Berlin. Hatte die deutsche Bundeskanzlerin eine „absurde Angst“ vor dem Kremlchef? In ihren Memoiren gibt die Ex-Kanzlerin eine klare Antwort.

Er kann Deutsch, sie kann Russisch. Sie kennen sich lange, sie duzen sich, sie begegnen sich während Merkels Amtszeit regelmäßig: Angela Merkel und Kremlchef Wladimir Putin, der Ex-KGB-Agent und die Ostdeutsche, es ist ein besonderes und ein besonders heikles Verhältnis. In ihren Memoiren, die am kommenden Dienstag unter dem Titel „Freiheit“ erscheinen, zieht Merkel Bilanz ihrer Russlandpolitik. Das Ringen mit Putin – es ist am Ende gescheitert. Ihre wichtigste Entscheidung aber bereut sie bis heute nicht.

Die zentrale Frage: Hätte Putin den Krieg nicht begonnen, wenn die Nato der Ukraine 2008 konkrete Zusagen auf einen baldigen Beitritt gemacht hätte? Wäre die Ukraine als offizieller Nato-Beitrittskandidat besser gegen Putins Aggression geschützt gewesen? Merkel war damals dagegen – und hält ihre Entscheidung bis heute für richtig. Die Annahme, dass Putin die Zeit zwischen einem solchen Beschluss und dem Beginn der tatsächlichen Mitgliedschaft der Ukraine einfach so verstreichen lassen würde, „hielt ich für Wunschdenken, Politik nach dem Prinzip Hoffnung“, schreibt Merkel in ihrem Buch, aus dem die „Zeit“ in Auszügen vorab berichtet.

Angela Merkel und Kremlchef Wladimir Putin bei Merkls Kreml-Besuch 2021.
Angela Merkel und Kremlchef Wladimir Putin, der Ex-KGB-Agent und die Ostdeutsche, bei Merkls letztem Kreml-Besuch 2021. © AFP | Evgeny Odinokov

Merkel war für ihre ablehnende Haltung beim entscheidenden Nato-Gipfel 2008 in Bukarest stark kritisiert worden. In ihrem Buch rechtfertigt sie sich: „Die Aufnahme eines neuen Mitglieds sollte nicht nur ihm ein Mehr an Sicherheit bringen, sondern auch der Nato.“ Die Nato und ihre Mitgliedstaaten müssten bei jedem Erweiterungsschritt die möglichen Auswirkungen auf das Bündnis prüfen – „auf seine Sicherheit, Stabilität und Funktionsfähigkeit“. Im Fall der Ukraine habe es damals die Besonderheit gegeben, dass die Schwarzmeerflotte der russischen Marine auf der ukrainischen Halbinsel Krim stationiert gewesen sei.

Auch interessant

„Eine solche Verquickung mit russischen Militärstrukturen hatte es bislang bei keinem der Nato-Beitrittskandidaten gegeben“, schreibt Merkel. „Außerdem unterstützte damals nur eine Minderheit der ukrainischen Bevölkerung eine Mitgliedschaft des Landes in der Nato.“ Natürlich gebe es in der Frage eines Bündnis-Beitritts „kein Vetorecht eines Dritten außerhalb der Nato, auch nicht für Russland“, betont Merkel. „Es konnte umgekehrt aber auch keinen Automatismus einer Zusage geben, wenn ein Land um die Mitgliedschaft bat.“

Putin: „Du wirst nicht ewig Bundeskanzlerin sein. Und dann werden sie Nato-Mitglied, das will ich verhindern.“

Merkels Fazit: Sie habe es für eine „Illusion“ gehalten, dass der Nato-Beitrittsstatus der Ukraine sicheren Schutz vor Putins Aggression gegeben hätte, dass dieser Status abschreckend gewirkt hätte. Was aber wäre umgekehrt passiert, wenn Putin in einem solchen Beitrittsszenario die Ukraine angegriffen hätte? Merkel stellt ihrerseits eine entscheidende Frage: „Wäre es damals im Ernstfall vorstellbar gewesen, dass die Nato-Mitgliedstaaten militärisch – mit Material wie mit Truppen – geantwortet und eingegriffen hätten?“ Mehr noch: „Wäre es vorstellbar gewesen, dass ich als Bundeskanzlerin den Deutschen Bundestag um ein solches Mandat auch für unsere Bundeswehr gebeten und dafür eine Mehrheit bekommen hätte? 2008? Wenn ja, mit welchen Folgen?“

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der russische Präsident Wladimir Putin unterhalten sich zu Beginn ihres Treffens im Bundeskanzleramt
Merkel habe es für eine „Illusion“ gehalten, dass der Nato-Beitrittsstatus der Ukraine sicheren Schutz vor Putins Aggression gegeben hätte. © picture alliance / dpa | Bundesregierung Guido Bergmann

Am Ende habe sie beim Nato-Gipfel 2008 in Bukarest auf einen Kompromiss hingewirkt, schreibt Merkel. Konkret: Die Nato stellt der Ukraine den Beitritt grundsätzlich, aber ohne konkreten Fahrplan in Aussicht. Es ist ein bitterer Kompromiss. Dass die Ukraine damals keine Zusage für einen Beitrittsstatus bekam, „war für sie ein Nein zu ihren Hoffnungen“. Dass die Nato ihr zugleich eine generelle Zusage für ihre Mitgliedschaft in Aussicht stellte, war für Putin ein Ja zur Nato-Mitgliedschaft, eine „Kampfansage“.

Zwischen Merkel und Putin kommt es später zu einem bezeichnenden Wortwechsel: „Du wirst nicht ewig Bundeskanzlerin sein“, sagt Putin ihrer Erinnerung nach zu Merkel. „Und dann werden sie Nato-Mitglied. Und das will ich verhindern.“ Sie habe gedacht: „Du bist auch nicht ewig Präsident.“ Doch sie glaubt sich die kleine Zuversicht offenbar selbst nicht.

„Du wirst nicht ewig Bundeskanzlerin sein“

Wladimir Putin

Auch interessant

Merkel: Nato-Beitrittsstatus der Ukraine hätte keine ausreichende Abschreckungswirkung gehabt

Die Atommacht Russland, das ist Merkels Standpunkt in jener Zeit, ist geopolitisch „nicht wegzudenken“. Den Vorwurf des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, Merkel habe eine „absurde Angst“ vor Putin, weist sie gleichwohl entschieden zurück. Selenskyj hatte sie nach Bekanntwerden des Massakers von Butscha eingeladen, damit sie sehe, „wozu die Politik der Zugeständnisse an Russland in 14 Jahren geführt“ hätten. Sie beharrt darauf: Ein Nato-Beitrittsstatus für die Ukraine hätte keine ausreichende Abschreckungswirkung gegenüber Russland gehabt.

191615_1325_191615_cover.jpg

#1 Robert Habeck über Krieg, Frieden und Waffen

Meine schwerste Entscheidung

Merkel ist in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden, in ihrem 736 Seiten starken Buch schlägt sie den Bogen von ihrer Kindheit und Jugend in der DDR bis zu den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft – einschließlich ihrer ersten persönlichen Begegnung mit dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump am 17. März 2020. „Donald Trump stellte mir eine Reihe von Fragen, so auch nach meiner ostdeutschen Herkunft und meinem Verhältnis zu Putin. Der russische Präsident faszinierte ihn offenbar sehr.“ In den folgenden Jahren, schreibt Merkel, hätte sich ihr Eindruck verfestigt, „dass Politiker mit autokratischen und diktatorischen Zügen ihn in ihren Bann zogen“.

Als Merkel das Buch beendet, steht das Ergebnis der diesjährigen US-Wahl noch nicht fest. Sie wünsche sich Kamala Harris als neue Präsidentin, notiert sie, wie jetzt in der Zeit zu lesen ist. In der zweiten Auflage wird sie diese Passage neu schreiben müssen.