Die Übergriffe auf Schüler am Berliner Canisius-Kolleg wurden Jahrzehnte von der katholischen Kirche ignoriert. Schweigen hat Tradition.
Hamburg. Man hat uns nicht vorgewarnt." "Sie haben uns im Stich gelassen." "Der Erzbischof hat auf unseren Brief nie geantwortet." Es sind solche Sätze, die immer wieder auftauchen, aus denen eine tiefe Desillusionierung spricht. Menschen, deren Kinder oder die selbst von Priestern missbraucht wurden, hatten in ihrer Scham und ihrer Not bei der katholischen Kirche Schutz gesucht, Verständnis erwartet. Aber sie wurden enttäuscht. Immer wieder prallten sie auf eine Mauer des Schweigens.
Das erlebten nicht nur die acht ehemaligen Schüler des Berliner Canisius-Kollegs, die 1981 im Erwachsenenalter endlich den Mut hatten und in einem Brief an das bischöfliche Ordinariat in Berlin von ihren Missbrauchserfahrungen am Kolleg berichteten. "Es kam nie eine Reaktion", sagte einer der Unterzeichner jetzt dem Berliner "Tagesspiegel".
Das Auftauchen und Verschweigen von Missbrauchsfällen erschüttert die katholische Kirche seit Ende der 1990er-Jahre fast noch tiefer als der Streit um die Abtreibung in den 1970ern. In Irland wurden Tausende Kinder zwischen den 30er- und 90er-Jahren in katholischen Heimen, Anstalten und Werkstätten missbraucht und misshandelt - von Priestern, Mönchen, Nonnen. Eine Kommission unter der Richterin Yvonne Murphy belegte, dass vier Bischöfe beschuldigte Kirchenangehörige systematisch geschützt hatten. So wurden zwischen 1975 und 2004 in Irland mehr als 300 Fälle von Kindesmissbrauch verschleiert.
In Australien gehen zahlreiche Fälle auf die 1960er-Jahre zurück. Erst heute haben sich die inzwischen 40- bis 50-jährigen Opfer organisiert und werden ernst genommen. Bisher wurden 107 Priester und katholische Lehrer wegen Missbrauchs verurteilt.
In den USA erschütterte um das Jahr 2000 eine ganze Serie von Missbrauchsfällen seit den 1940er-Jahren die Öffentlichkeit. Landesweit klagten mehr als zehntausend Opfer. Allein die Erzdiözese Los Angeles musste an 500 Kläger 660 Millionen US-Dollar Entschädigung zahlen. Das jahrelange Wegsehen wurde sehr, sehr teuer.
Auch in Deutschland wurden immer wieder Missbrauchsfälle bekannt. Priester wurden versetzt, Bischöfe versprachen interne Klärung, Gemeinden wurden nicht informiert. Die Deutsche Bischofskonferenz gibt heute zu, man habe "häufig unangemessen reagiert". "Es ist immer wieder diese Scham, dieses Verletzt-worden-Sein, dieses Nicht-darüber-reden-Können, was die Leute über viele Jahre verfolgt", sagt die Berliner Rechtsanwältin Ursula Raue, die jetzt die Fälle am Canisius-Kolleg untersucht.
Laienorganisationen gewannen den Eindruck, dass der Kirche die Unantastbarkeit ihrer Priester mehr wert sei als der Schutz von Opfern. Die amerikanischen Erfahrungen bewirkten aber offenbar ein allgemeines Umdenken.
Das Regular, das die Deutsche Bischofskonferenz 2002 für den Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs durch Geistliche vorlegte, ist eine eindrückliche Selbstverpflichtung. Jedes Bistum soll eine zentrale Anlaufstelle für Missbrauchsfälle einrichten. Nach einer Voruntersuchung sollen der Vatikan und auch die Polizei informiert werden, Opfer sollen Hilfen bekommen, eine Wiederholung durch den Täter soll ausgeschlossen werden.
Ein Anfang immerhin. Seit Beginn seines Pontifikats hat sich Papst Benedikt XVI. mit Opfern getroffen, in den USA, in Australien und Irland. Er setzt sich für eine Null-Toleranz-Politik gegenüber sexuellen Straftätern in der Kirche ein.
Aber die Probleme sind geblieben.
"Vorbeugung" hatte die Deutsche Bischofskonferenz angekündigt. Mehr Sorgfalt bei der Auswahl von Priestern hatte Papst Benedikt gefordert. Aber wie vorbeugen, und welche Art von Sorgfalt? Es gibt unter Missbrauchstätern mehr verheiratete Männer als Priester. Aber verleitet der Zölibat und die rigide Sexualmoral der Kirche die Priester immer wieder zu diesen Übergriffen?
Die Zustände am Priesterseminar im österreichischen St. Pölten 2004 zeigten die Dringlichkeit, diese Fragen zu klären. Die katholischen Studenten hatten Tausende Kinderpornofotos aus dem Internet auf den Seminarcomputer heruntergeladen, außerdem war es unter Mitwirkung der beiden Seminarleiter regelmäßig zu Partys "mit homosexuellen Handlungen" gekommen.
Der zuständige Bischof Kurt Kren spielte das Ganze als "Bubendummheiten" herunter. Er musste gehen und sein Sekretär, einer der "mitwirkenden" Seminarleiter, wurde in ein Altenheim versetzt. Ein Jahr später wurden vom St. Pöltener Bibliothekscomputer aus wieder Pornoseiten angeklickt.
Es ist die Bredouille einer Institution, die zwischen Priestern und Laien einen besonders hohen Zaun zieht: Mit ihrer Weihe stehen Priester in der Nachfolge der Apostel. Sie haben Sonderrechte vor den anderen Gläubigen. Nur sie dürfen deren Privatleben in der Beichte ausforschen, nur sie dürfen die Sakramente austeilen. Die Kirche hat ihre Priester immer als Hüter christlicher Sittlichkeit definiert, und nun muss sie erkennen, dass unter diesen Hirten auch Wölfe sind.
Wie glaubwürdig ist denn noch das Bild vom Priester als einem "heiligen Außenseiter", der sich vom weltlichen Zirkus in eiserner Selbstgenügsamkeit fernhält? Was für eine Sorte Mensch soll dieser Priester sein? Zieht die Lebensform dieses Priesters Menschen an, die ihre Sexualität nicht im Griff haben? Hat jemand, der das Gelübde der Enthaltsamkeit abgelegt hat, deshalb automatisch seine Sexualität im Griff?
Die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg stellen die katholische Kirche vor eine schwierige Herausforderung - weil sie strukturelle Probleme offenbaren. Psychologe Georg Kohaupt arbeitet am Berliner Kinderschutz-Zentrum, er fordert nun eine offenere Diskussion über Nebenwirkungen des Zölibats und mehr Präventionsangebote. "Wenn jemand, der selbst seine Sexualität nicht leben darf, mit Jugendlichen zusammenkommt, für die Sexualität gerade spannend wird, dann ist das eine hochexplosive Mischung."
Die Kirche müsse wissen, dass sie mit dem Gelöbnis des Zölibats auch Menschen anziehe, die vielleicht Schwierigkeiten mit ihrer Sexualität haben. "Das heißt, es werden oft bestimmte Leute Priester und entschließen sich, zölibatär zu leben." Und zweitens, erklärt Kohaupt weiter, ganz ohne Sexualität könne niemand leben. "Man kann sie nur beiseitepacken oder unterdrücken." Die katholische Kirche müsse nun erkennen, dass das Problem nicht von Einzelnen gemacht wurde, sondern mit der Kirche selbst zu tun habe.
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