Die Atomdebatte erschwert der Union den Wahlkampf. Die Grünen sehen sich wieder im Aufwind. Merkel versucht sich auf einmal wieder als Macherin.
Berlin. Es hätte eigentlich ein schöner Ausflug werden können. Umgeben von Waldgebieten ist die Kleinstadt Waldshut-Tiengen im Südwesten Baden-Württembergs. Direkt am Rhein gelegen, die Schweiz auf der anderen Uferseite. Idyllisch geradezu. Und auch das Programm von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) für den gestrigen Abend ist nicht allzu anspruchsvoll gehalten: Sie soll ordentlich Wahlkampf machen, die Parteifreunde im Ländle motivieren und sich dann ins Goldene Buch von Waldshut-Tiengen eintragen. Fertig, auf zum nächsten Termin.
Doch seit die Atomdebatte tobt, ist im Wahlkampfland Deutschland alles nicht mehr so leicht. "Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen", hat Merkel dieser Tage wiederholt betont. Für Baden-Württemberg gilt das allemal. Es ist Stammgebiet der CDU und die Fortsetzung der nunmehr fast 58 Jahre andauernden Regentschaft der Christdemokraten scheint akut gefährdet. Das erneute Aufflammen der Anti-Atom-Proteste verschlimmert die Situation - denn traditionell profitieren die Oppositionsparteien und vor allem die Grünen von einer solchen Stimmung in der Bundesrepublik. Das war schon im Herbst so, als die Menschen wegen des umstrittenen Endlagers Gorleben auf die Straße gingen. Und auch im aktuellen Forsa-Wahltrend hat die Öko-Partei in einer Woche zwei Prozentpunkte zugelegt und kommt jetzt auf 18 Prozent. Auf Bundesebene liegen SPD und Grüne mit 44 Prozent wieder vor Union und FDP mit 41 Prozent (siehe Grafik). Für die Kanzlerin ist das nur zwei Wochen vor der wichtigen Landtagswahl in Baden-Württemberg hochgefährlich. Die "Kernfrage" bedroht ihr Kernland. Und damit vielleicht auch die Fortdauer der schwarz-gelben Bundesregierung.
Merkel scheint das zu ahnen. Denn der schnell herbeigeführte und tief greifende Schwenk ihrer Atompolitik lässt sich anders kaum erklären. Zwar sind die Katastrophe in Japan und die Reaktoren in Fukushima rund 9000 Kilometer von Berlin entfernt - jedoch reicht das nicht, um die Kanzlerin vor politischem Schaden zu schützen. Sie steckt in einem Dilemma: Einerseits muss sie auf die Stimmung der Menschen und Wähler reagieren. Und die machen sich derzeit mehrheitlich Sorgen über die Gefahren von Atomenergie. Andererseits ist da aber nun mal ein großes Energiekonzept, das die Bundesregierung im vergangenen Herbst beschlossen hat und das bekanntlich den Ausstieg vom einst unter Rot-Grün vereinbarten Ausstieg aus der Atom-Energie bedeutet. Ein radikales Abweichen wird sofort als ein Akt von Opportunismus und Aktionismus kritisiert. In einer solchen Zwickmühle versucht Merkel jetzt zu managen, wo es zu managen geht - und inszeniert sich nach langer Zeit mal wieder als Krisenkanzlerin, die anpackt, wenn es denn sein muss. In der letzten großen Konfliktsituation, der Plagiatsaffäre von Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, hatten manche genau das vermisst.
Die Frage ist nur, ob Merkel es schafft, auch die Balance zu halten. Denn kaum hatte sie ihre Entscheidung bekannt gegeben, dass nun alle 17 deutschen Atommeiler einer dreimonatigen Sicherheitsprüfung unterzogen werden und die sieben ältesten Kraftwerke vorübergehend vom Netz gehen, witterte die Opposition pure Wahlkampftaktik. SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier schimpfte: "Schwarz-Gelb steht vor dem kompletten Scheitern seiner Energiepolitik."
Vor allem aber geht es um die Glaubwürdigkeit der Bundeskanzlerin. Die hatte bereits in der Causa Guttenberg gelitten, als Merkel trotz großer Proteste Zehntausender Wissenschaftler an dem einstigen Unions-Hoffnungsträger festhielt. Auch das hatte sich sofort in sinkenden Umfragewerten manifestiert.
Erster richtiger Stimmungstest wird jedoch die Wahl in Sachsen-Anhalt am kommenden Sonntag sein. Auch hier ist keinesfalls ausgemacht, wer künftig das Ruder übernimmt. Zwar ist die CDU nach jüngsten Umfragen weiterhin stärkste Kraft, doch krebst die FDP nach wie vor in der Nähe der Fünfprozenthürde herum. Für Rot-Grün dürfte es ebenfalls nicht reichen, wohl aber für Rot-Rot. In Rheinland-Pfalz wiederum, wo zeitgleich mit Baden-Württemberg am 27. März gewählt wird, ist für die CDU nur schwer etwas zu holen. Der dortige SPD-Landesvater Kurt Beck ist der am längsten amtierende Ministerpräsident der Bundesrepublik und gedenkt, es auch dabei zu belassen. Mit einem rot-grünen Bündnis dürfte das nach derzeitiger Umfragenlage kein Problem werden. Dazu kommt das wackelige Baden-Württemberg. Dass Stefan Mappus seinen Stuhl in der Stuttgarter Staatskanzlei behalten darf, ist keinesfalls gesichert.
Und dann hat Angela Merkel noch ein ganz anderes Problem. Es heißt Norbert Röttgen, seines Zeichens Bundesumweltminister - zumindest noch. Denn seit das Bundesverfassungsgericht den Haushalt der rot-grünen Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen gekippt hat, werden dort Neuwahlen immer wahrscheinlicher. Röttgen hat sich hier als Spitzenkandidat aufstellen lassen. Kommt es hart auf hart, wird er sich bald in die Landespolitik verabschieden. Die Kanzlerin wird dann schnell einen neuen Umweltminister aus dem Hut zaubern müssen - oder das gesamte Kabinett umbilden.
Beides ist nicht ganz einfach, denn fähiges Personal ist Mangelware. Schon der neue CSU-Innenminister Hans-Peter Friedrich schien manchen als Notlösung. Zudem bringt eine Umstrukturierung der Regierungsmannschaft etwas mit sich, was Angela Merkel überhaupt nicht gern hat: Instabilität. Vielmehr mag sie es, wenn die Dinge ihre Ordnung haben. Doch es sieht vieles danach aus, dass sie darauf mindestens für einige Wochen verzichten muss.