Berlin. Die Sozialdemokraten könnten ein Jahr vor der Wahl kaum schlechter dastehen. So will der neue Parteimanager die Trendwende organisieren.
Schicksal – das ist ein ziemlich großes Wort. Aber wenn es um alles oder nichts geht, um Hop oder Top, dann ist es vielleicht auch mal angebracht.
Dienstag, früher Nachmittag, im Willy-Brandt-Haus in Berlin: Die SPD stellt ihren neuen Generalsekretär Matthias Miersch vor. Am Tag zuvor hat der bisherige Parteimanager Kevin Kühnert aus Gesundheitsgründen überraschend seinen Rücktritt erklärt.
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Nun also Matthias Miersch, 55 Jahre alt, Fraktionsvize im Deutschen Bundestag, Experte für Klima- und Energiepolitik, promovierter Jurist aus Hannover. Er steht an einem Pult in der Mitte, rechts und links von ihm die beiden Parteichefs Lars Klingbeil und Saskia Esken.
Am Wochenende hatten sie erfahren, dass sich Kühnert zurückzieht und gleich angefangen, nach einem Nachfolger Ausschau zu halten. Sie fragten Miersch und der sagte ja. Am Montagabend stimmten die Parteigremien der Personalie zu. Tags darauf steht Miersch im Atrium der SPD-Zentrale und sagt: „Das ist eine verdammt große Verantwortung. Aber vielleicht gibt es ja so etwas wie Schicksal im Leben.“
Da macht gerade jemand Karriere in einer Partei, der es schlechter kaum gehen könnte. Die SPD stellt mit Olaf Scholz zwar den Kanzler, aber seine Ampelkoalition ist bei den Wählern untendurch. In den Umfragen liegen die Sozialdemokraten meilenweit hinter der Union und ungefähr gleichauf mit der rechten AfD. Knapp ein Jahr ist es noch bis zur Bundestagswahl, sofern die malade Ampel bis zum regulären Wahltermin durchhält. Im Grunde geht es, Stand jetzt, weniger um die Frage, ob die SPD noch irgendwie das Kanzleramt verteidigen kann. Sondern eher darum, ob sie als Volkspartei überleben wird.
Matthias Miersch: Laut SPD-Chefin ein „absoluter Teamplayer“
Olaf Scholz ist aus Sicht vieler Wähler inzwischen eine Unperson. Vor ein paar Wochen gewann in Brandenburg der populäre SPD-Mann Dietmar Woidke auch deshalb die Landtagswahlen, weil er beizeiten deutlich gemacht hatte, dass er keinen Wert auf Wahlkampfhilfe des Kanzlers legt.
Nun soll also Matthias Miersch die Partei wieder aufrichten. Klingbeil lobt ihn am Montag als jemanden, der Wirtschaft, Ökologie und Soziales zusammen denke. Das wird aus Sicht der SPD-Strategen im kommenden Wahlkampf ein zentrales Thema sein, bei dem man sich deutlich absetzen kann von der Union des Friedrich Merz. Die Co-Vorsitzende Esken sagt über den neuen Generalsekretär: „Matthias Miersch ist ein absoluter Teamplayer.“
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Mit der schnellen Präsentation des Kühnert-Nachfolgers will die Kanzlerpartei zeigen, dass sie sich selbst keine Pause gönnt und schnell in den Angriffsmodus schalten will. Und da braucht es jemanden, der das Berliner Willy-Brandt-Haus und die SPD bestens kennt. Miersch ist so einer: Seit fast 20 Jahren sitzt er im Bundestag, seit acht Jahren ist er Fraktionsvize, seit elf Jahren gehört der dem Parteivorstand an, seit fünf Jahren sitzt er dem mächtigen SPD-Bezirk Hannover vor. Und er ist eine einflussreiche Figur im linken Parteiflügel – so wie Kühnert.
Kanzler Scholz: In Sachen Kommunikation noch viel Luft nach oben
Als Generalsekretär muss Miersch jetzt die Partei mit ihren mehr als 350.000 Mitgliedern auf Wahlkampf-Temperatur bringen und klare Botschaften in der Öffentlichkeit platzieren. Das allerdings ist leichter gesagt als getan, wenn die wichtigste Figur ein unbeliebter Bundeskanzler ist, der überdies noch als schlechter Kommunikator gilt.
Auch in der SPD-Führung rollen sie häufig die Augen, wenn wieder Dinge aus der Regierungszentrale kommen, ohne dass sie vernünftig erklärt werden. Die Vereinbarung mit den USA zur Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland etwa. Oder warum in Sachen Ukraine-Unterstützung plötzlich Dinge möglich sind, die kurz zuvor noch als Tabu galten. Oder warum Olaf Scholz seinen Kurs in der Asylpolitik verschärft. Oft wird dem Kanzler auch vorgeworfen, er moderiere in der zerstrittenen Ampel zu viel und haue zu selten auf den Tisch.
Es gibt viele in der SPD, die lieber mit dem populären Verteidigungsminister Boris Pistorius als mit Scholz in den Wahlkampf ziehen möchten. Die Parteiführung hingegen steht bislang hinter dem Regierungschef. Miersch sagt am Dienstag: „Olaf Scholz wird sich auf mich hundertprozentig verlassen können. Aber ich werde nicht bequem und ein einfacher Ja-Sager sein.“
Über die Schwierigkeiten, die damit verbunden sein werden, dürfte sich der neue Generalsekretär kaum Illusionen machen. Sein Vorgänger machte sich zuletzt nicht einmal mehr die Mühe, Scholz‘ Kommunikationsdefizite kleinzureden. In einem Interview mit dem „Spiegel“ sagte Kevin Kühnert unlängst mit Blick auf den Bundestagswahlkampf: „Jeder von uns muss und wird in dieser Kampagne über sich hinauswachsen, auch der Bundeskanzler.“
Kevin Kühnert: Mahnende Worte im Rücktrittsschreiben
Und in seinem Rücktrittsbrief an die SPD-Mitglieder wiederum schrieb Kühnert am Montag, für einen Wahlsieg brauche es den vollen Einsatz der gesamten SPD und ihrer Mitglieder, wofür es wiederum Stolz und Leidenschaft brauche. „Grundlage für Stolz ist eine sozialdemokratische Leistungsbilanz, die von der Spitze selbstbewusst vertreten wird.“ Und Leidenschaft könne nur wachsen, „wo programmatische und strategische Ziele der Wahlauseinandersetzung geklärt sind und auf Zustimmung stoßen“. Auch das konnte man als Fingerzeig an den Kanzler lesen.
In der SPD jedenfalls hoffen sie, in nächster Zeit doch noch den Trend drehen zu können. Mithilfe einer Regierung, die in der verbleibenden Zeit bis zur Wahl liefert und nicht streitet. Und durch viel Arbeit auf allen Ebenen der Partei. Matthias Miersch sagt: „In den nächsten Monaten kann ganz viel passieren.“ Es klingt ein wenig so, als wolle sich da jemand selbst Mut machen.
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