Lüneburg. Der Lüneburger Christian Hempel macht seine Tourette-Erkrankung zur Bühnen-Attraktion. Die Angst vor Kontrollverlust überwand er dafür.
Es begann mit ein bisschen Augenklimpern und auffällig häufigem Nase-Hochziehen, als er zehn Jahre alt war. Heute ist Christian Hempel 50, lebt seit Jahrzehnten mit der Diagnose Tourette-Syndrom und steht damit jetzt sogar solo auf der Theaterbühne: In dem Monolog „Chinchilla Spin-Off, waswas“ erzählt der Lüneburger von seinem Leben voller Tics.
Christian Hempel kann sich nicht so kontrollieren wie andere es tun. Aus seinem Mund schreit es, aus seinen Gliedmaßen zuckt es, er schimpft und schlägt. „Tourette ist ziemlich kreativ“, sagt der Mann, der vor einigen Jahrzehnten noch sehr öffentlich mit seiner Krankheit in Lüneburg umgegangen ist, sich aber mittlerweile aus dem öffentlichen Leben der Stadt zurückgezogen hat.
Wenn er eine Bank betrat, rief er schon mal „Überfall!“, Frauen nennt er Mausemaus
Rief er früher gern mal „Überfall“, wenn er eine Bank betrat, verzichtet er heute auf persönliche Besuche. Nennt er Frauen beim Einkaufen immer wieder „Mausemaus“, lässt er sich heute lieber die Dinge mitbringen, die er so braucht. Auch für seine Arbeit als Mediengestalter beim Lebensraum Diakonie e.V. verlässt er nur selten seine Wohnung.
Dafür hat der Lüneburger seit einigen Jahren eine neue Art und Weise gefunden, um über seine Krankheit zu informieren: im Theater. Es begann mit einem Hörspiel. Die Regisseurin Helgard Haug hatte den Tourette-Erkrankten vor etwa sieben Jahren das erste Mal angesprochen. Für die Produktionen ihres Dokumentartheater-Kollektivs „Rimini Protokoll“ setzen sie und ihre zwei Kollegen keine Schauspiel-Profis ein, sondern Menschen, die Experten sind für die Themen, um die es im jeweiligen Stück geht.
Helgard Haug ließ nicht locker, überzeugte ihren Protagonisten von einem Hörspiel
Seine erste Antwort auf ihre erste Frage damals lautet: „Auf keinen Fall.“ Mit der ständigen Angst vor Kontrollverlust, mit der Unmöglichkeit, Szenen eins zu eins wiederholen zu können und Texte mit Sicherheit vortragen zu können, dazu mit dem immensen Aufwand einer sicheren Fahrt und Unterbringung: All das konnte sich Christian Hempel damals nicht vorstellen.
Doch Helgard Haug ließ nicht locker, sie überzeugte ihren Protagonisten also von einem Hörspiel. Zwei Fahrten unternahmen die beiden gemeinsam in Hempels Campingbus, der speziell für ihn so um- und ausgebaut ist, dass er weder Mitfahrende noch sich selbst verletzen kann. Eine führte nach Berlin, eine nach Sylt. Auch seine Tochter fuhr teilweise mit, sie ist heute 17 Jahre alt. In Klammern: Von der Mutter lebt Hempel seit vielen Jahren getrennt.
„Chinchilla Arschloch, waswas“ gewann 2019 den Deutschen Hörspielpreis der ARD
Das aus den Busfahrten entstandene Hörspiel „Chinchilla Arschloch, waswas“ gewann 2019 den Deutschen Hörspielpreis der ARD. Als die Regisseurin anschließend erneut nach einem Bühnenstück fragte, fühlte sich Hempel „geehrt und gestresst“ zugleich. Als klar war, dass ihn sein jahrelanger Wegbegleiter Stefan Schliephake, seines Zeichens Sozialpädagoge und Theaterpädagoge bei der Lebenshilfe Lüneburg-Harburg, auf alle Reisen werde begleiten können und er den Text nicht auswendig lernen müsse, willigte er ein.
„Außerdem wird immer alles Tourette-sicher umgebaut für mich, das ist wirklich toll“, erzählt er. Die Dusche zum Beispiel wird ausgepolstert, Glaskabinen müssen ausgebaut werden. Die Enge des Raumes triggert seine motorischen Ticks: „Ich neige dazu, in solchen Kabinen mit dem Kopf gegen die Kacheln zu hämmern.“
„Draußen bin ich eine Störung, hier werde ich zur Attraktion.“
Seine neue Öffentlichkeit tut Christian Hempel gut, sagt er. Das sagt er auch auf der Bühne. „Draußen bin ich eine Störung, hier werde ich zur Attraktion.“ Außerdem hoffe er, dass immer mehr Menschen von der Krankheit erfahren. Frei nach dem Motto: „Keine Sorge, das ist nur Tourette.“ Das sei vor vielen Jahren noch ganz anders gewesen, wenn er durch Lüneburgs Straßen lief und auf einmal laut herumschrie. „Da wusste niemand etwas mit Tourette anzufangen.“
Auf der Bühne, erklärt er weiter, ist er zwar auch nicht Tick-frei, „das wäre ja auch ein wenig merkwürdig“, schiebt er ein und lacht – aber: „Auf der Bühne kann ich mich erklären. Da hört man mir bis zum Ende zu. Das ist eine tolle Situation. Diese Öffentlichkeitsarbeit ist ein Schritt in Richtung Heilung.“
Beim ersten Theaterstück standen zwei weitere an Tourette erkrankte Männer auf der Bühne
Beim ersten Theaterstück standen zwei weitere an Tourette erkrankte Männer auf der Bühne, die Komponistin Barbara Morgenstern saß am Klavier. Aufgrund der vielen beteiligten Personen und des umfangreichen Bühnenbildes ist die Produktion aber sehr aufwendig und für die Theater sehr teuer.
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Daher gibt es das Stück jetzt quasi in Kleinformat: als Auskopplung, im Theaterjargon Spin-off genannt. Ein Monolog von Christian Hempel, der aus seinem Leben erzählt: zum Beispiel, was passiert, wenn er einkaufen oder zur Bank geht oder wenn beim Online-Dating der Zeitpunkt kommt, von seiner Krankheit zu erzählen.
In Lüneburg dabei ist sein Weggefährte Stefan Schliephake
Mit dabei ist immer noch sein Weggefährte Stefan Schliephake. Der übrigens dachte beim ersten Kennenlernen während einer Party einer gemeinsamen Freundin, Christian würde einfach eine große Show machen. Auch das erzählt er heute, Jahrzehnte später, auf der Theaterbühne.
Wer das Stück buchen will, wendet sich an das „Rimini Protokoll“. Über die Krankheit Tourette informiert Christian Hempel auf seiner Website: www.tourette.de.