Buxtehude. Als die Kirchengemeinde ihr wertvolles Instrument ins Ahrtal schickt, ahnt nieman, was kurz darauf geschieht. Ein Drama in fünf Akten.
Die Orgel gilt als ein himmlisches Instrument, das Unsagbares auszudrücken vermag. Wenn die neue Chororgel, die zurzeit in der Buxtehuder St. Petri-Kirche aufgebaut wird, in Kürze das erste Mal erklingen wird, schwingt dabei tatsächlich eine unglaubliche Geschichte mit – ein wahres Orgel-Drama, klassisch in fünf Akten. Denn der Weg des Instruments an seinen angestammten Platz war begleitet von Hochgefühl, Unglück, Naturkatastrophen, Tod und Trauer. Doch die Orgel-Odyssee von Buxtehude erzählt auch von Hoffnung, menschlicher Größe und Zusammenhalt.
Unglaubliche Pannenreise einer Orgel: Das Vorspiel beginnt
Die Buxtehuder Kirche ohne Orgelmusik – nicht vorstellbar. Sie verfügt bereits seit 1545 über eine Orgel. Berühmt war die 1701 in St. Petri eingeweihte Arp-Schnitger-Orgel, die allerdings beim Turmbrand 1853 zerstört wurde. Darauf folgte eine frühromantischen Furtwängler-Orgel von 1859 mit 3300 Orgelpfeifen, die zu den größten und bedeutendsten Werken romantischen Orgelbaus in Norddeutschland gehört.
Weil diese aufgrund ihres Zustands über viele Jahrzehnte nicht bespielt werden konnte, wurde 1974 eine kleinere Chororgel als Ersatzinstrument angeschafft. Und als bei einer Nachrestaurierung der Furtwängler-Orgel im Jahr 2006 25 Pfeifen auftauchten, die einwandfrei Arp Schnitger zugeordnet werden konnten, entstand die Idee, die kleine sanierungsbedürftige Chororgel im Geiste von Arp Schnitger zu erweitern.
Der Kirchenmusikverein „Musica Viva“ begann damit, unermüdlich Spenden einzuwerben. 2019 war es dann soweit: Der Förderverein hatte durch verschiedene Aktionen die Finanzierung gestemmt, die fast ausschließlich aus privaten Spenden bestand. 235.000 Euro waren zusammengekommen, so dass ein Vertrag über die Renovierung und Erweiterung der Orgel mit dem bekannten Orgelbaumeister Rowan West abgeschlossen werden konnte. „Es ist ein reines Spendenwerk“, sagt Dr. Karsten Ley, 1. Vorsitzender von „Musica Viva“.
Erster Akt: Die Orgel geht auf Reisen, das Drama beginnt breits nach einer Woche
2021 wird die Orgel nach jahrelanger konzeptioneller Vorplanung in die Werkstatt des herausragenden Orgelbauers Rowan West nach Altenahr verbracht – exakt eine Woche vor der verheerenden Flutkatastrophe im Ahrtal. „Seit 2017 läuft das Projekt. Welche Katastrophen uns begegnen würden, haben wir bei Projektbeginn nicht erahnt“, sagt Kreiskantorin Sybille Groß. Denn es passiert das Unfassbare: Die Werkstatt von Rowan West wird bei der Flutkatastrophe vollständig zerstört – mit allem, was sich darin befand. „Auch unsere Orgel wurde vernichtet“, sagt Sabine Groß. Und es gibt einen weiteren dramatischen Rückschlag: Der Orgelbaumeister erkrankt schwer.
Zweiter Akt: Der herausragende Orgelbaumeister aus dem Ahrtal stirbt
Trotz seiner schweren Erkrankung und vor den Trümmern seines Lebenswerk will Orgelbaumeister West nicht aufgeben. Von seinem Evakuierungsort in Nassau an der Lahn aus plant der durch eine schwere Nervenkrankheit gezeichnete Orgelbaumeister einen Zusammenschluss verschiedener Orgelbauer, die nach seinen Plänen und Standards die Buxtehuder Orgel für die West GmbH fertigstellen sollen. „Rowan wusste, dass unser Orgel-Projekt seine letzte Arbeit sein würde, und die wollte er offenbar besonders gut machen“, sagt Sabine Groß.
Die Arbeiten werden nach der Flutkatastrophe im Oktober 2021 wieder aufgenommen. Der Orgelbaumeister kümmert sich um jedes Detail. Die Einweihung der neuen Orgel soll im September 2023 in der St. Petri-Kirche stattfinden. Doch dann die Schocknachricht: Im Mai 2023 stirbt Rowan West.
Die Arbeiten müssen bis zur Klärung der Rechtsnachfolge wieder ruhen. „Wir waren alle extrem schockiert“, sagt Sabine Groß. „Mit Rowan West hat uns mittlerweile eine enge Freundschaft verbunden“, ergänzt Karsten Ley. „Wir wussten nicht, was aus unserem Projekt wird. Wie werden die Erben reagieren? Es gab so viele Fragezeichen – und wieder einen Stillstand in den Abläufen“, so Ley.
Dritter Akt: Wie soll es weitergehen?
Rowan West war Australier, seine Erben ebenso. Sie beschließen, dass die Orgel für Buxtehude fertiggestellt werden soll – als letztes Projekt der West GmbH. Anschließend wird das Unternehmen aufgelöst. „Wir waren sehr erleichtert, dass es weitergeht“, sagt Karsten Ley. „Nun sind wir wirklich auf der Zielgeraden.“ Seit Sommer vergangenen Jahres wurde in den Werkstätten wieder gearbeitet und Teile des „Innenlebens“ gebaut. Aktuell wird die Orgel in der St. Petri-Kirche montiert. „So, wie sie jetzt dasteht, kämen wir nicht mit 500.000 Euro aus“, sagt Kreiskantorin Groß. „Rowan ist unser größter Sponsor. Er wollte, das bei seinem letzten Werk alles perfekt wird und hat an nichts gespart.“
Vierter Akt: Das Meisterwerk entsteht
Rowan West war kompromisslos dem historischen Orgelbau verpflichtet. Jede Pfeife wurde einzeln gegossen und von Hand gehämmert. Die neue Chororgel umfasst 848 Pfeifen und einen Zimbelstern. Die Orgelbauer Christoph Keinert aus Augsburg und Winfried Puschmann aus Rheine setzen Wests Arbeit in der Buxtehuder Kirche im Sinne des Verstorbenen fort. Zu Ostern wollen sie mit dem Aufbau der 4,50 Meter hohen Orgel komplett fertig sein.
Dann wird das Gehäuse aus Fichte und Eiche von einem Restaurator aus Lüneburg noch farblich gefasst und die Schmuckelemente – sie erinnern auf Wunsch von West an Wellen und damit an die Flutkatastrophe – vergoldet, bevor es an die Intonation geht. Winfried Puschmann wird das für seinen verstorbenen ehemaligen Lehrherren, der ein begnadeter Intonator war, vornehmen. „Rowan hat über ihn gesagt, dass er mindestens so gut wie er selbst sei und dazu noch viel schneller“, sagt Kreiskantorin Groß. Jede einzelne Pfeife wird dabei nicht nur gestimmt, sondern auf den Klang des Raumes eingestellt.
Happy End im Fünften Akt: Wann die Kirchenorgel in Buxtehude wieder erklingt
Die Einweihung der Orgel findet mit einem festlichen Gottesdienst am Sonntag, 14. April, ab 11 Uhr statt. „Jeder kann kommen, wir freuen uns darauf, das neue Instrument zu präsentieren“, sagt Dr. Karsten Ley. Auch Verwandte des verstorbenen Orgelbauers aus Australien werden dabei sein. Für die vielen Spenderinnen und Spender sowie Pfeifenpaten wird es vorab ein exklusives Werkstattkonzert geben. „Sie sollen unsere Orgel zuerst hören.
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Sie hat ja jetzt schon eine außergewöhnliche Geschichte zu erzählen“, sagt Sybille Groß. „ Die Orgel in der Nähe zur Gemeinde biete neue Möglichkeiten in der Interaktion, beim gemeinsamen Singen und Musizieren und in der Musikvermittlung, freut sich die Kantorin und streicht zärtlich über die mit Buchsbaum belegten Tasten des Instruments: „Diese Orgel ist in allen Details etwas besonderes und das Vermächtnis von Rowan West, einem der besten Orgelbaumeister der Welt“, meint die Kreiskantorin, die bald die ersten Töne auf dem neuen Instrument spielen darf.