Die Kernkraftwerke bleiben länger am Netz. Doch der Strom wird langfristig nicht günstiger. Was die längeren Laufzeiten bedeuten.
Berlin. Die schwarz-gelbe Bundesregierung will noch mindestens drei Jahrzehnte auf Atomstrom setzen. Die Spitzen von Union und FDP verständigten sich auf längere Laufzeiten der Kernkraftwerke und zusätzliche Milliarden der Industrie für den Ökostrom-Ausbau. Die Gegner laufen Sturm gegen die Vereinbarung . Das letzte Wort dürfte das Verfassungsgericht haben. Denn Nordrhein-Westfalen hat eine Klage angekündigt, wie Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) sagte.
Der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hält eine Beteiligung des Bundesrats für unerlässlich: Längere Laufzeiten könnten nur mit Zustimmung der Länderkammer erfolgen, weil es sich nicht nur um eine „marginale, sondern wesentliche, vollzugsfähige und vollzugsbedürftige Änderung des bestehenden Atomrechts“ handele. Dies sei nach Artikel 87 c des Grundgesetzes „zustimmungsbedürftig“. Die Studie, die Ende Mai bekannt geworden war, hatte das Bundesumweltministerium in Auftrag gegeben.
Wie lange bleiben die 17 Atomkraftwerke zusätzlich am Netz?
Die sieben älteren Kernkraftwerke, die vor 1980 gebaut wurden, erhalten ein Laufzeitplus von acht Jahren. Das betrifft die Anlagen Neckarwestheim I, Philippsburg I (beide Baden-Württemberg), Isar I (Bayern), Biblis A und B in Südhessen, Unterweser (Niedersachsen) und Brunsbüttel (Schleswig-Holstein). Bei moderneren AKW, die nach 1980 fertiggestellt wurden, wird die Betriebszeit um 14 Jahre verlängert. Davon profitieren Neckarwestheim II, Philippsburg II (beide Baden-Württemberg), Isar II, Grafenrheinfeld, Gundremmingen B und C (alle Bayern), Grohnde, Emsland (beide Niedersachsen), Krümmel, Brokdorf (beide Schleswig-Holstein). Im Durchschnitt ergibt sich so ein Laufzeitplus von 12 Jahren.
Wann geht das letzte AKW vom Netz?
Derzeit lässt sich noch nicht abschließend berechnen, in welchem Jahr das sein wird. Schalten die Konzerne ältere Reaktoren aus wirtschaftlichen Gründen früher als geplant ab, können sie zugebilligte Strommengen, die diese Kraftwerke produzieren durften, auf neuere AKW übertragen. Das könnte dazu führen, dass bis etwa 2050 noch Atomstrom in Deutschland produziert wird. Nach dem rot-grünen Atomgesetz wären die letzten Meiler etwa 2025 vom Netz gegangen. Rot-Grün hatte eine Regellaufzeit von 32 Jahren vorgesehen – diese wird nun auf 40 beziehungsweise 46 Jahre erhöht. Kritiker sagen, eine solche Lebensdauer berge unkalkulierbare Risiken. Und Greenpeace rechnet mit bis zu 6000 Tonnen zusätzlichem Atommüll.
Müssen die Atomkraftwerke für mehr Sicherheit nachgerüstet werden?
Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) betont, es werde ein neuer Sicherheitsstandard im Atomgesetz festgelegt. Das werde die Betreiber pro Kraftwerk etwa 500 bis 600 Millionen Euro kosten. Bei neuen Erkenntnissen könne die Atomaufsicht sofort eingreifen. Jedoch konnte sich Röttgen nicht mit seiner weitergehenden Forderung durchsetzen, die Meiler speziell gegen Abstürze großer Flugzeuge zu schützen. Die Atomkonzerne hatten gewarnt, dass dies zu teuer wäre.
Wie viel müssen die Atombetreiber für das Laufzeitplus zahlen?
Die Konzerne müssen eine neue Atomsteuer zahlen, die dem Bund ab 2011 jährlich rund 2,3 Milliarden Euro für die Haushaltssanierung einbringen soll. Die Kosten können die Versorger aber beim Fiskus als Betriebsausgabe geltend machen. Eon, RWE, EnBW und Vattenfall haben zudem erreicht, dass die Atomsteuer nur für sechs Jahre erhoben wird. Ursprünglich sollte sie unbegrenzt gelten.
Was geben die Konzerne für den Ausbau der Ökoenergien?
Sie haben sich gegenüber der Regierung verpflichtet, zusätzlich von 2011 bis 2016 eine Sonderabgabe von insgesamt 1,4 Milliarden Euro in einen neuen Ökostrom-Fonds einzuzahlen. Ab 2017, wenn Steuer und Sonderabgabe ausgelaufen sind, sollen die Stromkonzerne langfristig bis zu 15 Milliarden Euro aus ihren Laufzeit-Gewinnen – neun Euro je Megawattstunde produzierter Atomstrom – für den Fonds abgeben.
Was gibt der Staat zur Öko-Förderung dazu?
Ab 2013 sollen die Einnahmen aus dem Emissionshandel mit CO2- Papieren komplett in den neuen Öko-Fonds fließen. Der Bund rechnet mit jährlich rund 2,5 Milliarden Euro. Die an einer Börse gehandelten Zertifikate muss die Industrie für den Ausstoß von Kohlendioxid kaufen. Das Geld soll auch in den Stromnetzausbau fließen.
Muss der Bundesrat dem Atompaket der Regierung zustimmen?
Das ist umstritten. Die Koalition sagt nein. Innen- und Justizministerium kommen zu dem Schluss, dass das Laufzeitplus von im Schnitt 12 Jahren ohne die Länderkammer – in der die Regierung keine Mehrheit hat – durchgesetzt werden kann. Das gelte trotz der geplanten schärferen Sicherheitsauflagen, die von der Atomaufsicht in den Länder kontrolliert werden. Mehrere Bundesländer und die Opposition halten den Ausstieg aus dem rot-grünen Atomgesetz von 2002 jedoch für verfassungswidrig. Sie wollen zügig vor dem Bundesverfassungsgericht klagen.
Was bedeutet die Entscheidung für die Verbraucher?
Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) geht davon aus, dass Haushalte und Industrie langfristig entlastet werden: „Was wir auf den Weg bringen, wirkt preisdämpfend.“ Genau abschätzen kann aber niemand, wie das Preisniveau in 10, 20 oder 30 Jahren ist. Experten gehen davon aus, dass Strom grundsätzlich teurer wird. Das liegt auch am stark geförderten Ausbau des Solarstroms.
Wie reagieren die Konzerne, wie die Öko-Energiebranche?
Die Konzerne sind zufrieden. Die Aktien der AKW-Betreiber E.on, RWE und EnBW lagen am Montag bis zu fünf Prozent im Plus. Grob gesagt lässt sich mit einem abgeschriebenen Meiler eine Million Euro pro Tag verdienen. Der Bundesverband Erneuerbare Energien spricht von einer Farce. Leidtragende seien viele Mittelständler und Kommunen. Stadtwerke sagen, sie hätten im Vertrauen auf den Atomausstieg in Ökoenergien viel Geld investiert – das sei nun gefährdet.