Wingst. 2000 Besucher und prominente Gäste zum Thema lokale Wolfsattacken: Das sind die Erkenntnisse und verpassten Chancen eines Großevents.
- Eine Podiumsdiskussion nahm die negativen Auswirkungen der Ausbreitung des Wolfes nahe Hamburg in den Blick
- Auf der Bühne äußerte sich auch Niedersachsens Umweltminister Christian Meyer vor 2000 Besuchern
- Zu einer emotionsloseren Debatte in der Wolfsfrage trug der Abend mit Moderator Stefan Aust (Ex-“Spiegel“-Chefredakteur) nicht bei
Die Bilder, die bei der von Medienprofi Stefan Aust geleiteten Veranstaltung in der Reithalle Wingst-Dobrock gezeigt werden, sind kaum zu ertragen – es geht um das Thema Wolf und die Weidetierhaltung. Tote und schwer verwundete Schafe, Rinder und Pferde sind darauf zu sehen. Ein Video zeigt, wie ein großer Wachhund direkt am Haus von zwei Wölfen attackiert wird. Er hat keine Chance.
Viele der 2000 Besucher der vom Bezirksverband Stade im Hannoveraner Verband organisierten Podiumsdiskussion in der proppevollen Reithalle müssen bei diesen dramatischen Szenen wegschauen. Einige haben selbst erlebt, was jagende Wölfe bei ihren Weidetieren anrichten können. Sie berichten davon – teils mit zitternder Stimme.
Wölfe bei Hamburg: „Im Dorf herrscht Angst“
Auf dem Podium sitzt am Mittwochabend der ehemalige „Spiegel“-Chefredakteur und Herausgeber der „Welt“ mit seinen Gästen – darunter Niedersachsens Umweltminister Christian Meyer (Grüne) – und verfolgt die Schilderungen aus dem Publikum. Margitta Bertram, Bürgermeisterin der Gemeinde Kranenburg an der Oste, wo im vergangenen Jahr mehr als 55 Schafe bei einer Wolfsattacke getötet wurden, erklärt, wie dieses Ereignis das Leben im Dorf verändert hat: „Das ist an niemanden spurlos vorübergegangen. Im Ort herrscht eine absolute Angespanntheit und Angst“, sagt die Bürgermeisterin.
Inzwischen laufe ein Wolf „ohne Scheu und am hellichten Tag“ durch die Ortschaft. Ein in der Nähe des Dorfes lebendes Wolfsrudel bewege sich auf seiner täglichen Route durch ein Neubaugebiet, in dem viele Kinder wohnen. „Für mich gehört ein Wolf nicht in eine Ortschaft. Warum müssen wir das ertragen?“, fragt die Bürgermeisterin mit Blick auf die Experten auf dem Podium.
So viele Wolfsattacken wie nie zuvor im vergangenen Jahr
Nie zuvor wurden in so viele Weidetiere vom Wolf gerissen wie im vergangenen Jahr, als deutschlandweit 1400 Nutztierrisse zu beklagen waren. Insgesamt beläuft sich die Zahl der Verletzungen in den letzten Jahren auf 10.000. „Wir haben Bilder gesehen, die kaum ein Weidetierhalter ertragen kann“, sagt Dr. Hinni Lührs-Behnke, Präsident des Hannoveraner Verbandes.
Zwar seien die Pferdezüchter nicht so betroffen wie etwa die Schafshalter. „Aber auch bei den Pferden sind die Risse in den vergangenen zwei Jahre hochgegangen“, so der Präsident. Viele Pferdehalter ließen ihre Tiere aus Angst vor Wölfen nachts nicht mehr draußen. „Das ist eigentlich ein unerträglicher Zustand. Der Wolf wird in Deutschland über andere Tiere gestellt“, beklagt Lührs-Behnke.
In Rosengarten mögen die Kinder nicht mehr ausreiten
Hans-Peter Bellut ist extra aus dem Landkreis Harburg in die Wingst gekommen, um an der Veranstaltung teilzunehmen. „Wir haben in Rosengarten zehn Reitbetriebe. Die Kinder reiten nicht mehr aus, weil sie Angst haben“, sagt Bellut. Eine Frau aus der Nachbarschaft berichtet davon, dass zwei ihrer Pferde verletzt wurden, ein Zuhörer aus der Lüneburger Heide von einem Fohlen-Riss.
Auch aus der Stimme von Verena Jahnke, Schäferin aus der Lüneburger Heide, klingt echte Verzweiflung: „Wir schützen unsere Herde mit Herdenschutzhunden und mussten nach einem Wolfsangriff trotzdem 30 tote Mutterschafe verzeichnen. Im Moment ist es ganz schlimm. Es vergeht kaum einen Nacht, in der kein Wolf kommt. Wir haben keine Chance mehr.“
Minister: Schnellabschuss, wenn ein Wolf ein Pferd angreift
Die Berichtenden nennen ihren vollen Namen und ihren Wohnort. Das ist nicht selbstverständlich, denn oft werden die von Wolfsrissen betroffenen Weidetierhalter in den Sozialen Medien beschimpft, und es wird ihnen vorgeworfen, ihre Tiere nicht ausreichend geschützt zu haben.
„Haben Sie eigentlich ein Gefühl dafür, wie sich das auf die Landbevölkerung auswirkt, wenn Wölfe inzwischen durch die Ortschaften laufen?“, fragt Moderator Aust – selbst ein erfolgreicher Pferdezüchter mit einem durch Wolfstore geschützten Hof in der Wingst – den Umweltminister. Es ist eine eher rhetorische Frage. Denn zuvor hatte Christian Meyer bereits klar gemacht, dass er die Probleme der Weidetierhalter sehr wohl sehe.
„Wir wollen ja handeln und schießen – aber das muss rechtssicher sein“
Niedersachsens Umweltminister wiederholt, was er derzeit immer sagt: Dass 55 Wolfsrudel mit 400 bis 600 Tieren für Niedersachsen zu viel seien, dass er ein regionales Wolfsmanagement für Niedersachsen fordere, mit dem schnelle Abschüsse ermöglicht werden. Dass dies aber durch die gesetzlichen Vorgaben der EU und der Bundesregierung erschwert werde und es schwierig sei, den Schutzstatus des Wolfs in der EU von streng geschützt auf geschützt herabzustufen.
„Wir wollen ja handeln und schießen. Aber das muss rechtssicher sein“, ruft der Umweltminister ins Publikum. Und für die vielen anwesenden Pferdehalter: „Wo ein Pferd angegriffen wird, muss sofort ein Schnellabschussverfahren eingeleitet werden.“
Die Weidetierhalter haben Angst – und die kann ihnen auch der Minister nicht nehmen. Laut Studien soll in Niedersachsen Platz sein für 1200 Wölfe. Die Population verdoppelt sich alle drei bis vier Jahre. Zum Vergleich: Im 18-fach größeren Schweden werden Wölfe bejagt, um den Bestand konstant bei etwa 400 Wölfen zu halten.
Wolfsberater: Nur fünf bis sechs Prozent der Wölfe „bauen Mist“
Auch andere skandinavische und baltische Länder sowie Frankreich würden nationale Lösungen finden und Wölfe zum Abschuss freigeben, sagt der EU-Abgeordnete und ehemalige niedersächsische Ministerpräsident David McAllister (CDU), der aus Brüssel zugeschaltet ist. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Klaus Mack rechnet vor, dass ein Wolf den Staat in seinem Leben rund 160.000 Euro koste.
Tatsächlich würden nur fünf bis sechs Prozent der Wölfe „Mist bauen“, sagt Wolfsberater Michael Ohlhoff: „Der Wolf ist nach uns das gefährlichste Raubtier, das wir hier haben. Aber er ist kein Arschloch.“ Auch der Herdenschutz funktioniere: „85 Prozent der Wolfsangriffe passieren dort, wo es keinen ausreichenden Herdenschutz gibt.“
Pfiffe und Buh-Rufe für den Mann vom Naturschutzbund
Von den 2000 Besuchern der Veranstaltung in der Reithalle Wingst-Dobrock seien wohl mindestens 1900 Leute, die „keinen Bock“ darauf haben, dass sich der Wolf so stark ausbereitet, schätzt Ohlhoff – und liegt damit wohl nicht falsch. „In der Stadt dürfte das Verhältnis genau umgekehrt sein. Die haben ja auch nicht die Probleme. Aber dafür sitzen da die meisten Wähler“, sagt der Wolfsberater. Die Diskussion müsse dringend emotionsloser geführt werden – auf beiden Seiten: „Bei den Wolfsgegnern und den Wolfskuschlern.“
Dazu trägt der Abend in der Wingst eher nicht bei. Moderator Stefan Aust bemüht sich gar nicht erst um Neutralität. Seine Position ist von Anfang an klar: Wölfe sind wunderschöne Tiere, aber sie gehören in die Wildnis oder ins Naturschutzgebiet.
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Der Leiter der Podiumsdiskussion gönnt sich selbst die meiste Redezeit inklusive eines kurzen historischen Exkurses zum Wolfskult der Nazis. Schnell wird klar, dass auch bei dieser Veranstaltung ein Konsens erst gar nicht gesucht wird, weil die Wolfsfrage vor allem ein Politikum ist.
Von den neun Männern auf der Bühne plus dem aus Brüssel zugeschalteten David McAllister stellt sich lediglich Nabu-Vertreter Wolfgang Müller ausdrücklich gegen die Aufnahme des Wolfes ins Jagdrecht sowie gegen eine Festlegung von Abschussquoten – und erntet für diese Meinung Pfiffe und Buh-Rufe.
Menschen auf dem Land haben das Schwarze-Peter-Spiel um den Wolf satt
Die große Mehrheit im Saal will solche Aussagen nicht mehr hören. Sie bewerten auch die Argumentation des Umweltministers als klassisches Schwarzer-Peter-Spiel, bei dem die Landesregierung auf die Bundesregierung verweist und mit ihr gemeinsam auf die Europäische Union.
Viele Menschen auf dem Land halten das Bejagen der Wölfe inzwischen für unumgänglich. Umsetzen müsste das wohl die Jägerschaft, die in Wingst durch Helmut Dammann-Tamke, Präsident des Deutschen Jagdverbandes, vertreten ist. Er macht klar, was das bedeuten könnte: Es müssten auch Welpen geschossen werden, denn die Entnahme einzelner Elterntiere könnte ein Rudel in eine prekäre Lage bringen.
„Auffällige Rudel müssten komplett geschossen und zudem der Zuwachs in der Population durch gezielte Eingriffe in die Jugendklasse reguliert werden. Das wäre im Sinne des Tierschutzes und wir bekommen auch wieder Frieden auf dem Lande“, so Dammann-Tamke.