Der Verband warnt vor weiteren Verzögerungen. Scheer: “Die Patienten haben ein Anrecht auf einen vertrauensvollen Umgang mit ihren sensiblen Gesundheitsdaten.“

Hamburg/Berlin. Wegen des anhaltenden Streits um die elektronische Gesundheitskarte (e-Card) hat die Telekom- und Internetbranche die Politik vor einer weiteren Verzögerung bei dem Milliardenprojekt gewarnt. Der Präsident des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und Neue Medien (Bitkom), Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer, stellt sich im Interview den Fragen von abendblatt.de. Mit mehr als drei Jahren Verzögerung soll die neue Gesundheitskarte vom 1. Oktober an nun in der Region Nordrhein an die ersten Versicherten ausgegeben werden, heißt es im Gesundheitsministerium. Die Kassenärztliche Vereinigung und die Krankenkassen hätten den Termin bestätigt. Derzeit würden die nötigen Lesegeräte in Arztpraxen und Krankenhäusern installiert. Nach Nordrhein sollen nach und nach alle anderen Regionen in Deutschland die neue Karte bekommen.

abendblatt.de: An der elektronischen Gesundheitskarte gibt es harsche Kritik von den Ärzten, Patienten und der Opposition: Die Große Koalition scheint das Mega-Projekt bis nach der Bundestagswahl aussitzen bzw. verschieben zu wollen. Wie bewertet Ihr Verband das? Welche Folgen hat das für den Technologiestandort Deutschland?

Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer: Wer sechs Jahre nach dem politischen Entschluss und drei Jahre nach dem ursprünglich vorgesehenen Starttermin die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte ausbremst, gefährdet das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Politik. Nur unter verlässlichen Rahmenbedingungen können innovative Großprojekte wie die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte umgesetzt werden.

abendblatt.de: An der Karte und ihrer Konfiguration scheint vieles nicht zusammenzupassen. Wurde der Sachverstand der Industrie überhört?

Scheer: Der Sachverstand wurde gehört, aber nicht umgesetzt. Jetzt soll die Wirtschaft für Verzögerungen beim Aufbau der Telematik-Infrastruktur verantwortlich gemacht werden, auf die sie keinen Einfluss hat. Selbstverständlich dürfen Kassen und Ärzte erwarten, dass bestellte Komponenten fristgerecht, in der geforderten Qualität und Funktionalität geliefert werden. Wenn allerdings die Anforderungen an das Produkt permanent verändert werden, kommt es zwangsläufig zu Verschiebungen. Die Unternehmen brauchen neben Investitionssicherheit und belastbaren Zeitplänen vor allem Spezifikationen, die nicht laufend geändert werden.

abendblatt.de: Was kostet eine weitere Verschiebung des sogenannten Basis-Rollouts? Gibt es eine Deadline, bis zu der die IT-Branche sagt: Bis dahin muss die Karte eingeführt sein?

Scheer: Die Bitkom-Firmen haben bis heute rund 300 Millionen Euro in die Gesundheitskarte vorinvestiert. Die Unternehmen haben darauf gesetzt, dass sich dieses Vertrauen auszahlt. So gesehen liegt die Deadline gestern.

abendblatt.de: Wie kann man das Projekt noch retten oder sind alternative e-Health-Anbindungen in der Gesundheit denkbar, auch über preisgünstige USB-Sticks?

Scheer: Die Patienten haben ein Anrecht auf einen vertrauensvollen Umgang mit ihren sensiblen Gesundheitsdaten. Die elektronische Gesundheitskarte und die dahinter stehende Telematik-Infrastruktur gewährleisten das. Nur nach Freigabe durch die Patienten können Mediziner die elektronische Patientenakte einsehen. Dadurch wird Missbrauch verhindert. Zudem werden alle medizinischen Dokumente nach dem jeweiligen Stand der Technik verschlüsselt. Speicher wie USB-Sticks dauerhaft sicher zu halten, ist viel schwieriger. Zudem sind nicht nur die Daten auf dem Stick in Gefahr. Die Speichermedien selbst können ungewollt Computerviren oder Trojaner übertragen und somit zum Sicherheitsrisiko für das Informationssystem des Arztes werden.