Berlin. Der Verteidigungsminister warnt die Bevölkerung vor Putins verstecktem Krieg – und sorgt sich zudem um deutsche Staatsgeheimnisse.
Russland bedroht den Frieden nicht nur in der Ukraine, die Modernisierung der Bundeswehr ist jedoch längst nicht abgeschlossen: Wie lange Boris Pistorius allerdings noch Verteidigungsminister bleibt, ist wegen der Neuwahlen im Februar unsicher. Im Interview blickt der SPD-Politiker auf Erfolge seiner Amtszeit, spricht aber auch über gefährliche Lücken in Deutschlands Sicherheit.
Herr Minister, die Ampel ist seit dieser Woche endgültig Geschichte. Was ist das für ein Gefühl, jetzt Verteidigungsminister auf Abruf zu sein?
Boris Pistorius: Das Gefühl hat man als Minister rund um Wahlen immer. Es gehört zur Jobbeschreibung von Ministern dazu, dass wir vor Wahlen nicht wissen, wie es danach weitergeht. Die Besonderheit diesmal: Die Entscheidung über die künftige Regierung ist um ein paar Monate vorgezogen worden. Jetzt geht es für uns darum, die Wählerinnen und Wähler von unseren Ideen für die Zukunft des Landes zu überzeugen. Und darauf freue ich mich.
Mit dem Bruch der Koalition ist auch ihr Wehrdienstmodell vorerst gestoppt. Was heißt das für unsere Sicherheit?
Pistorius: Es bedeutet, dass der Druck nach der Wahl steigen wird, den Wehrdienst einzuführen. Mit dem Modell sollten im ersten Jahr zusätzlich 5.000 Wehrdienstleistende bei der Bundeswehr ausgebildet werden. Mehr sind im ersten Jahr nicht möglich, weil seit Ende des Kalten Kriegs viele Kasernen geschlossen worden sind, die uns jetzt fehlen. Wir bauen unsere Kapazitäten kontinuierlich aus und wollen parallel dazu auch die Zahl der Wehrdienstleistenden in den Folgejahren erhöhen. Der Hauptzweck meines Vorhabens ist der Wiedereinstieg in die Wehrerfassung. Denn wenn morgen der Verteidigungsfall einträte, wüssten wir weder wer im wehrfähigen Alter ist noch wie viele ehemalige Soldaten wir mobilisieren könnten.
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Hinter uns liegen fast drei Jahre Krieg in der Ukraine und somit auch drei Jahre Zeitenwende. Steht Deutschland militärisch da, wo es müsste?
Pistorius: Wir sind auf einem guten Weg. Wir haben die 100 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen fast komplett vertraglich gebunden. Allein in diesem Jahr haben wir 97 Großvorhaben im Wert von 58 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Und damit unseren Rekord aus dem vergangenen Jahr noch einmal übertroffen. Das hätten uns viele so schnell nicht zugetraut. Zur Wahrheit gehört auch: Wir haben viel Material an die Ukraine abgegeben. Außerdem braucht die Industrie Zeit, um Produktionskapazitäten hochzufahren und Waffen und Munition zu produzieren. Ein Leopard-Panzer hat eine Lieferzeit von bis zu zweieinhalb Jahren, bei Fregatten und U-Booten sind es sechs bis acht Jahre.
Also sind Sie noch nicht zufrieden?
Pistorius: Allein anhand der Lieferzeiten wird deutlich: Wir können die in den vergangenen 30 Jahren gerissene Lücken unmöglich in einer Wahlperiode schließen. Wir können aber den Weg bereiten, das haben wir auch getan – mit Erfolg. Wir haben die Beschaffung neu organisiert und massiv beschleunigt. Wir kaufen so schnell ein wie noch nie. Es ist entscheidend für die Zukunft, dass wir das Geld schnell investieren, um die Waffensysteme ebenso schnell in der Truppe zu haben und um Kosten zu sparen.
„Wenn Putin angreift, müssen wir Krieg führen können. Das wäre ein Verteidigungskrieg, aber es wäre ein Krieg. “
Wie viel Geld ist denn notwendig? Wollen Sie ein neues Sondervermögen?
Pistorius: Ich bin kein Freund eines neuen Sondervermögens. Dann flösse zwar eine bestimmte Summe in die Beschaffung von neuem Material. Wir würden aber den dauerhaften Betrieb, die Instandsetzung oder zusätzliches Personal unberücksichtigt lassen, weil das nicht aus dem Sondervermögen bezahlt wird. Gleichzeitig würden die Kosten zum Beispiel für Wartung bei einer höheren Anzahl an Waffensystemen steigen. Wir benötigen deswegen einen stetigen und stabilen Aufwuchs des Verteidigungsetats.
Fordern Sie mehr als zwei Prozent der Wirtschaftskraft für Verteidigung?
Pistorius: Wir müssen die zwei Prozent immer sicher erreichen, weil das unsere Zusage an die Nato ist. Wie viel Geld das konkret ist, hängt aber von der Größe des Bruttoinlandsprodukts ab. Deswegen spreche ich lieber von absoluten Zahlen. Wir brauchen ab 2028 einen Verteidigungshaushalt von mindestens 80 Milliarden, eher 90 Milliarden Euro jährlich, um den Anforderungen, die wir aufgrund der verschärften Sicherheitslage haben, gerecht zu werden.
Das können also auch mehr als zwei Prozent sein.
Pistorius: Das kann sein. Entscheidend ist aber: Wir müssen die Lücken schließen, die wir in unserer Verteidigung haben. Wir hatten in den letzten 30 Jahren eine Friedensdividende in einer Größenordnung von geschätzt ein paar Hundert Milliarden Euro. Davon haben wir gut gelebt in sicheren Zeiten. Jetzt ist die Lage eine andere. Wir können und dürfen jetzt nicht sagen: Für den Wohlstand haben wir die Summe zwar gern ausgegeben, für unsere Sicherheit ist uns die Summe aber zu hoch. Das wäre fatal.
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Sie fordern ab 2028 also ein Plus von etwa 30 bis 40 Milliarden im Verteidigungshaushalt. Woher soll das Geld kommen?
Pistorius: Ich halte es für politisch falsch, in dieser Lage starr an der Schuldenbremse festzuhalten. Sie muss den Herausforderungen angepasst werden. Wenn wir die erforderlichen Ausgaben für unsere Verteidigung aus dem normalen Haushalt finanzieren, stranguliert das die Handlungsfähigkeit des Staates, gefährdet die soziale Sicherheit und stärkt damit die extremistischen Parteien. Umgekehrt könnten wir mit einer modifizierten Schuldenbremse weiter klug in Sicherheit und Zukunft investieren, die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr weiter stärken und Spill-over-Effekte auch für andere Bereiche der Wirtschaft erzielen.
Sie verlangen von Deutschland und den Deutschen, kriegstüchtig zu werden. Ist unsere Gesellschaft auf dem Weg dorthin?
Pistorius: Ja, Schritt für Schritt. Wir sind auf dem Weg zur Kriegstüchtigkeit: Wir reden heute sehr viel offener über die Bedrohungslage als noch vor wenigen Jahren und können ebenso ehrlich über notwendige Maßnahmen diskutieren.
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Das Wort hat viele Menschen erschreckt, bereuen Sie den Ausdruck?
Pistorius: Ich verstehe, dass das viele erschrocken hat, aber ich bereue die Wortwahl nicht. Die Botschaft, die ich in aller Klarheit vermitteln will: Wenn Putin angreift, müssen wir Krieg führen können. Das wäre ein Verteidigungskrieg, aber es wäre ein Krieg. Wenn wir diesen nicht führen könnten, würden wir im Fall eines Angriffskriegs verlieren.
Muss Deutschland einen Angriff Russlands fürchten?
Pistorius: Nicht aktuell. Aber wir können nicht ausschließen, dass Russland in wenigen Jahren Nato-Territorium angreift.
Wieso glauben Sie das?
Pistorius: Nach Einschätzungen von Geheimdiensten und Militärexperten sind die russischen Streitkräfte materiell und personell derzeit noch nicht so weit. Putin hat aber konsequent auf Kriegswirtschaft umgestellt: Russland produziert in wenigen Monaten mehr Waffen und Munition als alle Länder der Europäischen Union zusammen in einem Jahr. Ab 2029 oder 2030 könnte Putin so aufgerüstet haben, dass Russland zu einem Angriff auf die Nato in der Lage wäre.
Wäre die Bundeswehr bereit, wenn Putin uns schon morgen angreift?
Pistorius: Als Bundeswehr werden wir nie allein gefordert sein, sondern immer als Teil der Nato. Wenn Russland uns jetzt angreift, ist die Nato verteidigungsfähig. Aber wir wären gefordert. Wir müssen auch damit rechnen, dass Putin in den nächsten Jahren durch einen Vorstoß an der ein oder anderen Stelle des Bündnisgebiets testen könnte, wie geschlossen die Nato wirklich ist.
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Erfolgt ein Angriff zwingend militärisch?
Pistorius: Wir müssen ein besonderes Augenmerk auf Putins hybride Kriegsführung legen, also auf Angriffe auf Infrastruktur und Energieversorgung, auf die Aktivitäten in Nord- und Ostsee sowie auf Regelverstöße im Luftraum. Hinzu kommen Kampagnen in den Sozialen Medien, die Beeinflussung von Wahlkämpfen und die Finanzierung von Stimmen, die wie AfD und BSW behaupten, uns ginge es nicht um den eigenen Schutz, sondern wir würden auf einen Krieg mit Russland zusteuern. Das gehört alles zu Putins Strategie, unsere Gesellschaft zu verunsichern und auseinander zu treiben. Wir müssen alles dafür tun, um zu verhindern, dass Putins Strategie aufgeht.
Sabotageakte gegen Datenkabel in der Ostsee häufen sich. Wären das bereits kriegerische Handlungen, wenn Russland dahintersteckt?
Pistorius: Das ist eine Frage, die Völkerrechtler beantworten müssten. Ermittler klären derzeit, wer für die Beschädigungen der Kabel verantwortlich ist. Aber ich sage auch deutlich: Ich glaube nicht an Zufall, wenn in kurzem Abstand gleich mehrere Leitungen am Meeresboden beschädigt werden. Es ist vielmehr unsere Pflicht, zu prüfen, ob es sich um Sabotage-Akte handelt.
Zuletzt häuften sich auch die Sichtungen von Drohnen über Kasernen.
Pistorius: Ja, Drohnensichtungen haben in den letzten Monaten zugenommen, aber nicht nur über Kasernen, auch über Industrieparks oder wichtigen Infrastruktureinrichtungen. Wir wissen aber meist nicht, von wem die Drohnen gesteuert werden. Übrigens – ein klassisches Merkmal der hybriden Bedrohung: Wir wissen zunächst nicht, wer die Verursacher sind. Die Bundeswehr kann sich aber inzwischen besser wehren, durch elektronische Störungen oder durch kinetische Schläge.
Hat die Bundeswehr bereits Drohnen zerstört?
Pistorius: Das sind Aspekte der militärischen Sicherheit. Die Bundeswehr ist bei der Abwehr auf ihre Areale beschränkt. Eine Drohne direkt über einer Kaserne dürften wir zerstören oder wenn Gefahr im Verzug droht. Eine Drohne, die sich 50 Meter außerhalb des Geländes befindet, nicht. Wir arbeiten eng mit dem Bundesinnenministerium, den Landessicherheitsbehörden und Polizeien zusammen, um gemeinsam ein besseres Vorgehen gegen Drohnen abzustimmen.
Befinden wir uns bereits in einem unerklärten Krieg?
Pistorius: Ich wäre mit dem Begriff vorsichtig. Aber Putin greift hybride an, und Deutschland ist dabei besonders im Fokus. Er kennt uns gut, Putin weiß, wie er Nadelstiche bei uns setzen muss. Wir müssen uns vorbereiten, um uns Putins Bedrohung selbstbewusst entgegenstellen zu können. Wenn wir die Bedrohung ignorieren, weil sie uns Unbehagen bereitet, wird sie nicht kleiner, sondern größer.
Wo liegen die militärischen Schwächen Deutschlands?
Pistorius: Ich werde Putin nicht den Gefallen tun, öffentlich unsere Schwachpunkte aufzuzählen. Bekannt ist etwa, dass 2012 aus Kostengründen die Heeresflugabwehr abgeschafft worden ist. Das war ein Fehler. Andere Lücken sind öffentlich nicht bekannt, die werde ich nicht nennen. Auch das ist für mich eine Lehre aus der Bedrohungslage: Wir müssen wieder lernen, unsere Staatsgeheimnisse zu schützen.
Der Kanzler hat klargemacht, dass er den Marschflugkörper Taurus nicht liefern will. Wäre es besser, Putin im Unklaren darüber zu lassen?
Pistorius: Wir sollten generell weniger detailliert darüber sprechen, was wir wann der Ukraine liefern, vor allem, wenn es um komplexe Systeme geht. Nicht aus politischen, sondern aus militärischen Gründen. Putin würde es im Traum nicht einfallen, das alles öffentlich auszubreiten.
Blicken wir ins kommende Jahr: Am 20. Januar tritt Donald Trump sein Amt als US-Präsident an. Wie könnte er seine Ankündigung wahrmachen, den Krieg in der Ukraine innerhalb eines Tages zu beenden?
Pistorius: Das müssen sie ihn fragen. Putin lässt jedenfalls nicht erkennen, dass er auch nur das geringste Interesse an Verhandlungen hat. Allenfalls, um einen Diktatfrieden zu erreichen. Es darf aber keinen Waffenstillstand über die Köpfe der Ukraine hinweg geben. Die Ukraine braucht einen Frieden in Freiheit.
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Können Sie sich vorstellen, dass deutsche Soldaten einen Frieden in der Ukraine absichern?
Pistorius: Eins will ich klarstellen: Solange der Krieg nicht beendet ist, wird es keine deutschen Soldaten auf ukrainischem Boden geben. Die Frage stellt sich, wenn es einen Waffenstillstand oder einen Frieden geben sollte – und wenn klar ist, wie der aussieht. Darauf müssten sich die Ukraine und Russland unter Beteiligung Dritter einigen: Gibt es zum Beispiel eine Demarkationslinie, eine Pufferzone oder eine Peace-Keeping-Zone, in der bewaffnete Kräfte den Frieden sichern? Sie sehen, es ist noch zu vieles offen, um hier eine Aussage zu treffen.
Und die Frage nach Beteiligung der Bundeswehr?
Pistorius: Die Frage stellt sich aktuell nicht angesichts des eben Gesagten, da die Rahmenbedingungen völlig unklar sind. Am Ende entscheidet ohnehin das Parlament. Aber klar ist wohl: Deutschland könnte als größtes Nato-Land in Europa und größte Volkswirtschaft in Europa nicht unbeteiligt an der Seite stehen.
Würden Sie gerne Verteidigungsminister bleiben nach der Bundestagswahl?
Pistorius: Ja.
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