Hamburg. Medizin-Skandal um Prof. Rupprecht Bernbeck erschütterte das Vertrauen in die Krankenhäuser. Die Affäre nahm überraschende Wendungen.

Wenn Ärzte irren, kann das schlimme Folgen haben. Halten sie an ihren Irrtümern fest, mag das in einer Katastrophe enden. Nichts weniger als das ist der „Bernbeck-Skandal“, der in Hamburg in den achtziger Jahren ein Beben auslöste, dessen Schockwellen das Vertrauen in die Medizin in Deutschland ins Wanken brachte. Im Mittelpunkt stand ein Chefarzt wie aus dem Groschenroman: Prof. Rupprecht Bernbeck (1916 – 2003) war groß gewachsen, hatte ein „zackiges“ Auftreten, „innovative“ Behandlungsmethoden – und eine Vergangenheit, die mit jedem Tag Abstand in der Betrachtung immer zweifelhafter erscheint.

Drei Doktortitel hat er an der Universität München erworben, zwei während des Zweiten Weltkriegs, eine davon durchzogen von blankem Nazi-Rassenwahn und völkischem Schmus. Als Schiffsarzt fuhr er auf U-Booten mit. In einem nicht verifizierten Nachruf auf Bernbeck schrieb die U-Bootkameradschaft München 1926: Prof. Rupprecht Bernbeck habe der Kameradschaft „bis zum Schluss“ die Treue gehalten. Seine Mitgliedschaft habe von 1968 bis 1984 geruht – aus beruflichen Gründen.

Bernbeck-Skandal in Hamburg: Ein Chefarzt schädigte Hunderte Patienten

Tatsächlich begann im Januar 1984 nach Bernbecks Pensionierung als Chefarzt im städtischen AK Barmbek die Aufarbeitung seines „Wirkens“ in Hamburg. So wurde schnell klar, dass zwar Bernbeck im Fokus steht, es aber in Wahrheit um die Schicksale von falsch, schlecht und unter teilweise erbärmlichen hygienischen Bedingungen operierten Patientinnen und Patienten ging. Erst war es eine Handvoll Geschädigter, ein paar Dutzend, dann 100, am Ende mehr als 200. Das seien ja nur „Promille“ im Vergleich zur Zahl der OPs, sagte Bernbecks Verteidiger später in einem der Prozesse gegen „Professor Pfusch“. Der Arzt selbst bezifferte die Zahl seiner Eingriffe zwischen 1963 und 1981 vor Gericht mit 36.930.

Die Patientinnen und Patienten wandten sich an das Abendblatt und die „Morgenpost“, die im Januar 1984 zuerst berichtet hatte, dass Chefarzt Bernbeck in Barmbek Menschen zu „Krüppeln“ operiert habe. Ärztekammer und Behörden hatten sich wenig gekümmert um die Vorwürfe, die seit Langem im Raum standen.

Fehler und Hygienemängel bei OPs im AK Barmbek

Zu denen, die damals im Abendblatt als Erste ihr Schicksal schilderten, zählten:

  • Stephanie E. (16), die als Eineinhalbjährige aufgrund einer Fehlstellung der Hüften operiert wurde. Während des Eingriffs kam es zu einem Sauerstoffmangel und einem leichten Hirnschaden als Folge.
  • Gabriele K. (30), die bei einer OP wegen O-Beinen eine gravierende Infektion erlitt. Das Fußgelenk wurde versteift, die Wirbelsäule weist eine Fehlstatik auf.
  • Corinna H. (21), die nach einem Sportunfall einen Meniskusschaden hatte, allerdings an beiden Beinen operiert wurde (vermeintliche X-Beine). Ihre Beweglichkeit war nach der OP stark eingeschränkt.

Ein anderer Bernbeck-Patient, das gehört zur Wahrheit dazu, wurde im Abendblatt mit lobenden Worten zitiert: Der Professor habe ihn „in einer hoffnungslosen Lage großartig behandelt“.

Es häuften sich die Fälle mutmaßlicher OP-Opfer von Bernbeck. Von „Kunstfehlern“ war die Rede, von einem „Halbgott in Weiß“. Da schwang viel von einer Haltung mit, die Ärzte als überirdische Wesen begriff, deren Handwerk undurchschaubar, unfassbar ist. Ärztliche Kunst wurde nicht vom erlernten Können, sondern von genialer Eingabe abgeleitet. Umso schwieriger gestaltete sich die Beweisführung, wie sich zeigen sollte.

Nebenkläger im Prozess um Behandlungsfehler im AK Barmbek.
Nebenkläger im Prozess um Behandlungsfehler im AK Barmbek. © Picture Alliance/United Archives | United Archives / Frank Hempel

Expertenkommission entlastete Chefarzt Bernbeck

Und Bernbeck ging gegen die Patientinnen und Patienten vor. Kerstin H. wollte er die Aussage verbieten lassen, er habe bei der Hüft-OP die Gelenkpfanne um 180 Grad verdreht implantiert. Erst hatte sie Gehhilfen, nach dem Eingriff musste sie einen Rollstuhl nutzen. Das Landgericht wies Bernbecks einstweilige Verfügung und den Maulkorb für die Patientin zurück. Kerstin H. organisierte sich mit anderen und hatte auch dank der großen Berichterstattung mehr Erfolg bei den Behörden und der Hamburger Politik. Die Schlichtungsstelle prüfte die Vorwürfe, es wurde eine Kommission eingesetzt – doch die entlastete den Chefarzt.

In ihrem Bericht hieß es: „Abschließend ist zu sagen, dass die Expertenkommission nach sorgfältigem Studium aller zur Verfügung stehenden Unterlagen feststellen musste, dass zwischen unzureichendem ärztlichen Handeln und Perfektion verschiedene kaleidoskopartig bunte Schattierungen bestehen, die unter anderem auch wesentlich von der Persönlichkeit des Akteurs beeinflusst werden. Wie bei jeder menschlichen Tätigkeit zu erwarten, so sind auch in der ärztlichen bzw. operativen Tätigkeit von Prof. Bernbeck Fehler und Schwierigkeiten vorgekommen. Die Zahl der aktenkundigen Schadensfälle lässt nicht erkennen, dass das im AK Barmbek häufiger der Fall gewesen ist als an anderen vergleichbaren Einrichtungen. Im Falle von Prof. Bernbeck haben verschiedene Einflüsse dazu geführt, dass aus Schadensfällen in seiner Tätigkeit eine sehr bedauerliche Affäre geworden ist.“

„Prof. Pfusch“ und seine politischen Verbindungen

In einem Gutachten zu medizinischen Eingriffen über „kaleidoskopartig bunte Schattierungen“ von Pfusch bis Erfolg zu sprechen, das mutet eher an wie Poesie denn wie eine wissenschaftliche Einschätzung. Das klang und klingt nach Verwischung und Vertuschung.

Kerstin H. wurde später im Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft gehört, der sich ab 1985 mit Bernbecks Operationen und den offenkundigen Hygienemängeln im AK Barmbek befasste. Da gab es bereits Berichte über 100 Betroffene. Die Schlichtungsstelle hatte knapp die Hälfte bereits abgewiesen. Das Abendblatt schrieb zur politischen Aufarbeitung: „Drei Fragen-Komplexe stehen dabei im Mittelpunkt: Wie war die medizinische Betreuung der Patienten organisiert? Wie sahen die hygienischen Verhältnisse aus? Was ist getan worden, die Missstände im AK Barmbek zu beheben, und wie steht es um die Befriedigung der Patienten-Ansprüche?“

Telefonat mit dem Senator während der Operation

Bernbeck lebte da bereits am Starnberger See im oberbayrischen Rentner-Paradies. Eine Aussage im Untersuchungsausschuss lehnte er ab. Seine Sicherheit sei nicht gewährleistet. Dann kam er doch. Im Publikum waren frühere Barmbeker Patienten, die im Rollstuhl saßen oder ihre Krücken neben den Stühlen hatten. „Das alles belastet meine Seele, nicht mein Gewissen“, sagte Bernbeck. Nein, nein, nein, sagte Herr Professor Doktor Doktor Doktor: Ein Halbgott in Weiß sei er nicht gewesen. Leichtsinnig ebenso wenig. „Flink mit dem Messer“ schon gar nicht, wenn Bernbeck auch zugab, ein „schneller Operateur“ gewesen zu sein.

Das Abendblatt billigte seinem Auftritt zu: „Bernbeck – das muss gesagt werden – hat nicht verlernt, sich gut zu verkaufen. Wo es sich anbietet, lässt er erkennen, dass ihm auch heute noch soldatische Pflichterfüllung ein Anliegen ist.“ Intensiv wurde er zu den Hygienemängeln befragt. Bernbeck stritt alles ab und verteidigte seine OP-Methoden, die Zeugen als „veraltet“ beschrieben hatten.

Er soll während der Eingriffe den OP-Saal verlassen haben und ohne sich umzukleiden zurückgekehrt sein. Er gab nur zu: Bisweilen sei er zum Telefonieren mit dem Ärztlichen Direktor oder dem Senator in einen Nebenraum gegangen. Die Hygienevorschriften seien eingehalten worden. Ob er dadurch Patienten gefährdet habe? „Wir waren auf den Senator angewiesen. Wir mussten uns ihm gefällig erweisen.“

Penicillin verabreicht trotz Allergie dagegen

Als „kaltschnäuzig“ und „fahrlässig“ beschrieben Patientinnen und Patienten Bernbecks Arbeit als Arzt. „Er hat mir Penicillin gegeben, obwohl er wusste, dass ich dagegen eine Allergie habe“, sagte eine Frau. Eine andere wollte im Untersuchungsausschuss ihre Wut nicht zurückhalten: „Ich könnte dem Bernbeck die Krücken um die Ohren schlagen.“

Die Gesundheitsbehörde versuchte später sogar, ihm die Approbation zu entziehen. Das wäre einem Berufsverbot gleichgekommen. Ob es für den Rentner einen Unterschied gemacht hätte? Der Versuch versandete. Der Ausschuss legte offen: Hamburgs Ämter und Behörden hatten zu lange weggeschaut, in den Krankenhäusern der Stadt regierten Autoritätshörigkeit und Duckmäusertum. Fehlerkultur bestand darin, dass man schwieg.

Eine Krankenhaus-Abteilung wie ein Feld-Lazarett

Nach Operation körperbehindert: eine Nebenklägerin im Gericht.
Nach Operation körperbehindert: eine Nebenklägerin im Gericht. © Picture Alliance/United Archives | United Archives / Frank Hempel

Das Abendblatt schrieb: „Der Eindruck verdichtete sich Dienstagabend fast zur Gewissheit, dass Bernbeck seine Barmbeker Orthopädie-Abteilung immerzu als ein Feld-Lazarett sah, in dem nur der Arzt Furore machen konnte, der dem Chef durch dick und dünn folgte, der sich mitreißen ließ von der Vorstellung, die Barmbeker Orthopädie lasse keinen im Stich und scheue kein Risiko. Bernbeck mag geglaubt haben, er sei nicht leichtsinnig vorgegangen, aber heute kann man fast mit Sicherheit sagen, dass Bernbeck im Strudel seiner wirbelnden Operations-Hektik den Überblick verlor oder doch wenigstens die kritische Distanz. Bernbeck, durchaus bemüht, Kranken zu helfen, ist das Opfer seiner eigenen Maßlosigkeit geworden. Mehr als 180 Patienten, die Schadenersatz fordern, nennt er ,die Schatten aus der Vergangenheit‘, die ihn verfolgen.“

Zwischen dem SPD-Senat, der CDU, der FDP und den Grünen wurde der Fall Bernbeck hin- und hergezerrt. Gegenseitige Vorwürfe, Streit um vermeintliche Nebenschauplätze wie die ärztliche Berufsordnung und Ärger um die Plätze im Ausschuss vernebelten die Affäre Bernbeck. Als immer mehr Fälle bekannt wurden, gab es weitgehende Einigkeit über eine geordnete Aufklärung. Doch die hatte Grenzen da, wo es Verbindungen zwischen Politik und Krankenhäusern gab. Auch die CDU warnte vor einer Vorverurteilung des Chefarztes. Das mag da verständlich erscheinen, wo das Vertrauen der Patienten in die Kliniken der Stadt nicht erschüttert werden sollte. Für Betroffene war das politische Schauspiel schwer zu ertragen.

Mildes Urteil gegen Bernbeck: 7000 Mark Geldstrafe

Zehn Jahre nach den ersten Berichten legte eine Kleine Anfrage der CDU offen: 242 „Schadensfälle“ seien abgeschlossen. In 160 seien insgesamt 26,85 Millionen Mark an Patienten gezahlt worden. 29 Fälle wurden noch bearbeitet. Das Geld kam zu 60 Prozent von Bernbecks Haftpflichtversicherung, zu 40 Prozent von der Stadt Hamburg. Der Senat soll für die erwarteten Summen sogar extra Mittel im Haushalt zurückgestellt haben.

Von 1988 an musste sich Bernbeck vor der Großen Strafkammer des Landgerichtes wegen fahrlässiger Körperverletzung verantworten – in fünf Fällen. Es gab auch einen Nebenkläger, den das Gericht trotz belegter OP-Schäden und Nachoperationen später abgewiesen hat. Der Richter sagte dem ehemaligen Bernbeck-Patienten: „Diese Operationen waren indiziert, die Methode war nicht abwegig, … auch die Ausführung lässt keinen Mangel erkennen.“ 7000 Mark Geldstrafe kamen als Urteil heraus, was die Öffentlichkeit und die Betroffenen empörte.

Anklage und Verteidigung hatten Revisionen angekündigt, doch was blieb, war ein Medizin-Pfusch, der Schmerzen und großes Leid hinterließ. Im Prozess stellte sich heraus, dass Bernbeck Akten aus dem Krankenhaus mitgenommen hatte, dass Röntgenbilder von betroffenen Patienten fehlten. Und es wurde öffentlich, dass Bernbeck zwischen 1963 und 1981 alle Hamburger Gesundheitssenatorinnen und -senatoren behandelt hatte.

Bernbeck und die Folgen des Skandals

Doch die Patienten waren mit ihrem Druck „von unten“ zum Teil erfolgreich: Schon im Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses wurden Beratungsstellen gefordert, Qualitätskontrollen für Krankenhäuser und weitere Einrichtungen, um Schweigekartelle wie das um Bernbeck aufzubrechen. Es dauerte Jahre, aber mittlerweile sind Institutionen wie die Schlichtungsstelle bei der Ärztekammer und Patientenbeauftragte etabliert. Zweitmeinungsverfahren, technischer Fortschritt und – als Beistand oder nicht – das Internet als Hauptquelle medizinischen Wissens oder Glaubens haben den Patienten in der Theorie mündiger gemacht.

Und auf ärztlicher Seite? Ist der Nachweis von tatsächlichem Fehlverhalten nach wie vor schwierig und langwierig. Auch wenn im Krankenhaus jeder Handgriff, jede Salbe milligrammgenau dokumentiert sind, braucht es Gutachter. Es ist zudem in Zivilverfahren ein offenes Geheimnis, wie Ärzte-Anwälte auf Zeit spielen. Dass Patienten mürbe werden und einknicken, ist wahrscheinlich. Dass sie vor einem Urteil und Berufung sterben, leider oft auch.

Strahlenskandal am UKE um Prof. Hübener endete mit Vergleich

Die Geschehnisse um Prof. Rupprecht Bernbeck waren eine der größten Medizin-Affären Deutschlands. Ein weiterer Hamburger Fall war der Strahlenskandal um den UKE-Professor Klaus Henning Hübener und seine möglicherweise fragwürdigen Methoden bei der Behandlung von Krebspatienten Ende der achtziger Jahre. Er endete 2007 mit einem Vergleich. Das UKE musste an Patienten eine Millionen-Entschädigung zahlen. Hübener wurde strafrechtlich aber freigesprochen.

Bei Unregelmäßigkeiten im Gesundheitswesen müssen nicht immer Patienten zu Schaden kommen. Bei einigen Fällen von Abrechnungsbetrug, die unter anderem das Hamburger Abendblatt aufgedeckt hat, sprechen Experten jedoch von Organisierter Kriminalität. Dafür gibt es bei den Staatsanwaltschaften mittlerweile Experten und Ermittlergruppen. In einer feinen Anspielung hat der damalige Abendblatt-Berichterstatter im Bernbeck-Prozess, Enno Quittel, darauf hingewiesen, wer in dem betreffenden Gerichtssaal zuvor auf der Anklagebank gesessen hatte. Es waren 14 Mitglieder der Hells Angels.