Berlin. Von Scholz‘ Gegenspieler zum Partei-Manager: Kevin Kühnert hinterlässt eine SPD in der Krise. Wer ihm nachfolgt, hat eine schwere Aufgabe.
Draußen hängt der Himmel voller Wolken. Und drinnen im Willy-Brandt-Haus herrscht, man kann es nicht anders sagen, eine Stimmung wie auf einer Trauerfeier.
Am Nachmittag war bekannt geworden, dass SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert aus gesundheitlichen Gründen sein Amt aufgibt und sich auch nicht wieder um ein Bundestagsmandat in seinem Berliner Wahlkreis bewerben wird. Kühnert ist erst 35 Jahre alt und eines der ganz großen Talente der Sozialdemokratie. Dass jemand in diesem Alter von jetzt auf gleich alles aufgeben muss, kommt nicht häufig vor.
Rücktritt von Kevin Kühnert: Lars Klingbeil und Saskia Esken sind sichtlich bestürzt
In der Parteizentrale stehen kurze Zeit später die beiden Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken vor Kameras und Mikrofonen. Sie sind sichtlich bestürzt. Nur viereinhalb Minuten wird ihr Statement dauern, Fragen sind nicht zugelassen. So bleibt erst einmal offen, welche Art von gesundheitlichen Problemen Kühnert hat.
Klingbeil sagt, Kühnert und ihn verbinde jenseits der politischen Arbeit eine enge persönliche Freundschaft. Als Generalsekretär habe Kühnert viel Engagement und Leidenschaft an den Tag gelegt. „Und dennoch: Diese Entscheidung ist im Sinne von ihm selbst. Es ist eine richtige Entscheidung. Es geht jetzt um seine Gesundheit.“ Politik sei fordernd und wichtig, aber nicht alles.
Auch interessant
Esken betont, dass der Generalsekretär eine „selbstbestimmte Entscheidung“ getroffen habe. Auch sie dankt Kühnert für die Zusammenarbeit. „Und ich wünsche Kevin Kühnert jetzt die notwendige Ruhe, damit er wieder gesund werden kann.“
Für die SPD kommt der Schritt in einem schwierigen Moment
Der Rücktritt ist ein unerwarteter Schritt. Und einer, der die SPD in einer ohnehin schwierigen Situation trifft. Ein historisch schlechtes Ergebnis bei der Europawahl im Frühjahr, einstellige Ergebnisse bei den Wahlen in Thüringen und Sachsen. Und selbst im Willy-Brandt-Haus erkennen sie an, dass Dietmar Woidke den Sieg in Brandenburg gegen den Bundestrend geholt hat. Bundesweit steht die SPD gerade bei rund 16 Prozent in den Umfragen, deutlich hinter der Union, nur wenige Prozentpunkte vor den Grünen.
Es ist ein Rückstand, der sich „in niedrigen Umfragewerten und niedrigem Selbstbewusstsein“ ausdrückt, so beschreibt es Kühnert selbst in seiner Rücktrittserklärung.
Trotzdem verteidigt die SPD ihren Anspruch, auch nach der kommenden Bundestagswahl den Kanzler stellen zu wollen. Auch Kühnert tat das vor wenigen Tagen noch in einem Interview mit dem Magazin „Spiegel“: Er wolle die nächste Wahl mit Olaf Scholz gewinnen, sagte er da, und sei „überzeugt, dass das gelingen kann“.
Vom Groko-Gegner zum loyalen Verteidiger von Olaf Scholz
So viel Vertrauen in Scholz hatte Kühnert nicht immer: Als Scholz, damals noch Bundesfinanzminister, 2019 gemeinsam mit Klara Geywitz Vorsitzender der SPD werden wollte, war es maßgeblich Kühnert, der das verhinderte. Der damalige Juso-Chef wollte ein schärferes linkes Profil für die SPD und verhalf deshalb Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zum Sieg.
Bundesweit bekannt geworden als Gesicht des linken SPD-Flügels war Kühnert, seit 2005 in der Partei, allerdings schon vorher, mit der Kampagne „#NoGroKo“. Mit der wollte der SPD-Jugendverband nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche 2017 verhindern, dass die SPD erneut als Juniorpartner in eine Große Koalition unter Angela Merkel (CDU) eintritt. Als Nachwuchstalent der Partei, auch als geschickter Stratege, wurde Kühnert schon damals gehandelt. Vom „freundlichen Störenfried“ schrieb „Zeit Online“.
Kühnert als Gegenspieler von Scholz – das ist lange her. Als Generalsekretär – ein Posten, auf dem er nach der Bundestagswahl seinem Freund Klingbeil nachgefolgt war – zeigte sich Kühnert als loyaler Verteidiger des ersten SPD-Kanzlers seit 2005. Dass die SPD trotz heftigen Streits innerhalb der Ampel-Koalition und schlechten Zustimmungswerten in den vergangenen Jahren weitgehend geschlossen hinter dem Bundeskanzler und der Regierung stand, wird auch ihm zugeschrieben: „Er hat entscheidend dazu beigetragen, dass es Stabilität in der SPD gab“, sagte Klingbeil.
SPD-Spitze will noch am Abend Vorschlag für Nachfolge machen
Kingbeil und Esken kündigten bereits am Nachmittag an, noch in Gremiensitzungen am Abend einen Vorschlag für einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin präsentieren zu wollen. Inzwischen ist bekannt: Matthias Miersch übernimmt den Posten des Generalsekretärs mit sofortiger Wirkung – bis zu seiner geplanten Wahl auf dem Parteitag aber nur provisorisch. Er hat nun die schwierige Aufgabe, den Bundestagswahlkampf der Sozialdemokraten zu organisieren und den Rückstand aufzuholen.
Kühnert selbst sprach seinen Genossinnen und Genossen am Montag schriftlich Mut zu. „Die SPD hat alle Chancen, weil sie eine zeitlos richtige Idee vertritt“, schrieb er in seiner Erklärung. „Wir werden gebraucht.“ Die kommende Wahl sei „offener, als viele das heute glauben wollen“. Doch die Chancen für die Partei würden sich nicht aus Abwarten ergeben, sondern „einzig und allein“ aus Anpacken.
Der zweite überraschende Ampel-Rücktritt innerhalb weniger Wochen
Für die Ampel-Koalition ist es innerhalb weniger Wochen schon der zweite überraschende Umbruch an entscheidender Stelle. Erst vor wenigen Tagen hatten Ricarda Lang und Omid Nouripour ihren Rücktritt als Parteivorsitzende der Grünen erklärt. In diesem Fall war die Begründung allerdings ausdrücklich politisch – sie hofften, auf diese Art eine neue Dynamik anstoßen zu können für ihre kriselnde Partei.
Was Kühnerts Schritt für die Zusammenarbeit innerhalb des Regierungsbündnisses bedeutet, ist zunächst offen. Vertreterinnen und Vertreter von FDP und Grünen gaben Kühnert am Montag zunächst vor allem Genesungswünsche mit auf den Weg.
„Gesundheit geht immer vor. Alles Gute von Herzen und viel Kraft für die kommenden Monate, lieber Kevin Kühnert!“, schrieb FDP-Fraktionschef Christian Dürr. Katrin Göring-Eckardt, grüne Vizepräsidentin des Bundestags, sprach von einem harten Schlag, „für die SPD, aber auch für die deutsche Politik“. Kühnert sei einer der klügsten seiner Generation.
- Interview: Pistorius: „Putin weiß, wie er Nadelstiche bei uns setzen muss“
- Vertrauensfrage: Fünf Erkenntnisse aus einem historischen Tag
- Buchpräsentation: Diesen Putin-Satz vergisst Merkel bis heute nicht
- Podcast: Bärbel Bas über ihre Kindheit und Armut
- Infrastruktur: Gekappte Ostsee-Kabel – Die Angst um unsere Lebensadern
Ob Kühnert sich vorstellen kann, irgendwann in die Politik zurückzukehren, schrieb er in seiner Erklärung nicht. Die Möglichkeit dazu hätte er, betonte Saskia Esken. Kühnert werde weiterhin „ein wichtiger Teil der sozialdemokratischen Familie bleiben“, sagte sie. „Für ihn wird, wenn er irgendwann dazu bereit ist und es möchte, immer eine Tür offenstehen.“