Gaddafis Streitkräfte sind offenbar auf der Flucht aus der drittgrößten libyschen Stadt. USA bestätigt erstmals Einsatz von Drohnen.
Tripolis/Washington/Bengasi/Beirut. Die Aufständischen in der westlybischen Stadt Misurata haben im Kampf gegen die Truppen von Machthaber Muammar al-Gaddafi Boden wettgemacht. Ihre Führung in Bengasi traut aber den Rückzugsankündigungen des Regimes nicht. „Wir würden einen vollständigen Rückzug mit Freuden sehen, aber wir sind nicht optimistisch“, sagte der Sprecher des Übergangsrates, Mustafa Gheriani, am Sonnabend. Das Regime habe schon häufig und schnell seine Taktik geändert. „Was Gaddafi sagt und was Gaddafi tut, sind zwei verschiedene Dinge.“
In den Tagen zuvor war es den Aufständischen in Misurata gelungen, die Gaddafi-Truppen in der seit Wochen umkämpften Tripolis-Straße weit zurückzudrängen. Auch konnten die Hochhäuser im Zentrum der Stadt von Heckenschützen des Regimes gesäubert werden, die in den vergangenen Wochen von diesen Positionen aus die Zivilbevölkerung terrorisiert hatten. Arabische Medien meldeten allerdings am Sonnabend neue Kämpfe aus der Stadt.
Gaddafi habe habe den Rückzug aus Misurata angeordnet, sagte Vize-Außenminister Chalid Kaim in der Nacht zum Sonnabend, wohl auch um das Gesicht des Regimes angesichts der jüngsten Rückschläge zu wahren. Jetzt würden „die Stämme“ die Angelegenheit „mit den Menschen in Misurata direkt regeln, entweder mit Gewalt oder in Verhandlungen“, sagte Kaim. Übergangsrats-Sprecher Gheriani ordnete die Drohung mit den Stämmen als Bluff ein. Diese hätten sich bislang an der Bekämpfung des Aufstands nicht beteiligt, „und wir sehen auch nicht, warum sie das tun sollten. Sie leiden genauso unter Gaddafi.“
Die Nato setzte derweil ihre Angriffe mit der Zerstörung eines unterirdischen Betonbunkers in Tripolis fort. Der libysche Regierungssprecher Mussa Ibrahim sagte, es habe sich um einen ungenutzten Munitionsbunker gehandelt. Drei Menschen seien getötet worden. Nach dem Angriff am Sonnabend versammelten sich Gaddafi-Anhänger bei dem Militärgelände und schwenkten Gaddafi-Bilder.
Die libyschen Behörden ließen unterdessen einen italienischen Hochseeschlepper frei, der am 17. März in Tripolis festgesetzt worden war. Die „Asso 22“ und ihre Besatzung seien frei, erklärte der Kapitän per Funk. Das berichteten italienische Medien am Sonnabend.
Misurata liegt 210 Kilometer östlich von Tripolis und ist derzeit nur auf dem Seeweg zu erreichen. Die Versorgungslage der drittgrößten libyschen Stadt ist katastrophal. Tausende afrikanische Gastarbeiter, Dutzende verletzte Kämpfer und Zivilisten wurden per Schiff in Sicherheit gebracht.
Die Nato hat seit Beginn der Operation „Vereinte Schutzmacht“ am 31. März insgesamt 1432 Kampfeinsätze über Libyen geflogen.
Die Deutschen sehen den Nato-Einsatz skeptisch. Gut zwei Drittel der Bundesbürger stehen nach einer Umfrage des Leipziger Instituts für Marktforschung hinter der Position der Bundesregierung, die sich im UN-Sicherheitsrat der Stimme enthalten und eine Beteiligung am Bombeneinsatz abgelehnt hatte. Rund 23 Prozent meinen, Deutschland habe seine wichtigsten Verbündeten im Libyenkonflikt im Stich gelassen, berichtet die „Leipziger Volkszeitung“ (Samstag).
Die USA und die umstrittenen Kampfdrohnen
Die USA haben am Sonnabend in Libyen einen ersten Militärschlag mit einer Kampfdrohne ausgeführt. Ein Pentagonsprecher bestätigte nach Medienangaben den Angriff am frühen Nachmittag (Ortszeit), nannte aber keine weiteren Einzelheiten.
US-Präsident Barack Obama hatte erst am Donnerstag grünes Licht für den Kampfeinsatz der ferngesteuerten unbemannten Flugzeuge vom Typ „Predator“ gegen die Truppen von Machthaber Muammar al-Gaddafi gegeben. Damit wollen die USA zum Schutz der Zivilbevölkerung beitragen.
Zwar waren bereits in den vergangenen Wochen bewaffnete US-Drohnen in Libyen eingesetzt worden, aber sie absolvierten lediglich Aufklärungsflüge. Mit den Angriffen nehmen die USA nun wieder aktiv an Kampfhandlungen teil, nachdem sie im vergangenen Monat das Kommando über den Militäreinsatz an die Nato abgegeben und sich auf eine unterstützende Rolle beschränkt hatten.
Sarkozy will Bengasi besuchen
Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy erwägt einen Besuch in Bengasi. Er habe dem dort ansässigen Übergangsrat seine prinzipielle Zustimmung für eine solche Visite gegeben, meldete die Nachrichtenagentur AFP am Freitag unter Berufung auf sein Amt.
Am Donnerstag zerstörten Kampfjets der internationalen Truppen bei 62 Einsätzen acht Munitionsbunker nahe Tripolis und mehrere Panzer nahe Adschabija und Al-Brega. Dies berichtete die Nato am Freitag in Brüssel. Zehn Schiffe seien dabei, humanitäre Hilfsgüter nach Libyen zu bringen. Der Korrespondent des US-Senders CNN meldete auch am Freitag schwere Explosionen und Triebwerkslärm von Kampfflugzeugen über der Hauptstadt Tripolis.
Ärzte berichteten dem Sender Al-Dschasira aus der seit fast acht Wochen von Gaddafi-Truppen belagerten Stadt Misurata von Kindern, die mit Splitter- und Schussverletzungen behandelt werden mussten. Außerdem nähmen Scharfschützen Zivilisten unter Beschuss, hieß es. Am Mittwoch waren in Misurata zwei Foto-Journalisten aus den USA und Großbritannien bei einer Granatenexplosion getötet worden.
Der britische Premierminister David Cameron bekräftigte, dass sein Land sich auf keinen Fall an einer Besetzung Libyens beteiligen würde. „Wir haben nicht die Erlaubnis, eine einfallende Armee oder eine besetzende Armee zu sein“, sagte Cameron am Freitag in einem Interview des britischen Senders BBC. Nachdem London vor wenigen Tagen Militärberater in die Konfliktregion geschickt hatte, äußerten britische Abgeordnete die Befürchtung, dies könnte ein erster Schritt für eine Neuausrichtung der Mission sein. „Das wollen wir nicht, das wollen die Libyer nicht, das will die Welt nicht“, sagte der Premier.
"Sie schossen auf alles, was sich bewegte"
In ihrer seit Wochen belagerten Enklave Misrata im Westen des nordafrikanischen Landes meldeten die Rebellen die Eroberung eines wichtigen Gebäudes im Zentrum, das Scharfschützen von Machthaber Muammar Gaddafi als Stützpunkt diente. Um das ehemalige Versicherungsgebäude war zwei Wochen lang erbittert gekämpft worden. „Sie schossen auf alles, was sich bewegte“, sagte ein Kämpfer über die vertriebenen Scharfschützen. Beschädigtes Mauerwerk, ein Panzerwrack und die verbrannte Leiche eines Gaddafi-Soldaten bestimmten das Bild um das Gebäude. Die Rebellen erklärten, weitere Häuser im Zentrum erobert zu haben. Der Stand der Kämpfe schien die amtliche Darstellung zu widerlegen, wonach Gaddafis Truppen 80 Prozent Misratas unter Kontrolle haben.
Die Rebellen und Gaddafis Soldaten liefern sich in der Stadt Block für Block einen Abnutzungskrieg, wobei sie oftmals das Weiße im Auge des Gegners sehen können. „Gaddafis Kämpfer verhöhnen uns“, sagte ein Rebell. Wenn sie nachts in einem Gebäude verschanzt seien, schrien Gaddafis Männer, um den Aufständischen Angst zu machen. „Sie nennen uns Ratten.“
Clinton: Gaddafis Truppen setzten womöglich Streubomben ein
Angesichts der schweren Kämpfe in Misrata appellierte UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon an Gaddafi, dem Töten Einhalt zu gebieten. „Ich fordere die libysche Führung auf, das Kämpfen und das Töten von Menschen zu beenden“, sagte Ban am Donnerstag in Moskau. Seit Beginn der Kämpfe vor sieben Wochen wurden nach Angaben von Ärzten 365 Menschen, darunter mindestens 85 Zivilisten getötet. Verletzt wurden 4000 Personen.
In der seit sieben Wochen umkämpften drittgrößten Stadt des Landes werden mittlerweile Lebensmittel und Medikamente knapp. Auch an den Tankstellen bildeten sich lange Schlangen, zur Stromversorgung sind die Einwohner auf Generatoren angewiesen.
US-Außenministerin Hillary Clinton warf Gaddafis Truppen brutale Angriffe vor. Möglicherweise hätten sie auch Streubomben eingesetzt. Diese Munition wirft unzählige kleine Bomben und Granaten aus. Da diese häufig nicht explodieren, stellen die Blindgänger noch Jahre nach Ende der Kämpfe eine Gefahr für die Bevölkerung dar. Der Einsatz von Streubomben ist weltweit geächtet, jedoch haben die USA ein entsprechendes Abkommen nicht unterzeichnet.
Mit Material von rtr/dpa/dapd