Ministerpräsident Kretschmann ist knapp 100 Tage im Amt – „Stuttgart 21“ überschattet Start
Stuttgart. Dass die Erwartungen an seine grün-rote Regierung groß sein würden, dessen war sich Winfried Kretschmann (Grüne) von Anfang an bewusst. Er wisse, dass die Schonzeit in der Regel 100 Tage beträgt, mit einem Augenzwinkern hatte er jedoch schon kurz nach seiner Wahl den Wunsch geäußert, dass er für sich gerne 150 Tage ein Anspruch nehmen würde.
Die Bilanz des Regierungsstarts fiel unter dem Eindruck des Streits um „Stuttgart 21“ so auch etwas holprig aus. Beobachter wie der Freiburger Politikwissenschaftler Ulrich Eith plädieren deshalb dafür, Grün-Rot ein Jahr zur Umsetzung erster politischer „Duftmarken“ zuzubilligen.
„Eine völlig neue Regierung nach so vielen Jahrzehnten braucht eigentlich länger, um die eigenen Schwerpunkte deutlich werden zu lassen“, sagt Eith im dapd-Interview. Nach 58 Jahren ununterbrochener CDU-Regierung könne so schnell keine Regierungsroutine vorausgesetzt werden. Zudem leide die baden-württembergische Politik am alles überlagernden Thema „Stuttgart 21“.
Zwar wurden Kernprojekte wie die Abschaffung der Studiengebühren oder der Grundschulempfehlung auf den Weg gebracht. Doch solange der Streit um den Bahnhof weiter tobt und die Volksabstimmung nicht den finalen Schlussstrich gezogen hat, wird man auf Fortschritte bei grün-roten Projekten wie mehr nachhaltige Mobilität, die Umstellung auf erneuerbare Energien und mehr Liberalität in der Bildungspolitik warten müssen.
Bereits deutlich erkennbar ist jedenfalls Kretschmanns Handschrift im Sinne einer „Politik des Gehörtwerdens“. Bei „Stuttgart 21“ agierte er immer zurückhaltend, den Grünen verordnete er trotz gegensätzlicher Sicht, den Stresstest wie verabredet zu akzeptieren.
Auf dem Stuttgarter Marktplatz stellte sich der Sigmaringer, der nach eigenen Worten am liebsten unten in der Stadt und nicht von der Halbhöhe der Villa Reitzenstein regieren würde, gleich nach der Wahl allen Fragen der Bürgerschaft. Auch Wirtschaft und Industrie zeigten sich trotz anfänglicher Irritationen über seinen Vorschlag, die Autoproduktion zu drosseln, erfreut über seine Gesprächsbereitschaft und Offenheit.
Seine Rolle als Landesvater fand der 63-Jährige schnell. Selbst einer seiner Vorgänger, Erwin Teufel, und Bundeskanzlerin Angela Merkel (beide CDU) lobten öffentlich seine „besonnene“ Art. So mancher CDU-Anhänger fühlt sich bei seinem bedächtigen und nachdenklichen Auftreten an Teufel erinnert, der wie Kretschmann allein durch die Dialektfärbung den kleinstädtisch-ländlichen Habitus des Bundeslandes repräsentiert.
Für viele Beobachter ist Kretschmann zudem zur eigentlichen Hauptperson bei den Grünen geworden. Während die Parteichefs Claudia Roth und Cem Özdemir sowie die Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Renate Künast und Jürgen Trittin, die Bundesregierung als Oppositionsführer vor sich hertreiben, sitzt Kretschmann im Bundesrat bei wichtigen Entscheidungen mit am Tisch. So auch im Juni und Juli, als Bundeskanzlerin Merkel im Konsens mit den Ministerpräsidenten den Atomausstieg schmiedete. Für Kretschmann war das eine „epochale Entscheidung“.
Nach knapp 100 Tagen im Amt ist Kretschmann sich selbst treu geblieben. „Die Biegekräfte in so einer Position sind schon recht groß“, räumte Kretschmann im Juni ein. „Aber man muss schauen, dass man nicht verbogen wird, sondern immer wieder zu seiner Ausgangsposition zurückschnellt.“ Auch bei strittigen Themen scheut sich der 63-Jährige nicht, seine Meinung darzulegen – auch wenn sie vom Koalitionsvertrag abweicht.
Ein erster Höhepunkt seiner Regentschaft wird für den glühenden Katholiken das Treffen mit Papst Benedikt XVI. am 24. September in Freiburg sein. Seelsorge von oberster Stelle dürfte er für den anstehenden Herbst auch nötig haben, wenn bei „Stuttgart 21“ die eigentliche Zerreißprobe für Kretschmanns Bündnis ansteht: Sollte es wie geplant zur Volksabstimmung über das Bahnprojekt kommen, muss der Regierungschef gegen seinen Koalitionspartner Wahlkampf machen. Dass sich die geforderten rund 2,6 Millionen Bürger gegen das Projekt aussprechen, scheint kaum zu schaffen.
So könnte es passieren, dass sich in der Abstimmung zwar eine Mehrheit gegen „Stuttgart 21“ ausspricht, das Projekt aber trotzdem gebaut werden muss. Ob die Demonstranten, die Kretschmann maßgeblich in Amt gehievt haben, dafür Verständnis haben werden und der Konflikt dadurch befriedet wird, bleibt abzuwarten.
Dass Kretschmann nach Abflauen des Bahnhofstreits beginnt, das ganze Land umzukrempeln, wird mitnichten erwartet, wohl aber, die Spitzenposition des Landes zu halten und die Wirtschaft für die Zukunft fit zu machen. Gerade in der Automobilindustrie hat er mit seiner grünen Vision alle Chancen dazu, wenn er das richtige Maß ansetzt.