Gerichtstermine, Autorennen, Aktionärstheater – der Coach ist dieser Tage trotz guter Ergebnisse nicht zu beneiden. Ein Kommentar.
Was wohl aus dem HSV geworden wäre, wenn Thomas Tuchel vor acht Jahren der neue Trainer geworden wäre? Diese Frage wird man leider nie beantworten können. Dabei hatte der heutige Startrainer, der in den vergangenen Jahren stattdessen bei Borussia Dortmund, Paris Saint-Germain und dem FC Chelsea arbeitete, 2015 im Volkspark bereits seine lose Zusage gegeben.
Doch es kam anders. Tuchel begründete seine Absage an den damaligen Clubchef Dietmar Beiersdorfer wie folgt: „Ich wollte einen Top-Bundesligisten übernehmen. Aber in Hamburg hatte ich das Gefühl, dass ich mich auf meiner zweiten Trainerstation übernehmen könnte. Ich sollte dort mehr sein als Trainer.“
Tim Walter muss beim HSV mehr sein als ein Trainer
Mehr sein als nur Fußballtrainer – ein Satz, den vor allem Tim Walter in diesen Tagen unterschreiben würde, wenn er mal wieder über seine Arbeit als Chefcoach des HSV spricht. An diesem Freitag um 11 Uhr zum Beispiel bei der turnusmäßigen Pressekonferenz vor dem Topspiel beim FC Heidenheim am Sonnabend (20.30 Uhr). Walter wird dann wieder viele Fragen beantworten.
Mit Fußball dürften die wenigsten zu tun haben. Walter wird darüber sprechen, wie er über Jean-Luc Dompé, William Mikelbrencis und den schweren Verkehrsunfall samt Fahrerflucht nach einem mutmaßlich illegalen Autorennen denkt. Er wird über den ersten Fall von Epo-Doping im deutschen Fußball sprechen, dessentwegen sich sein Abwehrspieler Mario Vuskovic am Donnerstag zum zweiten Mal vor dem DFB-Sportgericht in Frankfurt verantworten musste.
Vielleicht wird Walter auch nach Bakery Jatta gefragt, der am Montag in einem Saal des Hamburger Landgerichts saß, weil ein ehemaliger Berater ihn und seinen jetzigen Berater auf eine Millionensumme verklagt. Und dann ist da noch der nicht enden wollende Streit im Hintergrund des Clubs, der sich vor allem um Marcell Jansen und Thomas Wüstefeld dreht. Schon vor dem Rostock-Spiel wurde Walter nach seiner Meinung zu dieser hollywoodreifen Seifenoper befragt.
Negative HSV-Schlagzeilen: Was würde Thomas Tuchel denken?
Mit Wüstefeld hatte sich Walter vor Monaten schon einmal im Stadion angelegt, als dieser noch Vorstand war und den Familien der Spieler und Betreuer unangekündigt den zu versteuernden Anteil für genutzte VIP-Karten vom Gehalt abzog. Zuletzt hatte Wüstefeld dem HSV die Nutzung seiner Corona-Testgeräte nachträglich in Rechnung gestellt, woraufhin der aktuelle Vorstand den Ex-Vorstand in dieser Woche via Abendblatt zur unerwünschten Person erklärte. Geschichten, die nur der Fußball schreibt, heißt es oft. In diesen Fällen müsste es heißen: Geschichten, die nur der HSV schreibt. Und das Einmalige: All diese Geschichten ereigneten sich innerhalb von nur vier Tagen.
Was wohl Thomas Tuchel denken würde, wenn er die HSV-Schlagzeilen allein in dieser Woche gelesen hätte? Sein Trainerkollege Tim Walter ist in jedem Fall nicht gerade zu beneiden. Während die Fußballlehrer bei anderen Pressekonferenzen über ihren Matchplan oder die Gegneranalyse sprechen, geht es beim HSV aktuell um vieles – um Fußball aber nur am Rande. Und das in einer Phase, in der es sportlich so gut läuft wie lange nicht und der Aufstieg in die Bundesliga im fünften Anlauf tatsächlich realistisch erscheint.
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Walters Vorgänger werden wissen, wie sich der 47-Jährige fühlt. Man könnte mal bei Daniel Thioune nachfragen, der 2020 mit einer 1:4-Niederlage im DFB-Pokal beim Drittligisten Dynamo Dresden in seine Mission startete. Was sportlich schieflief, war aber kein Thema, weil der gerade neu verpflichtete Abwehrchef Toni Leistner vor seinem Interview plötzlich auf die Tribüne kletterte und sich mitten in der Corona-Pandemie einen Nahkampf mit einem Dresdner Fan lieferte, der ihn übel beleidigt hatte. Was für Thioune der Fall Leistner war, war für Dieter Hecking der Fall Bakery Jatta, für Bernd Hollerbach der Fall Vasilije Janjicic oder für Bruno Labbadia der Rucksack-Fall Peter Knäbel.
Wie es der HSV immer wieder schafft, all diese Geschichten magisch anzuziehen, gehört zu den Besonderheiten dieses nicht ganz normalen Clubs. Thomas Tuchel hat das gespürt, bevor er sich auf den HSV eingelassen hat. Wo genau der Schlachtruf „Nur der HSV“ entstand, ist zwar nicht bekannt. Selten aber hat er so gut gepasst wie in dieser Woche.