Lüneburg. Mit Tourette oder Epilepsie ins Theater? Das trauen sich die wenigsten. In Lüneburg ist das jetzt anders – und das Ergebnis überrascht.

  • Das Tourette-Syndrom geht mit verschiedenen Tics einher – von Zuckungen bis hin zu wüsten, unkontrollierbaren Beschimpfungen
  • Wer dieses Syndrom hat, meidet Situationen, in denen sich andere Menschen von der eigenen Behinderung gestört fühlen könnten
  • Doch das wiederum verhindert gesellschaftliche Teilhabe – für die Betroffenen ein elender Teufelskreis

Eigentlich findet sie Theater interessant. Hingegangen ist Elisa Messerschmidt bis vor kurzem trotzdem nicht. „Zu viele Leute, zu viele Lichter, zu viel Lärm“, sagt die Epileptikerin. Anders war das jetzt bei der ersten „relaxed performance“ im Theater Lüneburg: Im T.3 pochte die Crew nicht auf das, was man gemeinhin von Theatergästen erwartet: die Teilnahme am Theatererlebis nach gewissen Regeln. Stille während der Aufführung, Klatschen erst, wenn es soweit ist. Und dazwischen das Ensemble so wenig wie möglich stören.

In Lüneburg passierte nun bei einer besonderen Vorstellung das Gegenteil: Hier ging es um die maximale Gelassenheit auf allen Seiten und damit das Loslösen von fast allen ungeschriebenen Gesetzen: Inklusion im Theater auf Seiten des Publikums.

Mit Tourette oder Epilepsie ins Theater? Ungewöhnliches Experiment in Lüneburg

Die Idee der „relaxed performance“ kommt aus England: Sie soll Theater entspannter machen und es somit mehr und unterschiedlicheren Menschen ermöglichen, ein Theaterstück zu erleben. Denn bei üblichen Vorstellungen gibt es vieles, mit dem viele Menschen nicht gut klarkommen.

Trafen sich zur Nachlese der „relaxed performance“: vorne Mahela Zamel und Stefan Schliephake mit ihren Gästen der Lebenshilfe Lüneburg.
Trafen sich zur Nachlese der „relaxed performance“: vorne Mahela Zamel und Stefan Schliephake mit ihren Gästen der Lebenshilfe Lüneburg. © HA | Carolin George

Zwei gemütliche Sitzsäcke in der ersten Reihe, immer ein wenig Licht im Zuschauerraum, längst nicht alle Plätze besetzt und gleich zu Beginn die offizielle Erlaubnis, so sein zu dürfen wie man ist: Entspannt ging es zu an diesem Abend im T.3 – und weniger anders als gedacht: Nur wenige Tics waren zu hören, nur eine Person nutzte die Möglichkeit, den Saal verlassen zu können, ohne dass alle komisch gucken. Vieles schien wie immer, nur fühlte es sich für viele trotzdem anders an.

Menschen mit Tourette-Syndrom trifft man im Theater eher selten

Für den ersten Testlauf wählte das Team die Komödie „Monster“ im T.3 über die 16-jährige Duck, die alleine mit ihrem kranken Vater lebt und einen Fantasyroman schreibt. Bevor es losging mit der Aufführung, gab es eine Einführung in leichter Sprache – und die Nachfrage, ob jemand im Publikum mit bestimmten Reizen Schwierigkeiten hat: zum Beispiel sehr hellem Licht oder sehr lauten Geräuschen.

Und es gab die offizielle Ansage, dass vieles an diesem Abend in Ordnung ist, was ansonsten weniger gern gesehen wird: Tics wie Tourette zum Beispiel oder das Verlassen des Raumes während des Stücks – selbst wenn man mitten in der Reihe sitzt. Und wer keine Lust hatte, auf einer harten Bank zu hocken, konnte auf einem gemütlichen Sitzsack Platz nehmen.

Außerdem wurden bewusst nicht für alle Sitzplätze Karten verkauft, damit es weniger eng ist zwischen den Zuschauenden. „Ich fand das besser“, sagte Silke Reischauer, die gemeinsam mit einer Gruppe der Lebenshilfe auch schon das Große Haus besuchte. „Es ist kleiner und man hat mehr Platz.“

Ihre Rückmeldung konnte Silke Reischauer ganz direkt geben, denn nach der Aufführung trafen sich die Theaterpädagogin Mahela Zamel mit ihrem Team und interessierten Gästen auf gemütlichen Sofas zur Nachlese: „Wir möchten wissen, wie es für euch war. Und wir brauchen eure Hilfe: Was können wir noch besser machen oder anders?“

Ein Theaterbesucher ist begeistert: „Danke, dass ihr das gewagt habt!“

Christian Hempel war der Erste, der auf die Frage der Theaterpädagogin antwortete. Und zwar mit einem Dank. „Danke, dass ihr das gewagt habt“, sagte der Lüneburger Tourette-Patient. „Es hat mich sehr beruhigt zu wissen, dass alle wussten, dass einer mit Hardcore-Tics da ist.“ Stefan Schliephake von der Lebenshilfe, Kooperationspartner des Projekts „relaxed performance“, schloss sich dem Lob an: „Toll, dass ihr das möglich macht. Ihr macht Theater für alle.“

podcast-image

Doch auch für die Menschen auf der Bühne war der Abend entspannter als sonst. „Es musste nicht alles perfekt sein, nicht bei den Zuschauenden und nicht bei uns“, sagte Schauspielerin Hannah Rang. „Das war schön und irgendwie auch beruhigend. Es ist toll zu wissen, dass sich die Leute sich darauf eingelassen haben.“

Experiment geglückt: Weglassen von Regeln macht in Lüneburg eine Menge aus

Ähnlich nahm es Schauspieler Jan-Philip Walter Heinzel wahr. „Das relaxed hat auch uns relaxed, nahm Druck heraus. Es war auch spannend, das Publikum zu sehen, dass ihr euch gespürt und wie ihr reagiert habt.“ Denn ein wenig Licht blieb immer an, falls jemand den Saal verlassen wollte.

Mehr Themen aus Lüneburg

Diese Möglichkeit nahm am Ende zwar kaum jemand wahr. Aber allein die Freiheit machte schon einen Unterschied. „Toll, dass das Theater dieses Format anbietet“, sagte Ute Gach vom Behindertenbeirat Lüneburg. „Und gut, dass Menschen mit Behinderungen damit einen höheren Stellenwert bekommen.“

Mark Zschau hat schon einige Gruppen der Lebenshilfe ins Theater begleitet. „Die Einführungen in leichter Sprache im Großen Haus sind super“, sagt der Ehrenamtliche. „Aber wer ansonsten sehr angespannt in den Saal gehen würde, kann es auf diese Weise wesentlich entspannter tun. Dies wird einigen die Hemmschwelle nehmen.“