Wie kann man Gaddafis Kriegsmaschinerie stoppen? Unter den Opfern in Libyen seien viele Kinder, berichten die Hilfsorganisationen.
Ventimiglia/Brüssel/Hamburg. Sie kommen in ihren überfüllten Kuttern nach Lampedusa. Ausgezehrt, gezeichnet von Elend, Leid oder den Spuren eines Bürgerkriegs, flüchten sich Schwarzafrikaner sowie Tunesier und Libyer auf die italienische Insel, den Vorposten von Europa im Mittelmeer. Hunderte starben auf der Überfahrt. Die, die es schaffen, drängen weiter in den Norden, nach Frankreich, Deutschland, Großbritannien oder Skandinavien. Doch die Europäische Union hat noch keine praktikable Idee, wie sie mit politischen und Wirtschaftsflüchtlingen umgehen kann. Italien und Frankreich sind zerstritten über den Weg zur Lösung des gigantischen Flüchtlingsproblems. Auch in Deutschland sind die Meinungen gespalten. Frankreich hatte sich am Wochenende gegen den Zustrom aus Italien abgeschottet.
Doch jetzt darf die wegen des Zustroms tunesischer Migranten unterbrochene Bahnverbindung zwischen dem italienischen Ventimiglia und Frankreich wieder befahren werden. Der Präfekt gab eine entsprechende Weisung, berichtete die Regionalzeitung „Nice-Matin“ im Internet. Am Sonntag hatte er den Zugverkehr wegen einer möglichen Gefährdung der öffentlichen Ordnung vorübergehend stoppen lassen. Mit den Tunesiern hätten auch Menschenrechtler im Rahmen einer nicht angemeldeten Demonstration einreisen wollen, hieß es.
Im italienischen Ventimiglia warten Hunderte Tunesier darauf, nach Frankreich fahren zu können. Die italienischen Behörden haben am Wochenende damit begonnen, ihnen Reisepapiere auszustellen. Frankreich hat jedoch angekündigt, Wirtschaftsflüchtlinge nicht zu akzeptieren. Selbst mit den Papieren aus Italien dürften die meisten Tunesier keine Chance auf eine legale Einreise haben. Sie müssen unter anderem nachweisen, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können. 31 Euro pro Tag und Person sind notwendig. Wer keine Bleibe hat muss sogar 62 Euro pro Tag und Person nachweisen. Die Kontrollen wurden in Frankreich bereits in den vergangenen Wochen und Monaten verstärkt.
Seit dem Sturz des tunesischen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali im Januar kamen mehr als 23.000 Tunesier illegal nach Italien. Rom darf nach einem vor knapp zwei Wochen geschlossenen Sonderabkommen mit Tunis Migranten von dort zwar ab sofort wieder abschieben. Die zuvor Angekommenen müssen jedoch vorübergehend versorgt werden. Da die meisten Migranten ohnehin weiter nach Frankreich wollten, hatte die italienische Regierung von Silvio Berlusconi die Ausstellung von Papieren angeordnet, die zur Weiterreise berechtigen.
Unterdessen bleibt eine „Invasion oder eine Besetzung“ Libyens nach Worten des britischen Premierministers David Cameron weiterhin ausgeschlossen. EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy stellt sich hinter den harten Libyen-Kurs der USA, Frankreichs und Großbritanniens. Angeblich suchen die USA und ihre Alliierten ein Exil für den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi, der sich an die Macht klammert. Cameron sagte dem britischen Sender Sky News: „Wir sind uns im Klaren darüber, das wir zu den Bedingungen der Resolution des Uno-Sicherheitsrates stehen müssen, wir müssen die Unterstützung der arabischen Welt behalten.“ Er räumte allerdings ein, dass die Bedingung, keine Bodentruppen einzusetzen, den Einsatz erschwere.
Die Nato-Luftangriffe auf Ziele des Regimes hätten geholfen, Massaker zu verhindern. Die Opposition habe um ein stärkeres Eingreifen gebeten. Die Alliierten müssten nun überprüfen, wie Zivilisten noch besser geschützt und Gaddafis „Kriegsmaschine“ gestoppt werden könnten, sagte Cameron.
EU-Ratspräsident Herman van Rompuy stellte sich hinter den harten Libyen-Kurs von US-Präsident Barack Obama und des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und Camerons. „Gaddafi ist immer noch da, aber er ist sehr geschwächt. Ich denke, dass wir den militärischen Druck aufrechterhalten müssen (...) und dass wir so handeln müssen, dass er abtritt“, sagte der Belgier den der französischen Medien TV5 Monde, RFI und „Le Monde“. Es sei richtig, die Angriffe erst dann einzustellen, wenn Gaddafi nicht mehr an der Macht sei. „Es gibt keinen ausreichenden Schutz der Zivilbevölkerung, wenn die Gaddafis nicht weg sind“, betonte van Rompuy.
Enttäuscht äußerte sich van Rompuy darüber, dass es der Europäischen Union nicht gelungen ist, eine gemeinsame Haltung zum Übergangsrat der Aufständischen in Bengasi zu entwickeln. Europa habe in dieser Hinsicht eine Chance verpasst, sagte er. Der Übergangsrat sei seiner Meinung nach ein vollwertiger Gesprächspartner.
Gaddafis Truppen sind nach tagelangen Kämpfen bis ins Zentrum Misratas vorgedrungen, der einzigen von Rebellen gehaltenen Stadt im Westen des nordafrikanischen Landes. Sie hätten dabei schwere Waffen eingesetzt und würden von Scharfschützen unterstützt, berichteten Einwohner und ein Aktivist. Mindestens 17 Menschen seien allein am Sonntag getötet worden.
Der Aktivist Rida al-Montasser sagte über den Internetdienst Skype, in einem Krankenhausbericht sei die Zahl von 17 Toten und 74 Verletzten genannt worden. Ein Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation, der nach eigenen Angaben das Krankenhaus am Sonntag besuchte, bestätigte die Zahlen. Unter den Toten sei ein Mädchen mit einem Kopfschuss. Unter den Verletzten seien mehrere Kinder. Der Mitarbeiter einer ausländischen Nichtregierungsorganisation wollte aus Sicherheitsgründen seinen Namen nicht genannt wissen
Ein Gaddafi-Sohn hat derweil Vorwürfe über Gewalt gegen regierungskritische Demonstranten und Zivilisten zurückgewiesen. „Wir haben keine Verbrechen gegen unser Volk begangen“, sagte Seif al-Islam der „Washington Post“ in einem Interview, das am Sonntag veröffentlicht wurde. Berichte, wonach Sicherheitskräfte zu Beginn der Unruhen im Februar auf Demonstranten geschossen hätten, verglich er mit den Vorwürfen vor Beginn des Irakkriegs, wonach der damalige irakischen Diktator Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besaß.
„Massenvernichtungswaffen, Massenvernichtungswaffen, Massenvernichtungswaffen – und schon wird der Irak angegriffen“, sagte er. „Zivilisten, Zivilisten, Zivilisten – und schon wird Libyen angegriffen.“ Die Behauptung der USA, Saddam Hussein habe Massenvernichtungswaffen besessen, hatte sich nach dem Einmarsch im Irak 2003 als falsch herausgestellt. (abendblatt.de/dapd/rtr/dpa/AFP)