Vor 60 Jahren brachen in Hamburg die Deiche. Ein Überlebender aus Wilhelmsburg traf auf Familie Knipp aus Altenahr. Zwei Schicksale.
Es waren Stunden, die frösteln lassen – auch sechs Jahrzehnte später noch. Gegen 1.30 Uhr in dieser Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 wurde der Luftwaffensoldat Peter Beenk von seinem Vater geweckt: „Junge, steh auf, die Elbe ist in den Straßen.“ Hinzu kam eine merkwürdige Geräuschkulisse: Brummen, Pfeifen, Gurgeln. Der Wind heulte anders als sonst. Vom ersten Stock seines Elternhauses beobachtete der 21-Jährige Gespenstisches: Die Julius-Ertel-Straße, der Bauvereinsweg, ganz Wilhelmsburg standen unter Wasser. Vis-à-vis stürzte ein Mann in das strömende Wasser. Er ging unter.
„Wahrscheinlich ertrunken“, vermutet Peter Beenk. Nach 60 Jahren hat er die Schreckensnacht der Sturmflut keinesfalls vergessen. Sein für das Wochenende geplanter Heimaturlaub in Hamburg wurde um eine Woche verlängert. Ohne lange nach Vorschriften und Genehmigungen zu fragen, packte jeder an, wo Hilfe vonnöten war. Es wurden viele Hände gebraucht in Stunden, in denen der Elbstrom bewies, wer der Stärkere ist. Vom Sturm aufgepeitscht, ließen unbändige Wassermassen Deiche brechen. Im Norden starben 315 Menschen. Tausende verloren Hab und Gut.
Flutkatastrophe 1962: Peter Beenk erinnert sich
„Genau hier brach der Deich“, sagt Peter Beenk heute. Es ist ein typischer Wintertag: stürmisch, nass, allerdings nicht so kalt wie 1962. An der Harburger Chaussee, der Hafenrandstraße sowie dem Potsdamer Ufer sind die Deiche erheblich höher und stabiler gebaut als früher. Peter Beenk deutet in Richtung Wilhelmsburger Binnenland: „Dort hatte die Sturmflut alles in ihrem Besitz.“
„Das kennen wir“, sagt die Frau neben ihm auf der Deichkrone. Auch das Wohnhaus der Familie Knipp stand unter Wasser – 500 Kilometer von Hamburg entfernt, im Südwesten. In Altenburg, einem Ortsteil der Gemeinde Altenahr in Rheinland-Pfalz, hieß es am 14. Juli 2021: „Land unter!“ Wie sechs Jahrzehnte zuvor im Norden musste die moderne Zivilisation vor der Naturgewalt die Segel streichen.
Hochwasserkatastrophe in Altenahr wegen Starkregen
Der durch Starkregen hervorgerufenen Hochwasserkatastrophe im Sommer des vergangenen Jahres fielen allein an der Ahr mehr als 130 Menschen zum Opfer. Der normalerweise gemächliche Nebenfluss des Rheins hatte sich durch heftige Regenfälle in einen reißenden Strom verwandelt. „Unser Tal lief voll wie eine Badewanne“, erinnern sich Yvonne Knipp und Tochter Viktoria an eine dramatische Nacht draußen am Berghang. Durch brechende Brücken entstanden verheerende Flutwellen. Nach 15 Stunden wurde die Familie mit Hubschraubern gerettet. Ihr Haus ist nach wie vor unbewohnbar.
Auf Einladung des Hamburger Abendblatts ist die Familie Knipp nach Hamburg gereist. Gemeinsam mit Peter Beenk, dem von der verheerenden Sturmflut 1962 betroffenen Hanseaten, wollen sich die beiden Vertreter der Familie Knipp über die Naturtragödien sprechen, Erfahrungen austauschen, über Konsequenzen aus den Katastrophen sprechen. Auch wenn 60 Jahre dazwischenliegen, gibt es Gemeinsamkeiten. Im Norden wie im Südwesten geriet die Natur auch deshalb aus den Fugen, weil Menschen Eingriffe vornahmen.
Peter Beenks Erinnerungen an 1962 sind sehr präsent
Während der halben Stunde mit dem Abendblatt-Fotografen oben auf dem Deich ist der Nieselregen abgeebbt. Interessiert lauschen die Besucher aus Altenburg den Schilderungen des Zeitzeugen Peter Beenk. Unvergessen sei ihm die 1962er-Sturmflut durchaus; allerdings habe sie bei ihm keine seelischen Narben hinterlassen. Da sich die elterliche Wohnung am Bauvereinsweg 4 im ersten Stock befand, drohte in dieser eiskalten Nacht keine Lebensgefahr. Außerdem wurde der Kohlevorrat nicht im überfluteten Keller, sondern auf dem Dachboden gelagert. Dadurch konnte der Ofen bei den Beenks beheizt– und für Kochtöpfe genutzt werden. Nachbarn und Mitbewohner sammelten sich in der guten Stube. Über das Dach gelangte man zum Ladengeschäft „Pro“. Einer reichte dem anderen die Hand.
Auch in Altenburg wurde im Juli 2021 Menschlichkeit großgeschrieben. Da es am Elbufer auf Dauer zu ungemütlich ist, schlägt Peter Beenk einen Ortswechsel vor. Als 2. Vorsitzender des Vereins Museum Elbinsel Wilhelmsburg engagiert sich der 81-Jährige für die Geschichte des seinerzeit am schlimmsten von der Sturmflut heimgesuchten Stadtteils. Das aktuell wegen Renovierungsarbeiten geschlossene Heimathaus an der Kirchdorfer Straße ist der passende Ort für die Fortsetzung unseres Gesprächs. Wetterschreiber von damals und Pegelstände im Treppenhaus erinnern an das Drama vom Februar 1962.
Beenk leitet Bücherei und das Archiv des Heimatvereins
Beenk leitet Bücherei und Archiv des Heimatvereins. Er selbst wirkt wie ein lebendiges Lexikon. Und er besitzt einen Haustürschlüssel. Vor allem hat er die urgemütliche Bibliothek in der ersten Etage vorher geheizt. Mineralwasser steht auf dem Tisch. Daneben liegt das just erschienene Buch „Hamburg im Sturm“ aus dem Gmeiner-Verlag. Die Zusammenstellung der mehr als 200 Fotos darin übernahm Peter Beenk.
Nun ist er als Zuhörer an der Reihe. Es ist erschütternd, was dem Ehepaar Yvonne und Richard Knipp mit der 15-jährigen Tochter Viktoria, weiteren Angehörigen, Nachbarn und Freunden in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 widerfuhr. Die vier Jahre ältere Schwester Jenny hielt sich an ihrem Ausbildungsort Kerpen auf. Ihre Großeltern weilten im Urlaub. Ein Segen. Die morgendliche Warnung vor extremem Unwetter mit Dauerregen und Starkregen in Teilen von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz war der Anfang. Um 11.17 Uhr an diesem Mittwoch signalisierte die Katwarn-App rapide ansteigende Wasserstände. Um 17.17 Uhr rief das Landesumweltamt für das Ahrtal die höchste Gefahrenstufe aus: violett. Um 23.19 Uhr folgten Katastrophenalarm sowie Aufrufe zu Evakuierungen.
Yvonne Knipp erinnert sich an die Flutnacht
„Für Altenburg war es zu spät“, berichtet die Bankkauffrau Yvonne Knipp in der Bibliothek des Wilhelmsburger Museums. Über Irritationen im Behördendschungel, Pannen und Fehlentscheidungen gibt es Diskussionen – und unterschiedliche Meinungen. Die Schrecken des „Jahrhundert-Hochwassers“ in Altenahr von 1910 waren von Generation zu Generation weitergereicht worden.
Wohlweislich wurde die Kapelle auf einem Hügel errichtet. Zuletzt trat die Ahr 2016 massiv über die Ufer. Doch diesmal war alles noch heftiger, unberechenbarer. „Im Sommer pflegen wir im Fluss zu baden“, sagt die Gymnasiastin Viktoria. Im Dorf ist die Ahr wenige Meter breit. Wenn man im Wasser steht, reicht es bis zu den Hüften. Normalerweise. „Wir kennen Hochwasser und reagieren eigentlich entspannt“, sagt Yvonne Knipp. Doch um 19 Uhr kommt ihrem Ehemann Richard und ihr die Situation immer ungeheuerlicher vor. Mit vereinten Kräften ziehen sie einen behinderten, hochbetagten Nachbarn im Rollstuhl in ihre Wohnung im 1. Stock. Diese Tat rettet ihm das Leben. Vier der rund 600 Einwohner Altenburgs fallen der Urgewalt des Wassers zum Opfer. Kaum ist der Senior oben, zerbrechen im Erdgeschoss Scheiben. Die Terrassentür wird eingedrückt; Schränke kippen um. Die Flut bahnt sich ihren Weg.
Anrufe bei Polizei und Feuerwehr halfen nicht
Anrufe auf der Notfallnummer 112 bringen nichts. Die Helfer sind selbst verzweifelt. In schlauer Voraussicht hat Richard Knipp nachmittags eine lange Holzleiter organisiert. Darüber klettern die Hausbewohner auf den Steilhang nebenan. Auch wenn der Wasserpegel auf etwa zehn Meter steigt, besteht in der Höhenlage Sicherheit. Zwar regnet es unverändert, doch herrscht eine milde Temperatur – im Gegensatz zur Hamburger Sturmflut von 1962.
„Es war gruselig“, berichtet Yvonne Knipp. „Gastanks zischten, vorbeischwimmende Autos hupten automatisch, noch stehende Häuser knarrten, es stank nach Öl.“ Alles wurde dunkel. Vereinzelt leuchteten Handylichter. Menschen hockten auf Dächern oder kauerten in den Hängen. „Wahrscheinlich hat jeder gebetet“, meint Viktoria. Bis auf die Handys sei es 1962 in Hamburg ähnlich gewesen, erinnert sich Peter Beenk.
Akkus der Mobiltelefone gingen aus
Nach und nach machten im Sommer 2021 die Akkus der Mobiltelefone schlapp. Bis es stockdunkel war in der riesigen Badewanne im Tal. Am Mittag des 15. Juli 2021 brachten Helikopter die Menschen in Sicherheit. Später zieht sich das Wasser zurück. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und andere Politiker kommen nach Altenahr, um sich ein Bild zu machen. Sie sehen ein Desaster – in der gesamten Region.
150 der 159 Häuser in Altenburg sind schwer beschädigt. Was die Wassermassen nur teilweise mitrissen, wurde oder wird nun von Baggern plattgemacht. Rund ein Drittel des Ortes muss neu gebaut werden. „Ganze Familiengeschichten und Existenzen sind in der Flut versunken und unter Schlamm begraben“, schrieb Uli Adams in einer Reportage in der „Rhein-Zeitung“. Der Leiter der Redaktion Bad Neuenahr-Ahrweiler weiß: „Manch einer gibt auf und verlässt Altenburg für immer.“ Sein Artikel trägt die Überschrift: „Die Sintflut.“
Stark demoliertes Haus muss saniert werden
Schweigen in der Bibliothek des Wilhelmsburger Heimathauses. „Und was ist aus eurer Familie geworden?“, fragt Peter Beenk. Unter Leidensgenossen, zu unterschiedlichen Epochen, ergibt sich das Du wie von selbst. Die Knipps hatten Glück im Unglück. „Wir sind am Leben“, sagt die 46 Kahre alte Mutter. Das stark demolierte Haus soll saniert werden. Noch ist nicht klar, wie viel Geld aus Landes- und Bundesmitteln fließt. Die Knipps waren nicht besonders gut versichert. Bisher wurde eine Entschädigung für zerstörten Hausrat überwiesen. Anträge für Neubauten oder Reparaturen warten auf Antwort. Bis dahin hat die Familie das Haus der Eltern von Yvonne Knipp bezogen. Es ist „nur“ halb zerstört. Die Eigentümer haben sich andernorts einquartiert. „Unsere Wurzeln liegen in Altenahr“, sagt Yvonne Knipp, „wir werden alles tun, um zu bleiben.“ Andere lassen die Heimat zurück. Notgedrungen.
„In Hamburg lief die Badewanne Wilhelmsburg langsam voll“, sagt Peter Beenk. „Und bei uns schnell“, ergänzt Viktoria Knipp. „Wasser hat in der Masse eine ungeheure Wucht“, weiß Beenk. „Die Flut riss Bahngleise weg und Brücken mit“, sagt Yvonne Knipp. Während in Wilhelmsburg Denkmäler und Schilderungen der Älteren an die Katastrophe erinnern, sei der Weg in Altenburg bis zu einem alltäglichen Leben weit. Mutter und Tochter Knipp bezeichnen ihr Heimatdorf als „Geisterort“. Vergessen könne man solche Erlebnisse nie. Da herrscht Einigkeit. Es gibt weitere Gemeinsamkeiten. Ein Freund von Yvonne Knipps Vater, ein Polizist, war 1962 als Helfer in Hamburg dabei. Umgekehrt waren helfende Hände aus Norddeutschland präsent, als 2021 im Südwesten Hilfe nötig war.
Familie Knipp besuchte Schmidt-Ausstellung
P.S. Im Anschluss an dieses Gespräch besuchte die Familie Knipp, vereint mit Vater Richard und Tochter Jenny, die Dauerausstellung „Schmidt! Demokratie leben“ über das Leben und Wirken des Bundeskanzlers. Ein Schwerpunkt ist die Sturmflut von 1962. Ein Ordner trägt den Titel: „Das dankbare Hamburg seinen Freunden in der Not“. Er enthält eine Bilanz der Zerstörung, der Toten, betroffenen Menschen, aber auch der finanziellen Unterstützung.
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Die vier Gäste wurden vom Ausstellungskenner Patrick Schröder durch das Schmidt-Forum geleitet. Am Ende berichtete Richard Knipp von einem Erlebnis, das ihm dauerhaft im Gedächtnis blieb. Als junger Mann arbeitete er im Service des Bundespresseballs in Bonn. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) war Stammgast. Beide kamen 1978 ins Gespräch. Zu später Stunde schenkte der Hamburger dem Rheinland-Pfälzer ein Keramikfläschchen mit Schnupftabak. Dieses Erinnerungsstück hielt Richard Knipp seitdem zu Hause in Ehren. Bis es ihm die Flut nahm.
Der fünfteilige Doku-Podcast über „Die Flut“ erscheint am Mittwoch, 16. Februar: Kostenlos anhören auf abendblatt.de/podcast/flut, in den Abendblatt-Apps „Podcast“ und „E-Paper“ und auf den gängigen Podcast-Plattformen