Der Atommeiler entspreche nicht mehr dem heutigen Stand der Technik. Die Opposition fordert die Stilllegung des Werks.
München/Biblis. Einem Gutachten zufolge hat das Atomkraftwerk Biblis B zahlreiche Schwachstellen. Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete am Dienstag unter Berufung auf ein bislang unveröffentlichtes Gutachten des Öko-Instituts Darmstadt im Auftrag des Bundesumweltministeriums, in dem Kraftwerk gebe es mindestens 80 sicherheitstechnisch relevante Defizite.
In vielen Punkten entspreche der 1976 in Betrieb gegangene Atommeiler nicht mehr dem heutigen Stand der Technik. Die Oppositionsparteien im hessischen Landtag sehen sich in ihrer Forderung nach einer Stilllegung des Kraftwerks bestätigt. Das Umweltministerium in Wiesbaden betonte, Biblis B sei sicher.
Das Gutachten sollte nach Auskunft des Öko-Instituts klären, inwieweit Vorwürfe der atomkraftkritischen Ärzteorganisation IPPNW berechtigt sind, wonach Biblis B 210 sicherheitstechnische Defizite aufweist. 80 Punkte seien als besonders relevant erkannt worden, sagte ein am Gutachten beteiligter Nuklearexperte. Das Öko-Institut habe rein auf Unterlagenbasis geprüft. „Es kann daher sein, dass manche Mängel bereits behoben wurden“, sagte der Experte.
Dem Zeitungsbericht zufolge listet das Gutachten Mängel zum Beispiel im Notstandssystem oder beim Schutz gegen Erdbeben und Überflutungen auf. Auch seien mittlerweile viele Materialien veraltet, beispielsweise Kabel aus PVC oder Rohrleitungen mit anfälligen Schweißnähten. Für eine Verbesserung müsste das Atomkraftwerk aufwendig nachgerüstet werden.
Am Dienstag beschloss das Bundeskabinett die umstrittene Novelle, die eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke von im Schnitt zwölf Jahren vorsieht. In Verbindung damit wurden auch die Sicherheitsauflagen für die Anlagen verschärft.
Eine Sprecherin des Bundesumweltministeriums wollte sich zum Inhalt des Berichts nicht äußern. Das sei Sache der Atomaufsicht im hessischen Umweltministerium. Dorthin sei der Bericht bereits übermittelt worden.
IPPNW-Sprecher Henrik Paulitz sagte: „Keine wirklich unabhängige Atomaufsichtsbehörde darf angesichts der Gefahren einer Atomkatastrophe ein solches Atomkraftwerk auch nur einen Tag länger in Betrieb lassen. “ Zu den 80 relevanten Defiziten kämen 36 weitere Mängel, die „potenziell brisant“ seien. Mit dieser Quote sei „der weite Abstand vom gesetzlich geforderten Stand von Wissenschaft und Technik belegt“.
IPPNW beantragte 2005 die Stilllegung von Biblis B, 2008 legte die Organisation Klage beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Kassel gegen den Betrieb des Atommeilers ein. „Das hat es noch nie gegeben, dass Atomkraftgegner während eines atomrechtlichen Streitverfahrens fachlich Rückendeckung durch ein Gutachten der Bundesatomaufsicht bekommen“, sagte Paulitz.
Wie zuvor schon der Biblis-Betreiber RWE betonte der Sprecher des hessischen Umweltministeriums, Thorsten Neels, der Reaktor im Süden Hessens sei sicher. „IPPNW bemängelt zum Beispiel, dass nicht ausreichend verhindert werde, dass Radioaktivität ins Erdreich gelangt. Gemessen daran müsste jedes Atomkraftwerk auf der Erde abgeschaltet werden.“ IPPNW weise auf Risiken hin, doch „im Stand ist Biblis sicher“, erklärte Neels. Biblis sei aufgrund der von IPPNW angeführten Mängel seit 2005 kontinuierlich überprüft worden.
Aktivisten von Greenpeace demonstrierten am Dienstagmorgen an den deutschen Standorten von Atomkraftwerken und auch in Biblis. Sie projizierten die Worte „Atomkraft schadet Deutschland“ an die Kühltürme. „Die Gefahr der radioaktiven Verseuchung durch einen Unfall oder einen Terrorangriff ist nicht gebannt“, sagte Atomexperte Wolfgang Sadik.
Der SPD-Landtagsabgeordnete Norbert Schmitt sagte: „80 schwere Sicherheitsmängel sind 80 weitere Abschaltgründe.“ Jeder weitere Betrieb von Biblis B sei unverantwortbar, die geplante Laufzeitverlängerung um acht Jahre „ein Vabanquespiel mit der Sicherheit der Bevölkerung“.
Wie Schmitt forderte auch die Energieexpertin der Grünen, Ursula Hammann, die Landesumweltministerin Lucia Puttrich (CDU) auf, das fragliche Gutachten des Darmstädter Öko-Instituts zu veröffentlichen: „Ihre Mär vom sicheren Atomkraftwerk Biblis B ist als falsch entlarvt.“ Nicht genehme Gutachten sollten offenbar vom Bundes- und Landesregierung unterschlagen werden.
Für die Linkspartei rief die Fraktionsvorsitzende Janine Wissler zum Widerstand gegen das Energiekonzept der Bundesregierung auf, „in den Parlamenten und auch außerparlamentarisch“. Wie die Landesregierung zu behaupten, Biblis sei sicher, sei „eine Verharmlosung oder eine bewusste Lüge“.
Ministeriumssprecher Neels sagte, das Gutachten sei „kein Geheimdokument“. Es sei den Beteiligten an dem Verfahren vor dem VGH zugegangen. Seine Behörde prüfe nun, ob eine Veröffentlichung während eines laufenden Verfahrens sinnvoll ist, sagte Neels.