Hamburg. Vor 300 Jahren wurde der Orgelbauer beerdigt. Seine Instrumente, in ganz Norddeutschland zu finden, gelten bis heute als Meisterwerke.
Nicht schlecht für einen Tischlersohn aus der Wesermarsch, anno 1648 in Schmalenfleth geboren, weit ab von jedem Schuss. In einer Zeit, in der andere ihre Waren nur bis kurz vor den Horizont verkauft bekamen, lieferte Arp Schnitger als überragend gebildeter, prächtig verdienender Meister seiner Zunft seine Orgeln auch nach Moskau (unter anderem für Peter den Großen), England und Portugal. Die Export-Modelle wurden besonders kompakt gebaut, damit sie per Schiff transportiert werden konnten.
In einem besonders kuriosen Fall schaffte es ein Schnitger-Produkt 1752 bis Brasilien, in die Kathedrale von Mariana, als Geschenk des portugiesischen Königs, ursprünglich für Lissabon gebaut. Weltweit sind gerade mal 45 Schnitger-Orgeln und -Prospekte erhalten – das sind deutlich weniger Unikate als Streichinstrumente des vier Jahre jüngeren Stradivari. Von ihm soll es noch rund 600 Geigen geben, bekannt sind auch 12 Bratschen und rund 60 Celli. Schnitgers Lebensleistung: etwa 170 erbaute und umgebaute Instrumente. Die Bedeutung ist vergleichbar.
Wie gut er war, sprach sich schnell herum
Arp Schnitger hatte aber nicht nur Talent, sondern auch das Glück, in die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg geboren worden zu sein. Seine Karriere verlief parallel zum wirtschaftlichen Wiedererstarken der geschundenen Regionen. Doch dieser Zufall allein hätte die historische Klasse noch nicht gerechtfertigt. Denn vor allem anderen war das Multitalent Schnitger ein herausragender Kunst-Handwerker, brillant als Geschäftsmann, besessen von Qualität und immer auf der Suche nach der nächsten praktischen Lösung.
Und weil sie so gut gebaut waren, klangen seine Instrumente nicht nur besser, sie hielten auch länger als flott zusammengekloppte B-Ware der Konkurrenz. Überhaupt, dieser Klang: „Wenn man in der Kirche steht und die Orgel voll spielt, durchdringt einen der Orgelklang und umhüllt einen gleichzeitig“, schwärmte der Orgel-Experte Harald Vogel im NDR über dieses Erlebnis, das die Aura des Authentischen hat, die kein noch so millimetergenau am Rechner geplantes Instrument der Gegenwart bieten kann.
Mit 18 begann der junge Arp die Orgelbauerlehre bei seinem Onkel in Glückstadt und erbaute sich dort die ersten sprichwörtlichen Lorbeeren. Wie gut er war, sprach sich bei der potenziellen Kundschaft schnell herum. Der Bedarf war groß, der Wunsch, nur das Beste fürs Geld zu bekommen, nicht minder. Seine Visitenkarte in Hamburg war eine Orgel für die St. Johanns-Klosterkirche (sie steht mittlerweile in Cappel bei Bremerhaven und gilt als die am besten erhaltene Schnitger-Orgel). Nächster Großauftrag in der Hansestadt war die – für damalige Verhältnisse konkurrenzlos riesige – Orgel für die Hauptkirche St. Nicolai.
Weiteres Prunkstück
Die 1682 begonnene Arbeit dauerte fünf Jahre, um sie auszuführen, hatte Schnitger seine Werkstatt aus Stade nach Hamburg verlegt, er erhielt hier das Bürgerrecht und blieb – unter anderem in einem Haus am heutigen Gerhart-Hauptmann-Platz – bis 1705. Das gute Stück, von der Buxtehude und Bach als „ungemeine Orgel“ schwärmten, hatte 67 Register, 4 Manuale und über 4000 Pfeifen; die größte Pfeife, das 32-füßige C, war rund 860 Pfund schwer und fast zehn Meter lang. Hätte es 1842 nicht den großen Hamburger Brand vernichtet, gäbe es all das womöglich heute noch. Und als Vergleich, obwohl es in jeder Hinsicht eine andere Liga ist, in der dieser Neubau spielt: Die Klais-Orgel in der Elbphilharmonie kommt auf 69 Register, vier Manuale und 4765 Pfeifen.
Auch für die Hauptkirche St. Jacobi wurde Schnitger engagiert. Er lieferte ein weiteres Prunkstück, 3820 Pfeifen, 60 Register, vier Manuale, 1693 fertiggestellt und mit seiner Bauform, dem „Hamburger Prospekt“ auch optisch stilbildend, Gesamtpreis: knapp 30.000 Mark. Dieses Instrument ist die größte erhaltene Schnitger-Orgel.
Schnitger räumte hin und wieder Rabatt ein
Schnitger hatte 1684 in erster Ehe eine Hamburger Kaufmannstochter geheiratet und war sesshaft geworden, auf einem Hof in Neuenfelde, der seinem Schwiegervater gehört hatte. Zwei Töchter, vier Söhne, dazu etliche Gesellen, die in einem clever organisierten Firmenkonstrukt am jeweiligen Ort umsetzen, was Schnitger entworfen hatte. Viele Instrumente haben verschlungene Lebensläufe: Die Orgel in Grasberg bei Worpswede beispielsweise war für ein Waisenhaus am Hamburger Rödingsmarkt gebaut worden, Händel, Bach und Buxtehude haben darauf gespielt. Als günstiges Secondhandinstrument geriet sie später aufs Land in die Nähe von Bremen. Für Hamburg allein entstanden insgesamt rund 20 Orgeln.
Aus heutiger Sicht hatte Schnitger so etwas wie ein Monopol auf Qualitätsorgeln: Seine Instrumente beschallten Kirchen im Bremer Umland, Oldenburg, Ostfriesland, Groningen (seine Filiale dort hielt sich bis 1863), Stade, Hamburg und das Alte Land. Die Region war damals wohlhabend, man konnte und wollte sich Qualität leisten, so erblühte eine weltweit einzigartige Orgel-Landschaft. Dazu kamen Bremen, Lübeck, das damals dänische Schleswig-Holstein, sogar Berlin und Magdeburg. Damals war der Norden und Nordwesten Deutschlands für Organisten eine Art gelobtes Land.
Gottes Lohn war ihm offenbar oft wichtiger
Die Orgel für St. Pankratius in Neuenfelde vor den Toren Hamburgs ist seine größte zweimanualige Orgel, 1688 wurde sie vollendet. Eine kleine, feine Besonderheit: nichts aus dem Vorgängermodell wurde von Schnitger recycelt. Weil Schnitger so günstig baute, revanchierte sich die Gemeinde mit einer erhöhten Kirchenloge und später einem Erbbegräbnis, als er 1719 starb. Der preußische Hof ernannte Schnitger 1708 zum preußischen Hoforgelbauer.
Wenn eine Gemeinde für einen echten Schnitger zu knapp bei Kasse war, räumte er schon mal Rabatt ein. Gottes Lohn war ihm offenbar oft wichtiger, ebenso die Wartungsarbeiten, die er auf Inspektionsreisen gern und gründlich vornahm. „Wenn ein Hauptfehler sich sollte zeigen, ich wollte kommen, sollte ich auch zu Fuß laufen“ war seine Garantieerklärung für skeptische Kunden. Eine dieser Reisen allerdings, im Winter 1718 nach Zwolle, hätte er lieber nicht antreten sollen. Er erkrankte und starb im Juli 1719 an den Folgen.
Vergessen, ignoriert und ausgemustert
Im Laufe der Jahrhunderte erging es Schnitger und seiner Klangästhetik wie vielen Komponisten: Sie wurden unmodern, wurden vergessen, ignoriert und als gestrig ausgemustert. Die alten Orgeln wurden, sobald man es sich leisten konnte, gern gegen neue ausgetauscht. Ein erstes Revival setzte nach dem Ersten Weltkrieg ein, wichtigster Fürsprecher war der Hamburger Autor und Orgelbauer Hans Henny Jahnn, der 1925 eine große Expertentagung einberief.
In den 1950ern sorgte eine Aufnahme von Bachs Orgelwerken durch Helmut Walcha an der Schnitger-Orgel in Cappel für weitere Aufmerksamkeit. Auch durch das Interesse an historisch informierter Aufführungspraxis kehrte Schnitger ins Bewusstsein der Musikwelt zurück. Diverse Orgel-Routen übers flache Land bringen inzwischen Schnitger-Fans aus aller Welt in die beschaulichen Dorfkirchen Norddeutschlands.
Bittere Ironie
Es ist eine bittere Ironie dieses Künstler-Schicksals, dass ausgerechnet kurz vor dem diesjährigen Feiertag ein Brand in jener spätromanischen Kirche ausbrach, in der Schnitger 1648 getauft wurde. In St. Bartholomäusim Braker Ortsteil Golzwarden wurde Anfang Juli der Dachstuhl schwer beschädigt. Unklar ist, ob es Brandstiftung war, unklar ist auch, wie sehr die Golzwarder Orgel in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dort, wo ein Tryptichon auf der Empore sich den Spaß gönnt, neben einer Kammermusik-Szenerie mit einem mutmaßlichen Schnitger-Porträt auch einen spielenden Organisten nur von hinten abzubilden. Ist Arp es, ist er‘s nicht? Der Legende schadete dieses Rätselraten jedenfalls nicht.
Der dort geplante Festakt am 28. Juli zum Todestag musste abgesagt werden. Arp Schnitgers Ruhm jedoch, der schon so viele Höhen und lange Tiefen erlebt hat hat, wird auch diese Delle im Lebenslauf überstehen.