Die Urwaldnacht beginnt nicht erst auf der Bühne. Schon im Foyer atmet man Dschungelluft: Sie ist schwül und drückend, schwere tropische Düfte...

Hamburg. Die Urwaldnacht beginnt nicht erst auf der Bühne. Schon im Foyer atmet man Dschungelluft: Sie ist schwül und drückend, schwere tropische Düfte mischen sich mit fruchtig-leichten Blumennoten. Die Weibchen: farbenfroh. Die Männchen: dunkel. Eines, ganz offensichtlich ein Alphatier, trägt eine Krawatte aus Kondompäckchen. Ungeöffnet. Da die Krawatte als Evolutionsergebnis des Lendenschurzes gilt, ist das outfitmäßig kaum zu toppen. Prominente, vor allem aus der Film-, Musik-, und Fernsehbranche ließen sich die Hamburger Musicalpremiere der Saison nicht entgehen: Disneys "Tarzan" in der Neuen Flora. Und Fauna. Dschungel eben. Für Menschen mit ausgeprägter Rot-Grün-Schwäche jedenfalls bietet die Neue Flora Orientierungshilfe: Im Zweifel ist hier alles grün.

Auf seine erste Begegnung mit dem britischen Musiker freute sich besonders ein Entertainer. Udo Jürgens und Phil Collins trafen sich in der Pause im Stage Club. Jürgens Musical "Ich war noch niemals in New York" läuft seit fast einem Jahr im Operettenhaus.

Video: Viel Applaus für Tarzan-Show

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Im steil abfallenden Saal in der Neuen Flora kreischen die Möwen, wummern die Buschtrommeln, knarzen die Bootsplanken. Auf und hinter dem Vorhang schwankt bedrohlich das Segelschiff, mit dem Tarzans leibliche Eltern alsbald auf schwerer See verunglücken. Ohrenbetäubendes Donnerkrachen zum Auftakt, Stroboskop-Blitze von vorn, zwischen Reihe 10 und Reihe 15 flüstert leise eine ängstliche Mädchenstimme: "Mami?"

Aber da sausen sie einem auch schon dicht über den Scheitel hinweg. Aus den Rängen und von den Seiten schwingen sich die Gorillas an ihren grellgrünen Bungee-Lianen über das Parkett, der akrobatische Affenzirkus öffnet spektakulär seine Manege. Wer aus den Anfangstagen der Neuen Flora den dramatisch stürzenden Kronleuchter aus dem "Phantom der Oper" erinnert, dem bescheren die Lianenschwinger ein Dejà-vu. Nur sind sie wilder, verrückter, frecher, ausdauernder - man fühlt den Luftzug der Akrobatenaktionen und ist schon deshalb sofort mitten im Geschehen. Bei "Tarzan" gelingt etwas, was dem Publikum auch auf den eher stiefmütterlichen Plätzen ein befriedigendes Nah-dran-Gefühl serviert: die Verlängerung der Bühne ins Parkett, in den freien Raum.

Für erste, zunächst unfreiwillige Komik sorgt das zuckende Plastikbaby, das Affenmutti Kala (warmherzig und kraftvoll: Ana-Milva Gomes) pathetisch in die Höhe hält und das ihr erst einmal direkt auf die schwarzen Fellfransen pieschert. Diese insgesamt 20 000 handgefertigten Fransen der Affenmeute - übrigens ein hübsches Schmankerl aus der Abteilung nutzloses Zusatzwissen aus der Pressemappe für die bereits am Sonnabend geladenen Journalisten - ergeben aneinandergelegt ziemlich genau die Strecke von Hamburg nach Kiel. Das bringt einen zwar auf dem Weg nach Afrika nicht weiter, dafür aber beim Pausen-Small-Talk.

Wer dort stattdessen etwas zur Musik sagen wollte, hätte es nicht ganz so einfach. Sobald ein Song gesungen ist, ist er - mit wenigen Ausnahmen - auch schon vergessen. So staunenswert die technischen Flugnummern auch sind, so enttäuschend ist deren musikalische Einbettung. Die Kompositionen - sorry, Mr. Phil Collins, auch wenn Sie viele Jahre an dieser Musik gearbeitet haben, wie Sie sagen - sind die große Schwäche des Abends. "Tarzan" bietet keinen Ohrwurm, keine Melodie, die sich nicht spätestens auf der Heimfahrt wieder aus dem Gehörgang verabschiedet. Zwar gibt es Potenzial: "Dir gehört mein Herz" kennt man im Original als "You'll be in my heart" (die Originalversion hatte einen Oscar gewonnen), bloß hat's die Kopie halt immer schwer. Die rock'-n'-rollig-perkussive Affentanznummer "Krach im Lager" von Tarzans Primatenbuddy Terk (Rommel Singson) geht dagegen ordentlich nach vorn. Und die strahlende Elisabeth Hübert als Jane präsentiert mit einer herrlich hysterischen Version von "Probier's mal mit Gemütlichkeit" gleich in ihrer ersten Szene eine selbstironische Reminiszenz ans Genre und den Mitverursacher Disney.

Tarzan selbst wiederum (Anton Zetterholm) punktet wie die Kollegin mit gereifter Stimme, blondem Langhaar und in seinem Fall (trotz Hang zur Schwachbrüstigkeit) mit einem Sixpack, das immer wieder zum Greifen nah über die pflichtschuldig kreischenden Fans hinwegflitzt.

Schade nur, dass es beinahe eine Stunde (von fast dreien) bis zur Begegnung zwischen Tarzan und Jane dauert. Im eigentlichen Erzählstrang - Menschenjunge wächst bei Gorillaherde auf, Menschenjunge trifft Menschenmädchen, Menschen bedrohen Gorillasippe - hat die Boy-meets-Girl-Geschichte immer noch den höchsten Emotionsfaktor. Und im Musical ist das Begleit-"Hach!" mindestens so entscheidend wie der Pausen-Prosecco. Als Paar funktionieren Hübert und Zetterholm ohne Frage: Der coole Rastalocken-Kerl und die hübsche Bio-Studentin - sie wären der Hingucker auf jeder Greenpeace-Betriebsfeier.

Damit hier aber keiner auf die Idee kommt, im Musical ginge es bloß um schnöde Unterhaltung, wird zum Dessert eine Moral aufgetischt, die glatt den großen Bogen zur Finanzkrise schafft: "Keine Kreatur im Dschungel", heißt es nicht frei von Pathos, "hat sich als so brutal erwiesen wie der Mensch in seiner Habgier." An dieser Stelle muss es dann doch einmal gesagt sein: Hach.