Hamburg. 75 Jahre Abendblatt: Mit der Veröffentlichung der falschen Tagebücher sorgte der „Stern“ 1983 für Presseskandal.

Gewiss, der sogenannte Affenfelsen an der Außenalster steht noch. Das terrassenartig konstruierte Gebäude im Hamburger Stadtteil Rotherbaum ist inzwischen ein ganz normaler Büro-Komplex mit verschiedener Mietern – bis 1990 war das Haus mit der Nummer Warburgstraße 50 die erste Adresse und der Hauptsitz von Gruner + Jahr.

Dort gerät am 25. April 1983 einiges aus den Fugen. Es ist der Ort, an dem sich einige hohe Tiere und Verantwortliche des damals großen Verlags, der heute im Hafen am Baumwall ein Teil von RTL Deutschland ist, selbst zum Affen machen. Vor der Vorstandsetage im neunten Stock bis weiter nach unten. Weil einige Leute einer vermeintlich sensationellen Spur gefolgt sind, die einen der größten Presseskandale der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte auslöst. Er hat eine fast drei Jahre lange Vorgeschichte, welcher das G+J-Flaggschiff „Stern“ letztlich in seine schwerste Krise stürzen sollte.

Hitler-Tagebücher: Stern-Reporter präsentiert stolz den „Sensationsfund“

Das ahnt an jenem Montagvormittag vor 40 Jahren kaum jemand, als sich unten in der Kantine vom „Affenfelsen“ neben Hamburgs „Weißen Haus“, jahrzehntelang Sitz des US-Generalkonsulats, rund 200 Journalisten aus aller Welt und 27 Fernsehteams drängeln. „Stern“-Reporter Gerd Heidemann lässt sich dazu hinreißen, mit stolzgeschwellter Brust und mit festem Blick seinen „Sensationsfund“ zu präsentieren: Er habe die Tagebücher des Nazi-Diktators Adolf Hitler entdeckt. Daneben sitzen Thomas Walde, verantwortlicher Redakteur im Ressort Zeitgeschichte, und Peter Koch, als einer von drei Chefredakteuren (neben Rolf Gillhausen und Felix Schmidt) zuständig für Politik.

Jener Koch – ein studierter Historiker –, der mit seinem Satz „Die Geschichte des Dritten Reiches wird in großen Teilen neu geschrieben werden müssen“ auf der Pressekonferenz dick aufträgt. Und den Satz drei Tage später in seinem doppelseitigen Editorial unter der Überschrift „Der Fund“ für das „Stern“-Heft Nr. 18 nur unwesentlich revidiert: „Die Geschichte des Dritten Reiches muss teilweise umgeschrieben werden“, formuliert Koch dort. Bei einer um 400.000 Exemplare auf 2,2 Millionen erhöhten Auflage erreicht das angesehne Magazin seine bis dato größte Auflage. Die weltweite Häme wird gut eine Woche später noch um einiges größer ausfallen.

Gerd Heidemann (r.) mit den vermeintlichen Tagebüchern neben „Stern“-Chef Peter Koch (l.) und Thomas Walde, dem Redakteur des Ressorts „Zeitgeschichte“.
Gerd Heidemann (r.) mit den vermeintlichen Tagebüchern neben „Stern“-Chef Peter Koch (l.) und Thomas Walde, dem Redakteur des Ressorts „Zeitgeschichte“. © picture-alliance/ dpa | dpa Cornelia Gus

Bereits bei der Pressekonferenz kommen Bedenken an der Echtheit des angeblichen historischen Fundes auf. Heidemann präsentiert zunächst etwa ein Dutzend Kladden mit den umstrittenen Aufzeichnungen, berichtet, wie er auf die Spur der Notizen des „Führers“ gestoßen sei. Am 27. April, einen Tag vor Veröffentlichung im „Stern“, wird der gebürtige Altonaer Heidemann bei „Zeitschriften intern“, dem sogenannten grünen Dienst für Mitarbeiter in Redaktionen und Verlag von G+J, noch beschrieben als „den hartnäckigsten, raffiniertesten Reporter in Deutschland, den zähesten Spürhund, der sich denken lässt“.

Hitler-Tagebücher: Magazin legte Gutachten und chemische Papieranalyse vor

Nach außen hat sich das Magazin versucht, durch die Vorlage von Schriftgutachten, einer chemischen Papieranalyse und Stellungnahme von anerkannten Historikern gegen die Zweifel an der Echtheit der Schriftstücke zu behaupten. Schriftkundige indes haben beim Coverfoto des „Sterns“ mit dem Titel „Hitlers Tagebücher entdeckt“ weitere Zweifel: Die Fraktur-Initialen auf einem Tagebuch-Einband zeigen statt AH ein F und ein H. „Führer Heil?“, „Führer Hitler?“, „Führers Hund?“, „Führer-Hauptquartier?“, lässt Filmregisseur Helmut Dietl die Beteiligten neun Jahre später an der Skandal-Geschichte rätseln. Für Spott ist fortan auch auf der großen Leinwand und bei den häufigen Wiederholungen der Satire „Schtonk!“ im Fernsehen gesorgt.

So oft man sich im Rückblick auf das Geschehen vor 40 Jahren wundern und schmunzeln mag, so ernst bleiben die Hintergründe und die Folgen dieser Lügen-Geschichte(n).

Am 6. Mai 1983, zwölf Tage nach der Präsentation, werden in der G+J-Tiefdruck-Druckerei in Itzehoe die Maschinen für das Heft mit der dritten Serien-Folge über die „Hitler-Tagebücher“ gestoppt. Das Bundesarchiv in Koblenz hat herausgefunden: „Die Hitler-Tagebücher sind gefälscht.“ Nachrichtenagenturen melden, dass die Fälschung erkannt worden sei, weil die Notizen auf Papier aus den 50er-Jahren geschrieben waren.

Fälschung: „Tagesschau“ meldete die Rücktritte der „Stern“-Chefredakteure

Am 7. Mai meldet die „Tagesschau“ die Rücktritte der „Stern“-Chefredakteure Koch und Schmidt. Letzterer, zuständig für Unterhaltung und Kultur, hatte kurz vor Drucklegung der Tagebücher seine Zweifel einem Freund anvertraut: „Wenn wir einer Fälschung aufgesessen sind, ist die tiefste Stelle der Alster nicht tief genug, uns aufzunehmen.“ Nebenbei: Diese liegt mit 4,5 Metern vor der Kennedybrücke. Für Felix Schmidt (heute 89) klang die Meldung von der Fälschung wie eine „Selbstauslöschung“. Jedoch wurden ihm und Koch die Rücktritte mit jeweils drei Millionen D-Mark Abfindung reichlich versüßt. Diese Summen sind ebenso überliefert wie jene 9,34 Millionen Mark, die die Verantwortlichen von G+J mehr als zweieinhalb Jahre lang für den Ankauf von insgesamt 62 Kladden bezahlt hatten – lange an der Chefredaktion vorbei.

Wolf Schneider, der 2022 im Alter von 97 Jahren gestorbene Bestsellerautor und langjährige „NDR Talkshow“-Moderator, hat unter anderem dies bereits 2000 in einzelnen Kapiteln von „Die Gruner + Jahr Story“ akribisch zusammengetragen. Seine Insider-Reportage über das ehemals größte Zeitschriftenhaus Europas zeigt detailliert auf, wie das Unheil um die angeblichen Tagebücher schon Ende 1980 nach dem Rückzug von „Stern“-Gründer Henri Nannen als Chefredakteur auf den Posten des Herausgebers begann.

„Die Zündschnur glimmt“ nennt Schneider das Kapitel über das Jahr 1981. Darin bezeichnete der frühere Chefredakteur der „Welt“ und „Stern“-Verlagsleiter die Anfänge um die „Hitler-Tagebücher“ zunächst noch als „Posse“. Der 27. Januar 1981 aber ist für Schneider dann „der Grundstein der Katastrophe“. An diesem Tag informieren Reporter Gerd Heidemann, Thomas Walde, der verantwortliche „Stern“-Redakteur für Zeitgeschichte, und Vize--Verlagsleiter Wilfried Sorge das für Zeitschriften zuständige G+J-Vorstandsmitglied Jan Hensmann darüber, dass sie ein Hitler-Tagebuch von 1935 hätten. Das hatte Heidemann über einen Militaria-Sammler erhalten. Der gab ihm die Telefonnummer des Tagebuch-Lieferanten, eines gewissen Konrad Fischer.

Sein erstes Hitler-„Tagebuch“ hatte Fälscher Kujau schon 1975 verfasst

Jener Mann aus Bietigheim-Bissingen mit realem sächsischen Migrationshintergrund, der gut zwei Jahre später unter seinem wahren Nachnamen Kujau als enorm emsiger, letztlich krimineller Fälscher entlarvt werden sollte. Sein erstes „Tagebuch“ hatte er schon 1975 verfasst.

Hensmann geht am 27.1.1981 mit dem vorstellig gewordenen Trio zum G+J-Vorstandschef Manfred Fischer. „Nannen quatscht!“, sagt Heidemann, und die von ihm berufenen Chefredakteure Koch und Schmidt seien genauso geschwätzig. Dass bei diesem Treffen weitreichende Beschlüsse für den „Stern“ gefasst werden und die Chefredaktion ausdrücklich übergangen wird – für den Vollblutjournalisten und Buchautor Wolf Schneider „der Sündenfall“ schlechthin. Zumal Heidemann, schon damals beim „Stern“ bei manchen wegen seines „Nazi-Ticks“ verschrien, sich gegenüber dem Vorstandschef weigert, den Lieferanten zu nennen. Und Walde behauptet, falls Gruner + Jahr nicht zugreife, werde ein US-amerikanischer Verlag die Tagebücher bekommen.

Fälschungsübungen mit Hitler-Unterschriften und Briefen aus der Hand Konrad Kujaus: Diese wurden im Oktober 1984 in Sugenheim versteigert.
Fälschungsübungen mit Hitler-Unterschriften und Briefen aus der Hand Konrad Kujaus: Diese wurden im Oktober 1984 in Sugenheim versteigert. © picture-alliance / dpa | Vetter

Kurz darauf fährt G+J-Finanzvorstand Peter Kühsel mit Heidemann zur letzten an diesem Tag noch geöffneten Bankfiliale am Hamburger Flughafen, hebt 200.000 Mark ab. Das Geld wandert in Heidemanns Aktenkoffer, und der Reporter verspricht, mit diesem Darlehen zwei oder drei weitere Tagebücher zu beschaffen.

Heidemann hatte sich seit Beginn der 70er-Jahre mit der NS-Zeit beschäftigt, die ehemalige Motoryacht des NS-Reichsministers Hermann Göring für 160.000 Mark gekauft und sich verschuldet. Über befreundete Sammler kam er in Kontakt mit Alt-Nazis und letztlich mit Kujau.

Adolf Hitlers letzte Kriegstage: Persönliche Aufzeichnungen waren Märchen Kujaus

In den letzten Kriegstagen seien persönliche Aufzeichnungen Adolf Hitlers bei einem Flugzeugabsturz verschollen. Doch die Fracht sei an der Absturzstelle auf dem Gebiet der DDR aufgetaucht, er könne den Schmuggel über die innerdeutsche Grenze mithilfe von Verwandten organisieren – immerhin sei sein Schwager Museumsdirektor, sein Bruder NVA-Offizier im Osten. Nur einige der Märchen Kujaus.

Als G+J-Vorstandschef Fischer am 18. Februar 1981 das erste „Tagebuch“ in der Hand hält, sei es für ihn „geradezu ein sinnliches Erlebnis“, wird er vier Jahre später vor Gericht aussagen – als Zeuge. Wenige Tage später sichert er Heidemann eine Beteiligung an den Lizenzerlösen der Tagebüchern zu, der Reporter und Walde erhalten zusätzlich exklusive Rechte an deren Auswertung. Fischer holt sich bis März Rückendeckung für die Beschaffung weiterer angeblicher 27 Tagebücher bei Bertelsmann-Boss Reinhard Mohn in Gütersloh („Wenn die echt sind, dann habt ihr einen großen Fisch an der Angel“). Und als Fischer von Mohn Mitte des Jahres den Vorstandsvorsitz bei Bertelsmann übernimmt, wird in Hamburg auch Gerd Schulte-Hillen als Fischers Nachfolger an der Gruner+Jahr-Spitze in den vermeintlichen Scoop eingeweiht. Der ehrgeizige Manager aus dem Sauerland wird bei der Veröffentlichung einer der Hauptverantwortlichen sein; bis 1982 erfolgte mit seiner Billigung der Kauf der insgesamt 62 Bände für fast zehn Millionen Mark.

Gefälschte Tagebücher: Keiner überwachte Prüfung – auch nicht Chefredakteure

Oben im „Affenfelsen“ tobte schon ein heftiger Streit um die Veröffentlichung. Der Vorstand setzt sich durch – auch weil im Auftrag von G+ J drei Schriftgutachter ihnen vorgelegte Seiten aus den „Tagebüchern“ als echt deklariert hatten. Der Haken: Für das Jahr 1941 verließen sich die drei auf Hitler-Niederschriften aus der Sammlung Heidemann – und verglichen letztlich Kujau mit Kujau.

Fatal im Rückblick bleiben die vielen Merkwürdigkeiten, Fragezeichen und Warnhinweise, die weder von Journalisten noch von Kaufleuten ernst genommen wurden. Wolf Schneider nennt all das in seinem Buch „eine Fehlkonstruktion, die von Anfang an den Kollaps begünstigt hat“. Keiner in der Hierarchie überwachte die Prüfungen der Tagebücher, auch nicht die Chefredakteure des „Stern“.

Es sind stattdessen Heidemann und Walde, die ein millionenschweres Interesse daran hatten, dass die Schriften als echt angesehen wurden. Und der stellvertretende „Stern“-Verlagsleiter Sorge, der geraten hatte, die Chefredaktion erst mal außen vor zu lassen, ist der Mann, bei dem Heidemann die Millionen für die Tagebücher in bar abholt und die Bände abliefert. „Alle Kontrollmechanismen zwischen Redaktion und Verlag waren außer Kraft gesetzt. Die Katastrophe war programmiert“, schrieb Michael Seufert in seinem Buch „Der Skandal um die Hitler-Tagebücher“ zum 25. „Jubiläum“ der Affäre. Er hatte diese 2008 auch in einer Serie für das Abendblatt zusammengefasst. Seufert war 1983 nach Bekanntwerden der Fälschungen als „Stern“-Redakteur von Nannen mit der internen Aufklärung betraut worden. „Bei den Beteiligten geht es um Karrieren, Macht und vor allem um viel Geld“, lautet Seuferts Erkenntnis.

Ironie der Medien-Geschichte: Thomas Walde baut Radio Hamburg auf

War es der oft zitierte „Scheckbuch-Journalismus“ oder aber auch Größen- und Hitler-Wahn Einzelner?

Ironie der Medien-Geschichte: Thomas Walde baute nach seinen Abschied vom „Stern“ von 1986 an als Chef vom Dienst und späterer Programmdirektor den ersten hanseatischen privaten Rundfunksender Radio Hamburg auf und aus; sein langjähriger Freund aus Uelzener Tagen, Wilfried Sorge, wurde Gründungsgeschäftsführer von Radio Hamburg.

Da waren Heidemann und Kujau im Juli 1985 bereits vom Landgericht Hamburg verurteilt worden. Kujau erhielt wegen Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung vier Jahre und sechs Monaten Haft, er wurde nach drei Jahren wegen seiner schweren Kehlkopfkrebs-Erkrankung entlassen. Aus heutiger Sicht wirkt es peinlich, wenn nicht sogar bedenklich, wie der talentierte Kunstfälscher, der Hitlers Handschrift täuschend echt nachahmen konnte, von manchen Medien hofiert und herumgereicht wurde. Weil er nicht nur seine Bücher (an Heidemann), sondern auch sich selbst gut verkaufen konnte. Mit seinen oft banalen Einträgen in die Kladden unterstellte Kujau, dass Hitler von der Ermordung der Juden in Europa nichts gewusst habe – eine Leugnung des Holocausts durch Vertuschung und Verharmlosung.

„Hitler-Tagebücher“. Nach Gerichtsauffassung hatte Heidemann Millionen unterschlagen

Denkbar, das die „Hitler-Tagebücher“ den Geschichtsrevisionismus der 1980er beflügelt hätten, wären sie damals nicht so schnell als Fälschung aufgeflogen. Kujau starb im Jahr 2000 in Stuttgart. Heidemann, der vom „Stern“ entlassen worden war, verurteilte das Landgericht wegen schweren Betrugs zu vier Jahren und acht Monaten Freiheitsstrafe. Nach Auffassung des Gerichts hatte er mehrere Millionen Mark unterschlagen. Die Haftzeit verbrachte Heidemann im offenen Vollzug. Der ehemalige Star-Reporter lebt 91-jährig in Altona und hat dort im Keller eines ehemaligen Verwaltungsgebäudes „versucht, die gesamte Geschichte der Menschheit zu dokumentieren“, wie er im Frühjahr in der SWR-Dokumentation „Der Hitler-Fake: Geschichte einer Jahrhundertfälschung“ kundtat. Auch die NS-Zeit.

Beim „,größten anzunehmenden Unfall‘ der Zeitschriftengeschichte“, als solchen der „Stern“ den Skandal später selbst bezeichnete, geriet die Glaubwürdigkeit eines der renommiertesten Magazine der Republik nachhaltig in Verruf. „Nannen sah sein Lebenswerk in Gefahr, und die Redaktion fürchtete um ihre journalistischen Lebensinhalte“, erinnert sich heute der langjährige Gesamtbetriebsrats-Vorsitzende Rudolf Herbers (88), als Vertreter der Redaktionen damals Mitglied des Aufsichtsrates der Gruner + Jahr AG, an die turbulenten Wochen im Mai 1983. Eine Woche lang hielt die „Stern“-Redaktion nach dem Skandal den „Affenfelsen“ mit Unterstützung der anderen G+J-Beschäftigten besetzt. „Es hat lange gedauert, bis das Misstrauen von Informanten wieder abgebaut war“, sagt Herbers.

Im April 2023 hat Bertelsmann respektive RTL Deutschland, zu dessen Portfolio der „Stern“ jetzt gehört, angekündigt, dass die „Tagebücher“ im Laufe des Jahres ans Bundesarchiv abgegeben werden sollen. Zeit wird es. Nach dem Aus- und Umzug von Gruner + Jahr am Baumwall im Laufe des Jahres 2025 in die HafenCity sind sie in Koblenz gewiss besser aufgehoben.