Die neue Ethikkommission “Sichere Energieversorgung“ soll die Basis für den Atomausstieg legen. Die Wirtschaft warnt vor Stromimporten.
Hamburg/Berlin. Die Debatte um den Ausstieg aus der Atomenergie gewinnt an Fahrt. Während gestern die von der Bundesregierung einberufene Ethikkommission zu ihrer ersten Sitzung zusammenkam, warnten der Energieverband BDEW und der Stromkonzern RWE vor Stromausfällen infolge eines schnellen Abschaltens deutscher Kernkraftwerke.
Viel Zeit bleibt der neuen, 17-köpfigen Kommission nicht: Bereits im Mai soll sie Ergebnisse vorlegen. Die zur Auftaktsitzung erschienene Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) machte klar, was sie von dem Gremium erwartete: "Wie schaffen wir mit einer endlichen und möglichst kurzen Laufdauer der Kernkraftwerke eine Energiewende mit Augenmaß und welche Zielkonflikte gibt es dabei?" Der Regierungschefin fielen auch gleich mehrere mögliche Konflikte ein, über die die Experten diskutieren sollen: Wie sicher müssten Kernkraftwerke sein? Welche Auswirkung habe der Ausstieg der CO2-armen Kernenergie für die Klimaschutzziele? Der Zeitrahmen sei "ausgesprochen anspruchsvoll", räumte Merkel ein.
Der Ethikkommission gehören Vertreter von Kirche, Gewerkschaften, Wissenschaft und Politik an. Auch der ehemalige Bundesbildungsminister und Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi nimmt an der Runde teil, die von dem ehemaligen Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU) geleitet wird. Töpfer mahnte gestern zu einem umsichtigen Ausstieg aus der Kernenergie. "Man muss es in einer Weise lösen, dass nicht soziale Verwerfungen in Kauf genommen werden", sagte er. "Es reicht nicht zu sagen: Wir schalten ab. Wir müssen auch klären, wie wir unsere anderen Ziele erreichen wollen." Es dürfe keinen Atomausstieg zu Lasten der Umwelt und des Klimas geben, erklärte der CDU-Politiker. Zudem kritisierte er auch ein Überangebot an Energie: "Wir müssen sehen, dass wir uns daran gewöhnt haben, sehr viel Energie verfügbar zu haben zu vergleichsweise günstigen Preisen."
Der Kovorsitzende der Ethikkommission, Matthias Kleiner, warnte vor den Folgen eines übereilten Atomausstiegs. "Es wäre nichts gewonnen, wenn wir zwar unsere Atomkraftwerke schneller abschalten, aber dafür Atomstrom aus dem Ausland importieren", sagte der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Er zeigte sich skeptisch angesichts der künftigen Rolle der Kernenergie: "Jede Technologie, die für Menschen heute unkalkulierbar und nicht beherrschbar ist, ist eine Hypothek, die wir unseren Kindern nicht hinterlassen dürfen." Es gebe allerdings die Gefahr von möglichen Versorgungslücken. Beim Vergleich von Kosten und Risiken unterschiedlicher Optionen müsse man auch das Risiko von Stromausfällen berücksichtigen, sagte Kleiner.
Auf dieses Risiko wiesen unterdessen auch Vertreter der Industrie hin. Der RWE-Manager und ehemalige Hamburger Umweltsenator Fritz Vahrenholt (SPD) warnte vor einem Blackout in Süddeutschland. Dieser werde derzeit nur durch die erheblichen Stromimporte aus Frankreich und Tschechien verhindert, sagte Vahrenholt der "Welt". Mehr Importe seien jedoch nicht möglich: "Die Leitungen von dort sind bis zum Anschlag ausgelastet", sagte der Chef der RWE-Sparte für Erneuerbare Energien, Innogy. Sofern nicht die Erzeugung und der Transport von Strom aus erneuerbaren Energien schnell ausgebaut würden, sei in Süddeutschland "eine solch extreme Unterversorgung" zu befürchten, "dass zur Vermeidung eines Blackouts Industriebetriebe und vielleicht sogar ganze Städte abgeschaltet werden müssen". Zudem sei mit steigenden Strompreisen zu rechnen.
Der Präsident des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft, Mario Ohoven, sagte dem Hamburger Abendblatt: "Ein schnelles Abschalten der Meiler gibt es nicht zum Nulltarif." Der Ausbau erneuerbarer Energien sei kostspielig. Besonders energieintensive Branchen wie die Aluminium-, Stahl- oder Zementbranche könnten die zu erwartenden Strompreiserhöhungen kaum schultern, auch mittelständische Zulieferer müssten dann leiden. "Die Zeche für einen Turbo-Ausstieg müssten also letztlich wieder einmal Betriebe und Bürger zahlen", warnte Ohoven.
Seit Inkrafttreten des Atommoratoriums importiert Deutschland laut dem Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) doppelt so viel Strom aus Frankreich wie bislang. Zudem sei die Bundesrepublik vom Nettoexporteur zum Nettoimporteur von Strom geworden, erklärte BDEW-Chefin Hildegard Müller gestern auf der Hannover Messe.
Eine Sprecherin des Bundesumweltministeriums widersprach dieser Darstellung: "Wir bleiben Netto-Stromexporteur."