Von Pendlerpauschale und Abtreibung bis zur Euro-Rettung: Das Bundesverfassungsgericht ist zu einem Gericht der Bürger geworden.
Karlsruhe/Hamburg. In Karlsruhe haben alle Deutschen eine politische Heimat gefunden: Im Bundesverfassungsgericht werden unabhängig von Politik und Tagesaktualität die Werte der Bundesrepublik hochgehalten – nicht immer zur Freude der Kläger und Beklagten. Aber das Bundesverfassungsgericht, das an diesem Mittwoch 60 Jahre alt wird, ist ein „Gericht der Bürger“, wie der frühere Bundespräsident Johannes Rau einmal feststellte. Es geht in Karlsruhe um mehr als Menschenrechte oder das Grundgesetz. Es geht um die verfassungsmäßigen Rechte, die durch Gesetze beschnitten werden können, und sei es nur eine Neuregelung der Pendlerpauschale. Die Richter mit den roten Roben haben sich in wegweisenden Urteilen in Politik und Gesellschaft eingemischt. Sei es das Verbot der Kommunistischen Partei, die Volkszählung, das Urteil zur Abtreibung, zum Privatfernsehen, zur Terrorfahndung oder wie jetzt zur Euro-Rettung – die Karlsruher Richter bestechen durch ihre Unbestechlichkeit.
Und jetzt droht der neue Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sowie ihrer Regierung mit einem Wahlrecht à la Karlsruhe, sollte die Bundesregierung nicht endlich das überfällige neue Wahlrecht beschließen. „Wir würden im Rahmen einer einstweiligen Anordnung versuchen, eine solche verfassungsgemäße Grundlage für eine Wahl zu schaffen“, sagte Gerichtspräsident Voßkuhle in der ZDF-Sendung „Was nun, Herr Voßkuhle?“ Das Gericht sei enttäuscht, dass die dreijährige Frist für eine Wahlrechtsreform von der Politik nicht genutzt worden sei. Dennoch glaube er nicht, dass Deutschland nun in eine Staatskrise gerate, sagte Voßkuhle weiter. Im Zweifel sei das Bundesverfassungsgericht aber aufgerufen, einen verfassungskonformen Zustand herbeizuführen. Der Bundestag soll in dieser Woche über einen Gesetzentwurf der schwarz-gelben Koalition über ein neues Wahlrecht abstimmen. Die Opposition lehnt den Vorschlag ab.
Ein Hamburger Top-Jurist war von 1999 bis 2008 Richter am Bundesverfassungsgericht und für wegweisende Urteile vor allem zum Ausmaß der Terrorfahndung (Online-Durchsuchung, Datenspeicherung) verantwortlich: Prof. Wolfgang Hoffmann-Riem, 71. Er war häufig Berichterstatter des Gerichts, wenn es um Fragen von Freiheit und Sicherheit ging. Außerdem beobachtete und urteilte er über sein Spezialgebiet Medienrecht.
Das Bundesverfassungsgericht wacht seit 1951 über die Einhaltung der im Grundgesetz formulierten Rechte. Es wurde als Reaktion auf die Erfahrungen im Dritten Reich ins Leben gerufen, damit die politische Macht in Deutschland nicht mehr missbraucht werden kann. Die heute 16 Verfassungsrichter sollen aber nicht nur den Machtmissbrauch verhindern, sondern auch die Rechte von Minderheiten schützen. Zur Beachtung des Grundgesetzes sind alle staatlichen Stellen verpflichtet. Kommt es dabei zum Streit, kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden. Seine Entscheidungen sind unanfechtbar.
An seine Rechtsprechung sind alle übrigen Staatsorgane gebunden. 186.000 Entscheidungen wurden in den vergangenen 60 Jahren vom höchsten deutschen Gericht in der „Residenz des Rechts“ entschieden. Dass nur 2,4 Prozent aller Verfassungsbeschwerden Erfolg hatten, hat dem Ansehen des Gerichts aber nicht geschadet.
Grundsätzlich kann jeder, der sich in seinen Grundrechten verletzt fühlt, eine Verfassungsbeschwerde erheben. Sie kann sich gegen die Maßnahme einer Behörde, gegen das Urteil eines Gerichts oder gegen ein Gesetz richten. Der Jurist und Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, Heribert Prantl, fasst es so zusammen: „Was Altötting für den deutschen Katholizismus ist, das ist Karlsruhe für den deutschen Rechtsstaat – ein Gnadenort.“
Die politischen Auswirkungen des Gerichts werden dann besonders deutlich, wenn das Gericht ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt. Mehr als 450-mal war das der Fall, als Gesetze ganz oder teilweise für verfassungswidrig erklärt wurden.
Einzigartig im deutschen Justizsystem und ein Markenzeichen des Gerichts ist das Sondervotum. Damit machen einzelne oder mehrere Richter deutlich, dass sie eine Entscheidung nicht oder nur zum Teil gutheißen. Bei allen anderen Gerichten wird nur das Urteil verkündet, weil das Beratungsgeheimnis als zentrales Gebot des Richterberufes gilt. In Karlsruhe indes schafft das Sondervotum Transparenz und trägt zur hohen Glaubwürdigkeit bei. Und es gibt – Stichwort Parteienfinanzierung – Fälle, in denen die Argumentation eines Sondervotums in einem späteren Verfahren zur Grundlage für die Mehrheitsentscheidung wurde. Zwischenzeitlich hatte sich die Zusammensetzung des Senats geändert.
Trotz der Richterwahl durch die Politik erwies sich das Gericht als immun gegenüber Begehrlichkeiten aus Bonn und Berlin. Was aber bis heute fehlt, ist eine klare Unterscheidung, bis wann das Verfassungsgericht zuständig ist und ab wann europäische Instanzen. Gerade diese Problematik ist ein offener Prozess. (ryb/epd/KNA)
Buchhinweise: Rolf Lamprecht: Ich gehe bis nach Karlsruhe. DVA 2011, 352 Seiten, 19.99 Euro. Stolleis, Michael: Herzkammern der Republik. C.H. Beck 2011, 298 Seiten, 29.95 Euro.