Hamburg. Im Streit um den Atomausstieg ist Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf Distanz zu Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) gegangen. Seine Äußerungen, wonach Röttgen spätestens 2030 mit dem Atomausstieg rechne, seien "verfrüht", sagte Merkels Sprecher Ulrich Wilhelm der "Welt am Sonntag". Röttgen hatte in Sachen Atomlaufzeiten zunächst Rückendeckung der Kanzlerin erhalten. Wilhelm hatte vor zwei Wochen darauf hingewiesen, dass Röttgen sich im Rahmen des Koalitionsvertrages bewege, wenn er die Atomkraft als Brückentechnologie bis zu ihrer Ersetzung durch erneuerbare Energien bezeichne. Jetzt ruderte Wilhelm zurück: Es gebe eine klare Verabredung in der Koalition, der zufolge das Umweltministerium und das Wirtschaftsministerium gemeinsam Szenarien zur Energieversorgung in Deutschland erstellen würden. Auf dieser Grundlage werde im Herbst entschieden, wie lange die Atomenergie noch gebraucht werde.
Mit dem von der rot-grünen Bundesregierung beschlossenen Atomausstieg müsste das letzte Atomkraftwerk eigentlich 2022 abgeschaltet werden. Union und FDP haben sich im Koalitionsvertrag jedoch dazu bereit erklärt, die Laufzeiten unter Einhaltung der Sicherheitsstandards zu verlängern. Auf diese Weise soll die Zeit überbrückt werden, bis genügend erneuerbare Energie zur Verfügung steht. Aus Röttgens Sicht ist dies bis spätestens 2030 der Fall. Bis dahin steige der Ökostromanteil von heute 16 auf 40 Prozent, sagte er der "Frankfurter Rundschau". Er bekräftigte erneut: "Wir wollen die Hauptversorgung durch erneuerbare Energien so schnell wie möglich erreichen."
Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Renate Künast reagierte mit Hohn auf Röttgen: "Bislang gibt er nur den PR-Berater für Merkel, um der Union einen grünen Anstrich der Modernisierung zu geben. Wer es ernst meint mit der Modernisierung unseres Landes, lässt die letzte Kilowatteinheit Atomstrom spätestens im Jahre 2022 fließen."
Anders als Röttgen glaubt das Umweltbundesamt (UBA), dass Deutschland seine 17 Atomkraftwerke durchaus noch früher ersetzen könne. "Wir können den Anteil von 40 Prozent erneuerbarer Energien gut um das Jahr 2020 erreichen", sagte UBA-Präsident Jochen Flasbarth der "Süddeutschen Zeitung". Flasbarth forderte darum, die Nutzung der Atomkraft "schnellstmöglich" zu beenden. Sie sei nicht nur riskant, sondern biete auch "technologisch und wirtschaftlich keine Zukunftsperspektive". Röttgen nannte hingegen einen so frühen Atomausstieg zu optimistisch. "Wir dürfen nicht mit Wunschzahlen operieren." Er sei dafür, konservativ zu rechnen.
Aus der Sicht der Unions-Ministerpräsidenten Roland Koch (Hessen) und Stefan Mappus (Baden-Württemberg) rechnet Röttgen nicht konservativ genug. Sie hatten ihn zuletzt scharf für seinen Kurs in der Atompolitik kritisiert und eine deutliche Verlängerung der AKW-Laufzeiten gefordert. In Baden-Württemberg und Hessen stehen auch die Meiler Neckarwestheim I und Biblis A. Nach geltendem Recht müssten sie noch in diesem Jahr vom Netz gehen. Die vier großen deutschen Energiekonzerne haben jedoch nach einem "Spiegel"-Bericht bereits Verhandlungen aufgenommen, um die Reaktoren über die kommenden Monate zu retten. Es geht darum, ein noch nicht verbrauchtes Stromkontingent des stillgelegten E.on-Atomkraftwerks Stade auf Biblis und Neckarwestheim zu übertragen. E.on verlange von den Konkurrenten allerdings einen sehr hohen Preis, berichtete der "Spiegel". Biblis gehört RWE, Neckarwestheim EnBW.