehälters sein. Die Arbeiten an den Komponenten, die sich beim Leistungsbetrieb in unmittelbarer Nähe zu den Brennelementen befanden, finden unter Wasser statt, um die Mitarbeiter vor der Strahlung zu schützen.

Bis es in Krümmel wieder eine grüne Wiese gibt, dürften nach Beginn des Abbaus etwa 15 Jahre ins Land gehen. „Es gibt also doch noch genug zu tun, bevor ich in Rente gehe“, erklärt der 49-jährige Ingo Neuhaus, der inzwischen in Witzhave lebt, mit Geesthacht aber immer positive Erinnerungen behält. „Hier habe ich geheiratet, und hier ist unser Kind zur Welt gekommen“, betont Neuhaus, der Kernenergie immer noch für eine sinnvolle Option bei der Energiewende hält.

Aber: „Aber ich kann verstehen, dass Atomenergie politisch und gesellschaftlich seit Fukushima in Frage gestellt wird.“ Bettina und Gerhard Boll haben dies immer getan.