Ökostrom-Branche sieht keine Gefahr von Stromausfällen durch Atomausstieg. In zehn Jahren könnte der letzte Meiler vom Netz gehen.
Hamburg. Auch bei einem völligen Ausstieg aus der Atomenergie droht Deutschland nach Ansicht von Vertretern der Erneuerbaren-Energien-Branche keine Energie-Versorgungslücke. "Stromausfälle müssen wir nach dem Ende der Atomkraft auf keinen Fall fürchten", sagte Björn Klusmann, Geschäftsführer des Bundesverbandes Erneuerbare Energie (BEE), dem Hamburger Abendblatt. Entsprechende Befürchtungen waren gestern von Vertretern der Energieerzeuger geäußert worden. "Deutschland kann ohne Probleme auf die acht bereits abgeschalteten AKWs verzichten", sagte auch Christian Friege, Chef des Hamburger Ökostrom-Anbieters Lichtblick, dem Abendblatt. Die bayerische Landesregierung will nun ähnlich den norddeutschen Ländern verstärkt auf Windkraft setzen und bei den erneuerbaren Energien sogar eine führende Rolle einnehmen. Das kündigte Bayerns Umweltminister Markus Söder (CSU) gestern an.
BEE-Geschäftsführer Klusmann versicherte, Deutschland verfüge noch über riesige Leistungsreserven und müsse sich deswegen auch nicht sorgen, eventuell zum Stromimporteur zu werden. Mittelfristig gebe es genügend Alternativen zur Kernenergie. "Die Windenergie alleine kann die Atomkraft nicht ablösen, auch die Solarenergie kann das nicht. Aber im Verbund können die wichtigen erneuerbaren Energien zusammen auf jeden Fall bis 2020 die Leistung der deutschen Atomkraftwerke ersetzen und insgesamt 50 Prozent des gesamten deutschen Stromverbrauchs decken", betonte Klusmann. Er forderte die Bundesregierung dazu auf, nun endgültig auf eine Laufzeitverlängerung zu verzichten und keine weiteren Kürzungen bei der Vergütung erneuerbarer Energien vorzunehmen.
Eine im Auftrag des Bundesverbands Windenergie (BWE) erstellte Studie des Fraunhofer-Instituts für Windenergie und Energiesystemtechnik hat ergeben, dass bei einer Nutzung von zwei Prozent der Fläche des Landes für Windräder rund 390 Terawattstunden Strom pro Jahr geliefert werden könnten. Dieses Potenzial liege um mehr als das Doppelte über dem derzeitigen Beitrag der Kernenergie, sagte BWE-Präsident Hermann Albers. Er forderte die Bundesregierung auf, die geplante Neufassung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Interesse eines rascheren Ausstiegs aus der Kernkraft voranzubringen. Nach Ansicht von Lichtblick-Chef Friege kann der vollständige Atomausstieg innerhalb eines Jahrzehnts gelingen: "Der letzte Meiler kann dann in fünf bis zehn Jahren vom Netz", sagte Friege. Vor allem die Windkraft mache dies möglich, die Politik müsse aber zusätzlich die Markteinführung intelligenter Energien fördern, die bei einer Flaute einspringen könnten. Das können zum Beispiel effiziente und vernetzte Mini-Gaskraftwerke sein, wie Lichtblick sie bereits in Hamburg betreibe. "Mit 100 000 dieser ,Zuhausekraftwerke' können wir in Zukunft zwei AKWs ersetzen", betonte Friege.
Unterdessen hat die bayerische Landesregierung ihren langjährigen Widerstand gegen den Ausbau der Windkraft aufgegeben. "Ich möchte bei der Windkraft eine Verdopplung der Anlagen, was einer Vervierfachung der Leistung entsprechen würde", sagte Umweltminister Söder. Bayern habe beim Ausbau der Windenergie "Nachholbedarf". Die Staatsregierung will im Verlauf der nächsten zehn Jahre so weit wie möglich den Ausstieg aus der Kernenergie schaffen. Söder bekräftigte, dass das derzeit abgeschaltete Atomkraftwerk Isar 1 bei Landshut nicht mehr ans Netz gehen soll.
Laut Bundesagentur für erneuerbare Energien rangierte der Freistaat 2010 im Vergleich der 16 Länder nur noch auf Platz acht, in der Windenergie sogar auf dem letzten Platz. "Ich glaube schon, dass es das bayerische Ziel sein muss, bei den erneuerbaren Energien ganz nach vorne zu kommen", sagte Söder. Hauptproblem bei der Windkraft ist nach Söders Einschätzung aber nicht die Suche nach geeigneten Standorten, sondern der große Widerstand gegen Windräder in vielen Kommunen. "Das muss natürlich mit dem Bürger geschehen", sagte Söder. "Wir glauben, dass der Bürger überzeugbar ist."
Der baden-württembergische Grünen-Politiker Boris Palmer forderte seine Partei auf, den Ausbau erneuerbarer Energien auch gegen den Widerstand örtlicher Bürgerinitiativen durchzusetzen. Die Energiewende in Deutschland erfordere "mehr Speicher und Hochspannungsleitungen, und sie wird die Optik des Landes verändern", kündigte Palmer weiter an. Betroffenen Bürgern müssten auch die Grünen sagen: "Jawohl, das ist eine Beeinträchtigung für euch, aber sie ist im Vergleich zu den Risiken des Klimawandels oder der Atomkraft eben die kleinere Belastung."