Umweltminister Röttgen zog den Zorn vieler Unionspolitiker auf sich, als er einen schnelleren Atom-Ausstieg forderte. Nun soll er eingelenkt haben.
Berlin. Der Ausstieg aus dem Atomausstieg nimmt Formen an. Die Bundesregierung erwägt nach Informationen der „Süddeutschen Zeitung“, Atomkraftwerke bis zu 60 Jahre am Netz zu lassen. Umwelt-, Wirtschaftsministerium und Kanzleramt hätten sich darauf verständigt, auch eine Verlängerung der Laufzeiten um 28 Jahre förmlich prüfen zu lassen. Demnach sollen Gutachter vier Szenarien errechnen lassen, für vier, zwölf, 20 und 28 Jahre. Der geltende, noch von Rot-Grün und den Akw-Betreibern ausgehandelte Atomkompromiss sieht Regellaufzeiten von 32 Jahren vor. Bei einer Verlängerung um 28 Jahre ergeben sich somit Gesamtlaufzeiten von 60 Jahren. Das würde bedeuten, dass das letzte Atomkraftwerk ungefähr im Jahr 2050 vom Netz ginge.
Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) hatte sich bisher gegen eine solche Verlängerung und für einen schnelleren Ausstieg ausgesprochen. Nach einem Bericht des „Handelsblatt“ erklärte er sich aber bei einem Gespräch mit Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (CDU) und Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) bereit, Szenarien für vier, zwölf, 20 und 28 Jahre errechnen zu lassen. Noch am Mittwoch hatte Röttgen gesagt, es gehe um eine Verlängerung von „maximal 20 Jahren“. Er hatte sich zunächst dafür eingesetzt, die Regellaufzeit von 32 Jahren um höchstens 8 Jahre zu verlängern. Nun soll er doch eingelenkt haben. Allerdings handele es sich „lediglich um vorläufige Berechnungen“, sagte Röttgen der „SZ“. „Damit ist noch keine Vorentscheidung getroffen.“
Die Regierung aus Union und FDP arbeitet derzeit an einem energiepolitischen Gesamtkonzept, auf dessen Grundlage ab Herbst die Entscheidung über die Laufzeiten für Kernkraftwerke in Deutschland getroffen werden soll. Die Unionsfraktion hatte sich bereits am Dienstag dafür ausgesprochen, auch eine Verlängerung um bis zu 28 Jahre zu erwägen. Bislang wollte die schwarz-gelbe Koalition maximal 20 zusätzliche Jahre prüfen. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) pochte im „Handelsblatt“ auf ein Mitspracherecht der Bundesländer bei der Laufzeit-Frage. „Natürlich ist zur Verlängerung der Laufzeiten ein Gesetz notwendig, und dafür ist auch eine Mehrheit im Bundesrat nötig. Die Länder müssen einer Laufzeitverlängerung also zustimmen“, sagte Rüttgers.
Der NRW-Regierungschef, dessen schwarz-gelbe Koalition in Düsseldorf derzeit keine Mehrheit erwarten kann, stützte den in der CDU umstrittenen Atom-Kurs von Umweltminister Röttgen. Längere Laufzeiten seien nicht einfach nur eine Frage der Gegenleistung durch die Atomkraftwerksbetreiber. „Kernenergie hat in Deutschland keine hohe Akzeptanz. Deshalb hat der Bundesumweltminister Recht, wenn er sagt, dass sich die Entscheidung über die Laufzeitverlängerung aus der Frage der Sicherheit und der Frage des künftigen Energie-Mixes ableiten muss und nicht aus einer Gegenleistung“, sagte Rüttgers.
SPD-Chef Sigmar Gabriel erhob indes schwere Vorwürfe gegen die Bundesregierung. Die Koalition müsse „von allen guten Geistern verlassen“ sein, sagte er im Deutschlandradio Kultur. Wie man eine Verlängerung auf 60 Jahre für „älteste Schrottmeiler“ verantworten könne, sei ihm schleierhaft, sagte der frühere Bundesumweltminister. „Das ist brutaler Lobbyismus. Es geht allein darum, dass ein Betreiber mit einem alten Atomkraftwerk eine Million Euro am Tag verdient.“ Gabriel verwies auf die immer wieder auftretenden Probleme in Reaktoren wie Krümmel, Biblis und Brunsbüttel und die offene Endlagerfrage.