Hamburg. 75 Jahre Abendblatt: Explosion erschüttert auch das politische Hamburg. Granaten, Arsen, Strychnin und Zyankali liegen offen herum.
Die Explosion ist gewaltig, Ein ohrenbetäubender Knall ist noch Straßen weiter zu hören, dann folgt ein zweiter. Die Detonationen im Keller des Hauses am Lüdersring 137 in Lurup hebt Türen aus den Angeln. Polizei und Rettungswagen rasen herbei. Schnell stellen sie fest: Kinder haben im Keller mit hochgefährlichen Chemikalien gespielt. Der elfjährige Oliver L. stirbt, sein zwei Jahre älterer Bruder Thomas und dessen gleichaltriger Freund Stephan werden schwer verletzt.
Die Explosion an diesem 6. September 1979 erschüttert auch das politische Hamburg. Denn die Substanzen, mit denen die Kinder hantiert haben, hatten sie auf dem heruntergekommenen Gelände der Chemischen Fabrik Dr. Hugo Stoltzenberg ganz in der Nähe gefunden. Der durchlöcherte Zaun um das Areal an der Ecke Farnhornstieg/Hellgrundweg unweit der A7 und des Volksparks war für die Jungen kein Hindernis. Das alte Fabrikgelände übte offenbar eine magische Anziehungskraft auf Kinder und Jugendliche aus der Nachbarschaft aus. In den verfallenen Gebäuden lagern Dosen, Fässer und Kisten, die aufregend scheinen, aber hochgefährlich sind.
Stoltzenberg-Skandal: Granaten, Arsen, Strychnin und Zyankali liegen offen herum
Als Polizei und Feuerwehr nach dem tödlichen Unglück das Gelände durchsuchen, trauen sie ihren Augen kaum: Hier liegen Mörsergranaten und Nebelgranaten einfach so herum, gleichfalls Giftstoffe wie Arsen, Strychnin und Zyankali. Die Beamten entdecken zwei Liter Phosgen, ein Dutzend Flaschen Chlorgas und sogar Granaten, gefüllt mit dem tödlichen Nervengas Tabun.
400 Milligramm pro Kubikmeter Luft reichen aus, heißt es, um einen Menschen in Sekundenschnelle zu töten. „Die Menge und die Gefährlichkeit der Gift- und Kampfstoffe, die auf dem Gelände jahrzehntelang weitgehend ungesichert herumgelegen hatten, überstiegen das Maß des Begreifbaren“, schreibt das Hamburger Abendblatt damals.
Viele Hinweise auf Missstände bei Stoltzenberg – nichts passiert
Der eigentliche Skandal, der den Fall Stoltzenberg auch bundesweit berühmt macht: Immer wieder hat es Hinweise auf die Zustände auf dem Gelände gegeben, doch diesen ist nie konsequent nachgegangen worden. Der Chemiker Hugo Stoltzenberg (geb. 1883) hatte bereits im Ersten Weltkrieg Giftgase für das Deutsche Reich entwickelt und war 1915 am ersten Giftgaseinsatz an der damaligen Westfront bei der Schlacht von Ypern in Belgien beteiligt. Nach Kriegsende machte er sich mit der Produktion von Gift- und eigentlich geächteten chemischen Kampfstoffen selbstständig.
Schon 1928 war die Firma in ein folgenschweres Unglück verwickelt, das in der Rückschau als erster Stoltzenberg-Skandal bezeichnet werden muss. Damals traten große Mengen an Phosgen aus und zogen in einer Giftgaswolke durch Georgswerder. Mindestens zehn Menschen starben, 300 wurden verletzt. Doch Stoltzenberg handelte weiter mit chemischen Kampfstoffen. Nach seinem Tod 1974 hat dessen Prokurist Martin L. das Geschäft ausgesprochen lax weitergeführt, ohne sich um Sicherheitsbestimmungen zu kümmern.
Auslaufen von Granate mit Nervengift Tabun hätte tödliche Gaswolke bewirkt
Und so prägen undefinierbare Schrottberge und halb in die Erde vergrabene Tonnen und Behälter das Bild auf dem Gelände. Giftiger Zinkschlamm ist in Kisten abgefüllt, aus defekten Behältern tropfen undefinierbare Substanzen heraus. Allein das Auslaufen einer der Vierlitergranaten mit dem Nervengift Tabun hätte eine tödliche Gaswolke von 630 Metern Durchmesser erzeugen können, schreibt das Abendblatt.
Während das Fabrikgelände in den folgenden Wochen vorsichtig geräumt wird, müssen Anwohner und Mitarbeiter der umliegenden Betriebe wegen der Gefahr immer wieder ihre Häuser, Wohnungen und Büros verlassen. Spezialisten der Bundeswehr rücken an, tagelang laden sie die hochgefährlichen Funde auf Lastwagen und bringen sie ins niedersächsische Munster, wo man sie unschädlich macht. Als die Transporter den Elbtunnel passieren, muss dieser aus Sicherheitsgründen sogar für den übrigen Verkehr gesperrt werden.
Sichergestellte Stoffe hätten gereicht, um ganzen Stadtteil zu entvölkern
Der Boden der Firma in Eidelstedt ist so stark kontaminiert, dass er auf rund 7500 Quadratmetern bis zu einer Tiefe von 2,50 Metern abgetragen werden muss. Was dort sichergestellt wird, hätte ausgereicht, um einen ganzen Stadtteil zu entvölkern – und das 34 Jahre nach Ende des Krieges.
Nachdem das ganze Ausmaß der dort gelagerten Gift- und Kampfstoffe durch die todbringende Explosion 1979 offenbar geworden ist, setzt die Hamburgische Bürgerschaft noch im selben Jahr einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) ein. Der bringt Unfassbares ans Licht: Zwischen 1945 und 1979 haben insgesamt 600 Behördenmitarbeiter bei 230 Besichtigungen das Firmengelände inspiziert – ohne jegliche Konsequenzen. Die Missstände waren also bekannt, das Versagen der Behörden eklatant.
Justizsenator muss gehen, während Klose als Bürgermeister im Amt bleibt
„Dieser Fall ist zu einer Demonstration von Mängeln in der Hamburger Verwaltung geworden“, bilanziert der PUA-Vorsitzende Gerd Weiland (SPD), nachdem 76 Zeugen gehört worden sind. Dieses Urteil wiegt umso schwerer, als eben diese Verwaltung seit 1957 von Senaten unter Führung seiner eigenen Partei, der SPD, politisch geleitet wird.
Justizsenator Frank Dahrendorf, ein FDP-Mann, muss dann doch gehen, weil er acht Jahre zuvor – damals noch als Staatsrat – die Gefährdungslage auf dem Stoltzenberg-Gelände falsch eingeschätzt hatte. Ansonsten, so schreibt das Abendblatt, „blieb es bei Empörungserklärungen“. Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (SPD) kann sich im Amt halten, auch wenn sein Stuhl zwischenzeitlich wackelt. Entgegen den Empfehlungen des PUA werden gegen die zahlreichen Behördenmitarbeiter, die versagt haben, keine disziplinarischen Maßnahmen eingeleitet, obwohl man einigen „mangelnde Kenntnisse von Gesetzen und Vernachlässigung von Aufgaben“ vorwirft. Auch dem Inhaber des Stoltzenberg-Geländes, Martin L., wird nicht der Prozess gemacht. Der damals 68-Jährige ist gesundheitlich so angeschlagen, dass er als dauerhaft nicht vernehmungsfähig gelten muss.
Bei aller Tragik: Skandal ist „ein Treibsatz für die Umweltpolitik“
Ein solcher Fall ist heute kaum noch vorstellbar. Der Stoltzenberg-Skandal offenbart einerseits ein schweres Versagen der Behörden – seine Aufarbeitung trägt aber auch zu einer wirkungsvolleren Umweltverwaltung in Hamburg bei. Die erst im Jahr vor der verhängnisvollen Explosion in Lurup gegründete Umweltbehörde erhält mehr Personal und eigene Labore. Ex-Staatsrat Peter Rabels sagt später, der Fall Stoltzenberg sei – bei aller Tragik „ein ganz wichtiger Meilenstein, ein Treibsatz für die Umweltpolitik“ gewesen.
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Ähnliches gilt auch für einen anderen Umweltskandal, der nur wenige Jahre später Hamburg und ganz Deutschland aufrüttelt und noch deutlich größere Schäden hinterlässt. Schäden, die bis heute nicht vollständig behoben sind. Am 18. Juni 1984 muss das Werk des Chemiekonzerns Boehringer Ingelheim in Moorfleet schließen, weil die Fabrik an der Andreas-Meyer-Straße die Auflagen der Umweltbehörde nicht erfüllen kann. Einige Wochen zuvor waren auf Deponien auf der Veddel und in Georgswerder mit Dioxin verseuchte Abfälle gefunden worden – ein Schock. Es ist das erste Mal, dass eine deutsche Behörde einen großen Chemiekonzern aus Umweltschutzgründen schließen lässt. Doch der Schaden ist bereits da, das Gift schon überall im Boden, im Grundwasser, in der Luft, in der Milch der Kühe, die auf nahen Weiden grasen.
Dioxin bei Boehringer in Moorfleet – viele Mitarbeiter erkranken
Und fatalerweise werden auch in den Körpern der Boehringer-Mitarbeiter des Werkes in erhöhtem Maße Dioxine nachgewiesen. Die meisten von ihnen hantierten unwissend mit dem giftigen Stoff. Einst waren in diesem Werk des Chemie-Riesen 1600 Mitarbeiter beschäftigt, jetzt arbeiten noch 400 Menschen hier. Viele von ihnen erkranken später an Krebs oder anderen Krankheiten, die mit Dioxin in Verbindung gebracht werden. Die „Mortalitätsrate ist signifikant erhöht“, heißt es in einer später veröffentlichten Studie.
Das Dioxin ist ein Abfallprodukt, das bei Boehringer bei der Herstellung von Pflanzenschutzmitteln wie Lindan entsteht. Es ist sehr langlebig, zersetzt sich nur durch sehr hohe Temperaturen – und es ist krebserregend. Bereits im Jahr 1953 waren bei Boehringer in Hamburg Arbeiter an sogenannter Chlorakne erkrankt, die als typische Erscheinung einer Dioxin-Vergiftung gilt. Boehringer hatte daraufhin die Produktion gestoppt, sie aber nur vier Jahre später wieder aufgenommen – mit neuen, angeblich unbedenklichen Verfahren. Die dioxinhaltigen Produktionsabfälle entsorgt der Chemie-Riese auf einer Altlastendeponie an der Müggenburger Straße auf der Veddel, später auf der Mülldeponie Georgswerder.
Dioxin-Skandal: Pumpen befördern weiter verseuchtes Wasser aus Boden
Nach der Schließung lagern noch rund 1000 Tonnen Gift in Fässern auf dem Boehringer-Gelände sowie die dioxinhaltigen Abfälle in den Deponien. Das Gift ist bereits metertief ins Erdreich gedrungen. Strömendes Grundwasser hat in einer Fahne vor allem Chlorbenzole etwa 1000 Meter in südöstlicher Richtung weiter verteilt. Boehringer will das Dioxin zunächst in einer Hochtemperaturverbrennungsanlage namens „Prometheus“ unschädlich machen. Doch der Versuch scheitert – die aggressiven Substanzen zersetzen die eigens gebaute Anlage.
Also wird das betroffene 85.000 Quadratmeter große Gelände 1997/98 vollständig verkapselt. Bis zu 50 Meter tiefe Dichtwände werden in die Tonschicht gerammt, die unten den Boden des „Topfes“ bildet, welcher oben oben mit einem Betondeckel verschlossen wird – bis heute. Pumpen befördern das verseuchte Grundwasser nach oben, wo es gereinigt wird. Ein zweites Sanierungskonzept wird seit 2016 umgesetzt: Für weitere 17 Millionen Euro lässt Boehringer das in der Fahne mit Chlorbenzol verseuchte Grundwasser rund um den früheren Standort reinigen. 2015 werden neue Verträge mit Boehringer geschlossen.
Folgen des Umweltskandals dauern bis heute an
Die Folgen eines der größten Umweltskandale der deutschen Geschichte dauern bis heute an. Mit dem neuen Verfahren soll fast die gesamte Schadstoffmenge bis 2054 entfernt sein, heißt es im Vertrag der Stadt mit Boehringer von 2015. Drei Brunnen pumpen weiter Stunde für Stunde insgesamt 20 Kubikmeter besonders verunreinigten Grundwassers nach oben. Der Skandal, so heißt es aus der Umweltbehörde, habe „dazu beigetragen, dass die Altlastenbearbeitung bundesweit vorangebracht wurde“.