Der Generalsekretär der FDP, Christian Lindner, über die Existenzkrise seiner Partei - und warum ihm Guido Westerwelle nicht leidtut.
Hamburg. Es war eine Begegnung in turbulenter Zeit: Am Sonntag erklärte Guido Westerwelle seinen Verzicht auf den Parteivorsitz, am Dienstag kündigte Philipp Rösler seine Kandidatur an, und am Freitag besuchte Christian Lindner - den viele für die prägende Kraft in der neuen FDP halten - die Redaktion des Hamburger Abendblatts. Im Interview erklärt der Generalsekretär, wie er die Liberalen aus der Krise führen will.
Hamburger Abendblatt:
Herr Lindner, was empfinden Sie, wenn Sie an Guido Westerwelle denken?
Christian Lindner:
Respekt und Anerkennung für zehn erfolgreiche Jahre als Vorsitzender der FDP.
Auch Mitleid?
Lindner:
Nein, das hat er nicht nötig. Er ist eine Persönlichkeit, ein Routinier der Politik und wird als Außenminister seine politische Arbeit fortsetzen.
Ist es anständig, wenn ein Generalsekretär gegen seinen Parteichef putscht?
Lindner:
Wie kommen Sie auf die Idee, hier sei geputscht worden? Guido Westerwelle hat selbst entschieden.
Der Eindruck war ein anderer.
Lindner:
Es war seine souveräne Entscheidung, das Parteiamt zur Verfügung zu stellen. Mein persönliches Vertrauens- und Loyalitätsverhältnis zu ihm ist ungetrübt. Wir haben diese schwierige Phase ohne persönliche Verletzungen gestaltet.
Warum haben Sie den Parteivorsitz nicht gleich selbst übernommen?
Lindner:
Philipp Rösler ist ein kompetenter, durchsetzungsstarker Politiker und nebenbei auch noch sympathisch. Er führt das Team. Meine Arbeit am neuen Grundsatzprogramm ist nicht abgeschlossen - eine historische Gelegenheit, die FDP programmatisch zu erneuern. Außerdem scheint es mir unpassend, mit 32 Jahren, noch unverheiratet, noch kinderlos eine Regierungspartei zu führen.
Was wird aus den Wahlverlierern Homburger und Brüderle?
Lindner:
Wir haben ein Team gebildet, das viel stärker ist als einer alleine es wäre. Dazu gehören auch Rainer Brüderle, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Birgit Homburger.
Ein Generationswechsel sieht anders aus.
Lindner:
Wir werden mindestens fünf Positionen im Präsidium neu besetzen. Das ist ein Wechsel an der Parteispitze, wie es ihn in der Geschichte der FDP noch nicht gegeben hat.
Wird die Hamburger Wahlsiegerin Katja Suding dazugehören?
Lindner:
Es ist noch zu früh, über einzelne Namen für das Präsidium zu sprechen. Katja Suding wird die FDP weiter verstärken, auch über Hamburg hinaus.
Welche Autorität hat ein 38 Jahre alter Parteichef, der spätestens mit 45 in den politischen Ruhestand will?
Lindner:
Bis dahin ist ja noch genug Zeit. Philipp Rösler geht mit Leidenschaft in die Verantwortung. Daraus leitet sich seine Autorität ab.
Vielleicht ahnt Rösler ja, dass die FDP 2018 keine Rolle mehr spielt ...
Lindner:
Spaß beiseite. Deutschland braucht eine Partei wie die FDP. Wir behandeln die Bürger wie Erwachsene, die ihr Leben selbstverantwortlich gestalten. Die Sozialdemokraten und vor allen Dingen die Grünen behandeln die Bürger wie Kinder - mit dem moralischen Zeigefinger. Liberale wehren sich dagegen, dass ein feines Gespinst an Geboten und Verboten, Gesetzen und Subventionen über das Leben der Menschen gelegt wird.
Wollen die Bürger so viel Freiheit?
Lindner:
Absolut! Die 14,6 Prozent, die uns bei der Bundestagswahl gewählt haben, sind doch keine anderen Menschen geworden. Die sind immer noch leistungsorientiert, aber mit Verantwortung für das Ganze. Die verstehen unter Fairness und Solidarität immer noch Chancengerechtigkeit und nicht eine gleichmacherische Sozialpolitik.
Jetzt würden nur noch drei Prozent die FDP wählen.
Lindner:
Weil wir im Regierungshandeln enttäuscht haben. Zu wenig Fortschritt, vereinzelt Rückschritte.
Der Philosoph Peter Sloterdijk hat die FDP in der "Zeit" mit einer Bank verglichen, die ihre Geschäfte nur noch mit Illusionspapieren betrieben hat ...
Lindner:
Ein Bonmot. Am Mittwoch hat er eine Rede in Berlin gehalten. Er hat begründet, dass es in Deutschland eine klassisch liberale Kraft braucht, allein schon als Korrektiv. Deshalb müssen wir die FDP wieder erfolgreich machen.
Die FDP ist also systemrelevant. Werden die Liberalen einen Rettungsschirm beantragen?
Lindner:
Das wird nicht nötig sein. Wir nehmen Sloterdijk als Ansporn. Die FDP muss über Fragen, die materiellen Charakter haben, hinausdenken. Wir müssen unsere Programmatik in eine neue Balance bringen. Die Wirtschaftskompetenz bleibt zentral. Aber wir müssen größeres Gewicht auf Felder wie Bildung, sozialen Aufstieg und Integration legen. Die Sicherung der Privatheit muss uns ein Herzensanliegen sein. Der Schutz persönlicher Daten im Internet ist ein zentrales liberales Thema.
Rainer Brüderle warnt schon vor Säuselliberalismus.
Lindner:
Ich bin ebenfalls für klare Positionen.
Bleibt die FDP eine Steuersenkungspartei?
Lindner:
Ja, aber eben nicht nur.
Das bedeutet?
Lindner:
Wir wollen die Menschen entlasten. Aber die ökonomischen Rahmenbedingungen haben sich so verändert, dass der Schuldenabbau und die Steuervereinfachung Priorität haben.
Wann sinken die Steuern?
Lindner:
Das hängt von den Fortschritten bei der Haushaltskonsolidierung ab. Überflüssige Ausgaben, wie sie etwa die CSU mit dem Betreuungsgeld plant, müssen wir daher vermeiden. Wir halten an unserem Ziel fest, die kleineren und mittleren Einkommen noch in dieser Wahlperiode zu entlasten.
Was wird aus den Steuergeschenken für Hoteliers?
Lindner:
Die Regierung muss bis zum Sommer ihr Konzept für eine Mehrwertsteuerreform vorlegen. Nahrungsmittel und Kulturgüter sollen weiter den ermäßigten Mehrwertsteuersatz bekommen. Alles andere prüfen wir. Das Beherbergungsgewerbe hätte man nicht isoliert von der Gesamtreform regeln dürfen, obwohl dort Investitionen und neue Arbeitsplätze die Folge waren. Die Entscheidung hat die FDP in die Defensive gebracht.
Wird die FDP zur Anti-Atomkraft-Partei?
Lindner:
Die FDP ist nie eine Atomkraftpartei gewesen.
Ihre Wende in der Energiepolitik ist jedenfalls atemberaubend.
Lindner:
Keine Wende, sondern Beschleunigung vorheriger Pläne. Fukushima hat alle Parteien dazu gebracht, ihre Zeitpläne zu verändern. Die Grünen wollten die Kernkraftwerke bis 2022 laufen lassen. Jetzt wollen sie den letzten Meiler 2017 stilllegen. Das ist utopisch.
Wie sieht Ihr Zeitplan aus? Ähnlich wie der Atomkonsens von Schröder und Trittin?
Lindner:
Nein, wir wollen schneller auf Kernkraft verzichten, als dies im schwarz-gelben Energiekonzept vorgesehen ist. Aber es kann kein Zurück zu den rot-grünen Vorstellungen geben. Unter den Aspekten der Wirtschaftlichkeit, der Versorgungssicherheit und der Klimaverträglichkeit halte ich es für unrealistisch, 2022 das letzte Kernkraftwerk vom Netz zu nehmen. Würden wir die Laufzeiten überhaupt nicht verlängern, müssten wir neue Kohlekraftwerke bauen.
Sie hemmen den Ausbau der erneuerbaren Energien.
Lindner:
Im Gegenteil ist keine Regierung ehrgeiziger als wir. Wir schaffen überhaupt erst die Voraussetzungen. Dazu gehört ein beschleunigter Netzausbau. Wir müssen erheblich mehr Geld in die Hand nehmen, um neue Stromleitungen zu bauen - Geld des Staates und Geld der Verbraucher. Möglicherweise muss man bei der Planung vorgehen wie nach der deutschen Einheit: mit Planfeststellung per Gesetz.
Damit treiben Sie die Bürger auf die Barrikaden.
Lindner:
Das glaube ich nicht. Nach Fukushima gibt es Akzeptanz in der Bevölkerung für die Schaffung eines Energienetzes, das mehr Strom aus Sonnen- und Windkraft in die Haushalte transportiert.
Was soll mit Krümmel und den anderen stillgelegten Kraftwerken geschehen?
Lindner:
Meine Erwartung ist, dass die weit überwiegende Zahl der stillgelegten Altmeiler nicht mehr ans Netz geht. Diese Auffassung wird geteilt von CDU-Generalsekretär Gröhe, der CSU, mehreren FDP-Landesverbänden, der Opposition - und von 97 Prozent der Bevölkerung. Von Lindner allein zu Haus kann also keine Rede sein.
Bleibt die Union der einzig mögliche Koalitionspartner der FDP?
Lindner:
Die FDP muss mit allen demokratischen Parteien prinzipiell koalitionsfähig sein - aber nicht zu jedem Zeitpunkt mit jedem. In Hamburg beispielsweise sahen SPD-Persönlichkeiten wie Henning Voscherau eine sozialliberale Perspektive. In Nordrhein-Westfalen ist das schwieriger. Die FDP kann der grün-roten Verschuldungspolitik nicht die Hand reichen.
Und im Bund ?
Lindner:
SPD und Grüne haben sich programmatisch von der Agenda 2010 entfernt und auf die Linkspartei zubewegt. SPD und Grüne haben sich von Schröder und Fischer wegentwickelt - hin zur Linken. Lafontaine bestimmt heute den Kurs von SPD und Grünen stärker als zu seinen SPD-Zeiten. Eine Koalition kann ich mir da nicht vorstellen.
Was müssen Union und FDP bis zum Ende der Wahlperiode noch anpacken, damit Schwarz-Gelb nicht als Missverständnis in die Geschichte eingeht?
Lindner:
Lassen Sie mich drei Felder herausstellen. Erstens: Wir bauen Steuerbürokratie und Schulden ab. Zweitens: Wir verbessern Aufstiegschancen, indem wir mehr tun für Frühförderung der Kinder und für die Integration von Geringqualifizierten. Drittens: Wir sorgen für bürgerrechtliche Standards auch im Internet. Das richtet sich nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen private Unternehmen, die mit Daten hantieren.
Planen Sie eine Fusion mit der Piratenpartei?
Lindner:
(lacht) Nicht alles, was die Piratenpartei sagt, ist schlecht. Manches stammt ja aus dem Programm der FDP.