Kiel. Schafhalter und Landwirte im Norden fordern „wolfsfreie Zonen“ und einen schnelleren Abschuss der Tiere. Fast 200 Rudel bundesweit.

Seth, Boostedt-Rickling, Marne, Brunsbüttel, Ahrensharde sind fünf Gemeinden und Ämter in Schleswig-Holstein mit einer Gemeinsamkeit, die den Menschen Sorgen macht: In Seth, Boostedt-Rickling, Marne, Brunsbüttel und Ahrensharde haben Wölfe vergangenes Jahr Schafe gerissen. Im Segeberger Forst – Seth ist nicht weit – leben GW2441m und GW2656f mit fünf Jungtieren. GW steht für „Genetik Wolf“, f für female, also weiblich, m für male oder männlich. 18 Schafsrisse in verschiedenen Regionen gehen seit Dezember 2021 auf das Konto von GW2441m, sechs auf das von GW2656f. Jetzt haben Experten auch einem ihrer Jungtiere, das sie als GW3818m im Wolfsmonitor führen, einen Schafsriss zugeordnet.

Sind die Angst und der Ärger der Bauern und Schafzüchter im Land berechtigt, dass hier eine neue Problemgeneration heranwächst? Dass die Jungtiere von diesen Eltern lernen, Schafe zu reißen, weil das deutlich einfacher und weniger anstrengend ist, als ein Reh zu jagen? Oder sind die Tierhalter selbst schuld, weil sie ihre Herden unzureichend schützen, wie das Kieler Umweltministerium in den meisten Fällen argumentiert? Ist die Diskussion um die Wölfe nur ein emotionales Problem? Oder ein reales? Das Abendblatt hat mit den Betroffenen gesprochen.

Schleswig-Holstein: Ein Wolfsrudel und ein Paar leben fest in Schleswig-Holstein

Im vergangenen Jahr wurde zum ersten Mal seit 180 Jahren ein Wolfsrudel im Segeberger Forst nachgewiesen. Die Tiere tappen in Fotofallen, hinterlassen Kot, der in Laboren analysiert wird, und DNA-Spuren an Kadavern gerissener Tiere. So kann nachgewiesen werden, welche Wölfe sich wo aufhalten. Wie GW2441m, GW2656f und ihre fünf Jungtiere. Die Welpen sind inzwischen ungefähr ein Jahr alt, ein sechstes Tier aus dem Wurf ist im Oktober auf einer Kreisstraße bei Wahlstedt überfahren worden. Die Jungtiere werden nächstes Jahr beginnen abzuwandern, vermutet Wolfsexperte Jens Matzen aus dem Kieler Umweltministerium.

Ein weiteres Wolfspaar – noch ohne Welpen – lebt im Sachsenwald. Darüber hinaus, sagt Wolfsbetreuer Matzen, gebe es ein „paar einzelne durch Schleswig-Holstein ziehende Wölfe“, von denen man nicht so genau wisse, wo sie gerade sind. Die seien „heute hier, morgen da und übermorgen wieder ganz woanders“. Wie am Strand von St. Peter-Ording, wohin sich ein Tier vergangenes Jahr verirrt hatte.

In Niedersachsen wurden 50 Rudel gezählt

Gerade einmal ein Rudel und ein Paar leben aktuell dauerhaft in Schleswig-Holstein, während in Niedersachsen zuletzt 50 Rudel und vier Wolfspaare gezählt wurden. Trotz aller Schutzvorkehrungen haben Wölfe 2023 dort 1412 Schafe und Ziegen, aber auch Rinder und Pferde gerissen. Das war ein Anstieg um fast 30 Prozent gegenüber 2022. Laut Umweltministerium in Hannover gab es 2023 allein 197 Angriffe auf Schafe und Ziegen mit 1289 getöteten und verletzten Tieren. Zum Vergleich: Laut Kieler Umweltministerium, hat es 2023 in Schleswig-Holstein nur elf Risse von Nutz- und Wildtieren gegeben, die eindeutig Wölfen zuzuordnen waren. Gefunden wurden weitere 16 Kadaver, ohne dass ein Wolfsriss nachgewiesen werden konnte.

Trotz der deutlich geringeren Zahl – die Schafhalter und Landwirte in Schleswig-Holstein sind in Sorge vor einem Anstieg der Population. Sie verwiesen auf Niedersachsen, wo die ersten Wolfswelpen vor gerade einmal 24 Jahren nachgewiesen wurden. Jetzt leben dort – ohne natürliche Feinde und ungejagt – etwa 500 Wölfe in 50 Rudeln. Wie schnell die Zahl steigt, zeigt ein Blick nur kurz zurück: Vor drei Jahren waren es erst 35 Rudel gewesen. Es werde dauern, bis es in Schleswig-Holstein eine größere Wolfspopulation geben wird, sagt Experte Matzen. „Ausschließen will ich das aber nicht“. Allerdings gebe es – anders als in Niedersachsen – in Schleswig-Holstein „keine großen Waldflächen bis auf den Segeberger Forst und den Sachsenwald“.

Bauernverband: Problemtiere schneller töten

Lennart Butz ist der Geschäftsführer des Kreisbauernverbandes Segeberg, wo erst vor wenigen Wochen wieder Schafe gerissen wurden. Er plädiert für ein differenziertes „Bestandsmanagement“. Beispielsweise an der Nordsee, wo Schafe auf den Deichen weiden und so dem Küstenschutz dienten, dürfe kein einziger Wolf geduldet werden. In großen Wäldern wie dem Segeberger Forst wirbt Butz hingegen für eine Wolfs-Obergrenze. Auch müssten Wölfe, die Schafe rissen, schneller als Problemtiere geschossen werden dürfen.

Der Geschäftsführer des Segeberger Bauernverbandes hält GW2441m aus dem Segeberger Forst mit 18 nachgewiesenen Schafsrissen für ein solches Problemtier. „Dieser Wolf bringt seinen Nachkommen jetzt bei, dass die Jagd auf Nutztiere, die nicht weglaufen, viel einfacher ist als die Jagd beispielsweise auf Rehe. Der Nachwuchs lernt so dasselbe Jagdverhalten“, warnt Lennart Butz. Kein seriöser Kritiker fordere, den Wolf landesweit wieder auszurotten, sagt er. Das sei weder sinnvoll noch wäre es umsetzbar. „Wir müssen uns daran gewöhnen, dass das Tier da ist. Aber: Wir müssen anfangen, ein sinnvolles Miteinander zu regulieren. Ein Zaun allein kann aber nicht die Lösung sein“, sagt Butz mit Blick auf die Argumente aus dem Kieler Umweltministerium.

200.000 Schafe gibt es in Schleswig-Holstein

Jens Matzen, der Wolfskenner im Ministerium, spricht von „wenigen Schafsrissen“ durch Wölfe im oder am Segeberger Forst. „Wenn das mal passiert, dann auf Flächen, die überhaupt nicht oder ganz schlecht gezäunt sind“, sodass die Wölfe nicht auf Hindernisse stießen. Das Segeberger Rudel ernähre sich überwiegend von Rot- oder Damwild, „alles, was die Natur so hergibt“, wie Matzen sagt.

200.000 Schafe weiden auf Schleswig-Holsteiner Deichen, Äckern oder Wiesen, 700 Schafhalter haben sich in einem Landesverband organisiert. Verbandsgeschäftsführerin Janine Bruser und die Züchter halten die Verweise des Kieler Ministeriums auf fehlende Zäune für realitätsfern. „Unsere Deichschäfer halten oft um die 1000 Schafe. Im Sommer weiden die Tiere auf eingezäunten Deichen. Aber im Herbst und Winter müssen die Züchter ihre große Herde in kleine Partien von durchschnittlich 100 Tieren aufteilen und auf unterschiedlichen Weiden, Zwischenfrüchten oder Dithmarscher Kohlfeldern halten. Diese Flächen sind schnell abgefressen, dann geht es im Schnitt alle fünf Tage weiter auf die nächste Weide.“ Der zeitliche Aufwand für die überwiegend Familienbetriebe, diese kurzfristigen Weideflächen durch wolfssichere Zäune zu schützen, sei viel zu groß. Der Schafzüchterverband fordert wie die Landwirtschaftskammer, dass Wölfe, die mehrfach Weidetiere gerissen haben, schneller erschossen werden können.

Landwirtschaftsminister sieht wachsendes Konfliktpotenzial

Anders als das Grün geführte Umweltministerium warnt das schleswig-holsteinische Landwirtschaftsministerium vor einem wachsenden Konfliktpotenzial. Für Landwirtschaftsminister Werner Schwarz von der CDU ist „eine schnellere und effizientere Entnahme von übergriffigen Wölfen“ ein erster Schritt – mehr aber nicht. „Weitere gesetzliche Änderungen und eine volle Ausschöpfung der vorhandenen Spielräume des europäischen Rechts für Ausnahmen vom strengen Schutz müssen folgen, anderweitig bleiben viele Probleme mit dem Wolf aus Sicht der Landwirtschaft ungelöst“, sagt Schwarz. Er verstehe die Sorgen insbesondere der Schafhalter.

Olaf Dircks aus Westerhever auf Eiderstedt ist einer dieser Schafhalter. Er erinnert an Problemwolf GW1430m, der etliche Weidetiere an der Westküste gerissen hat, bevor er weiterwanderte. Mit Blick auf die Nutztiere fordert Dircks „wolfsfreie Räume“. Sobald sich in diesen Schutzzonen für Weidetiere ein Wolf zeige, müsse der zum Abschuss freigegeben werden. Für Dircks mache es sich die Landesregierung zu einfach, wenn sie von den Schafhaltern fordere, die Tiere durch robuste Zäune zu schützen. „Damit drückt sich das Land aus der Verantwortung. Im Winter bei Sturm knicken die Zäune um wie Streichhölzer“, sagt der Eiderstedter Schafhalter. Er bemängelt den politischen Willen, Nutztiere vor Wolfsattacken zu schützen. Die Folge: Immer mehr Weidetierhalter gäben auf oder reduzierten die Schafhaltung drastisch.

„Schleswig-Holstein ist ein Transitland für Wölfe“

Das Bundesamt für Naturschutz, wo die Informationen zu den Wölfen in Deutschland zusammenlaufen, weiß von bundesweit 184 Wolfsrudeln. Hinzukommen noch 47 Wolfspaare und 22 „nicht sesshafte Einzeltiere“. Gezählt, gefilmt und registriert wurden insgesamt 1339 Tiere im „Monitoringjahr“ zwischen Mai 2022 und April 2023. Seither sind die Zahlen noch einmal gestiegen.

Zurück nach Segeberg. Für das siebenköpfige Rudel ist der rund 3000 Hektar große Forst das „Haupteinstandsgebiet“, aber die Tiere seien auch außerhalb anzutreffen, sagt Wolfsexperte Matzen. „Die streifen umher, manchmal bis an die Autobahn 7 im Westen, manchmal über die A21 im Osten hinaus. Das ist ein riesiges Revier.“ Das Rudel wurde auch schon in der Nähe von Orten oder Gehöften beobachtet. „Überall da, wo sich Beutetiere sehen lassen, muss mit Wölfen gerechnet werden“, sagt Matzen.

Eine Wildtierkamera hat die Wolfswelpen im Segeberger Forst fotografiert.
Eine Wildtierkamera hat die Wolfswelpen im Segeberger Forst fotografiert. © Mekun | Mekun

Viele Hundebesitzer meldeten sich aus Angst um ihre Tiere bei ihm, sagt der Mitarbeiter des Kieler Umweltministeriums. „Laufen die Hunde wie vorgeschrieben an der Leine, ist die Gefahr sehr gering. Aber viele Hundebesitzer halten sich nicht an die Leinenpflicht.“ Und wenn der Hund weit weg von seinem Herrchen oder Frauchen sei, könne ihn der Wolf als Eindringling ins Revier betrachten – und angreifen. Das sei aber ganz selten. „Aber dass ein Wolf guckt, was los ist und sich einem Hund nähert, das ist ganz normal“, sagt Matzen.

Sollte ein Waldspaziergänger tatsächlich einem Wolf begegnen, sei die Gefahr sehr gering. Seit rund 20 Jahren, seit der Wolf in Deutschland wieder heimisch geworden sei, habe es noch nie einen Angriff auf Menschen gegeben. Sollte es zu der sehr unwahrscheinlichen Begegnung mit einem Wolf kommen, empfiehlt Matzen Spaziergängern, sich „zusammenzureißen, das Tier nicht zu provozieren und nicht wegzurennen“, das wecke nur die Neugier des Tieres.

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Matzen sieht die Diskussion um die Wolfspopulation im nördlichsten Bundesland eher entspannt. „Schleswig-Holstein ist so etwas wie ein Transitland für Wölfe“. Viele Tiere, die hier durchwanderten, seien auf dem Weg Richtung Dänemark oder nach Süden in Richtung Niedersachsen. „Es geht hin und her mit den Wölfen“, sagt Matzen.