Wie weit sich nukleare Verseuchung verbreiten kann, hängt wesentlich vom Wetter ab
Hamburg/Fukushima. Die Situation in den zerstörten Kraftwerksblöcken im japanischen Fukushima wird immer beängstigender. Das Hamburger Abendblatt beantwortet Fragen zu den Risiken der schlimmstmöglichen Unfallvariante:
Warum kann man Kernkraftwerke nicht einfach abschalten wie andere Kraftwerke auch?
In Kernkraftwerken wird der Brennstoff (meist angereichertes Uran, teils auch Plutonium) mit Neutronen beschossen. Dadurch spalten sich Atomkerne, die ihrerseits Neutronen abstrahlen und weitere Atomkerne spalten - die nukleare Kettenreaktion. Mithilfe von sogenannten Steuerstäben, die die Neutronen abfangen oder abbremsen, wird die Kettenreaktion gebändigt. Ist ein Kraftwerksblock heruntergefahren, sitzen die Steuerstäbe komplett zwischen den Brennstäben. Dadurch ist zwar die Kettenreaktion unterbrochen. Doch innerhalb der Brennstäbe geht der radioaktive Zerfall weiter. Dabei entsteht weiterhin enorm viel Wärme, die aus dem Reaktor abgeführt werden muss. Dieser Prozess klingt innerhalb einiger Tage ab.
Was passiert gerade in den Reaktoren?
Das ist ungewiss. Fest steht: In den drei Kraftwerksblöcken, die zum Zeitpunkt des Bebens in Betrieb waren und dann automatisch heruntergefahren wurden, werden die Brennstäbe im Reaktor nicht ausreichend gekühlt. Dadurch steigen dort Druck (durch das verdampfende Kühlwasser) und Temperatur in einem Ausmaß an, dass die Umhüllungen der Brennstäbe zu schmelzen beginnen. Die Aussagen, ob eine solche Kernschmelze bereits stattfindet, variieren seit Tagen. Einige Indizien sprechen aber dafür.
Im Block 4 war der Reaktor für Wartungsarbeiten geleert worden. Die Brennstäbe lagern oberhalb des Reaktordeckels im Abklingbecken. Wenn dort das Wasser verdampft und die Brennstäbe frei liegen, wird eine große Menge an Radioaktivität frei.
Womit ist schlimmstenfalls zu rechnen?
Im schlimmsten Fall bauen sich in den Reaktorkernen Temperatur- und Druckverhältnisse auf, denen der Stahlbehälter und der ihn umgebende Betonmantel nicht mehr standhalten. Dann würden zunächst alle leichtflüchtigen radioaktiven Elemente (u. a. Edelgase, Jod) entweichen, dazu ein Teil der schwereren Stoffe wie Cäsium, Strontium, Plutonium. Diese Lage wäre dem Super-GAU von Tschernobyl ähnlich - mit einem Unterschied: In der Ukraine wurde die Kettenreaktion mit Grafitstäben gesteuert. Diese Stäbe fingen an zu brennen. Das Feuer trug besonders viel radioaktive Partikel in die Atmosphäre, auch in höhere Luftschichten.
Können die Kraftwerke wie Atombomben explodieren?
Nein. In Atombomben wird radioaktives Material gezielt verdichtet, damit die Kernexplosion eine maximal zerstörerische Wirkung entfaltet. Eine Kernexplosion (ungesteuerte Kettenreaktion) ist auch im Reaktor denkbar - aber mit geringerer Intensität.
Ist Fukushima mit dem Super-GAU in Tschernobyl zu vergleichen?
Nur zum Teil. Die Explosion in Tschernobyl erfolgte bei laufendem Betrieb und schleuderte radioaktive Partikel kilometerweit in die Höhe. Durch die Bauweise ist zudem ein Kamineffekt entstanden, der die Radioaktivität hoch in die Atmosphäre trug. Eine derartige Atom-Wolke ist in Japan ausgeschlossen. Die Havarie erfolgte nach der Abschaltung, der Druck im Reaktorinneren konnte durch das Ablassen eines Teils der Gase verringert werden konnte. Die Folgen eines GAU wären dennoch katastrophal, denn die Radioaktivität ginge nahe am Reaktor herunter. Weite Landstriche des dicht besiedelten Japans würden verseucht.
Muss man jetzt aus Japan oder sogar aus Südostasien flüchten?
Nachdem am Dienstag der Wind ungünstig stand und frei werdende Radioaktivität in geringem Umfang bis in den Großraum Tokio trug, herrschen für ie kommenden Tagen günstigere Verhältnisse: Die strahlenden Partikel würden hinaus auf den Pazifik getrieben. "Nach sechs bis zehn Tagen würden sie die US-Küste erreichen", sagt Carsten Smid, Energieexperte bei Greenpeace.
Derzeit ist weder absehbar, wie sich die Situation in den Unglücksmeilern entwickeln wird, noch welche Wetterverhältnisse in einer Woche oder später herrschen. Fest steht jedoch: Sollten die Reaktoren in Fukushima große Mengen Radioaktivität freisetzen, würde diese - wenn überhaupt - erst nach Wochen und extrem stark verdünnt Deutschland erreichen. Gefährlich wäre sie für die Europäer dann nicht mehr.