Literaturnobelpreisträger Günter Grass erregt Anstoß mit seinem Gedicht über Israels Iran-Politik. Ist er deswegen ein Antisemit?
Berlin/Hamburg. Es muss einiges zusammenkommen, damit ein Gedicht zum Skandal werden kann. Am Mittwoch ist genau das geschehen. Im gegenwärtigen Literaturbetrieb spielt Lyrik bestenfalls eine ehrenvolle Nebenrolle, hier wird sie zum Politikum weit über Deutschland hinaus. Um Literatur geht es dabei auch gar nicht, auch wenn ein Literaturnobelpreisträger den im Wortsinne anstößigen Text verfasste.
+++ Was gesagt werden muss +++
Günter Grass hat ein Gedicht geschrieben, was er vermutlich täglich tut. Was diesmal Anstoß erregt, ist nicht die dürftige Qualität der sperrigen Zeilen, deren gedrechselter, eitler und belehrender Duktus schwer zu ertragen ist und wirklich nichts Poetisches hat. "Warum schweige ich, verschweige zu lange, was offensichtlich ist und in Planspielen geübt wurde, an deren Ende wir als Überlebende allenfalls Fußnoten sind", beginnt dieses Gedicht, das nicht nur mit Thema und Aussage aus dem literarischen Rahmen fällt, sondern weil es als Provokation inszeniert worden ist: Zeitgleich haben vier große internationale Zeitungen gestern den Text gedruckt, der Kritik an der aktuellen Politik des Staates Israel übt.
+++ "Grass redet Blech" +++
+++ Was für ein Irrsinn! +++
Grass wirft Israel die Planung eines atomaren Erstschlags vor, der "das iranische Volk auslöschen könnte". Sich selbst wirft er vor, zu lange geschwiegen zu haben, um sich nicht dem "Verdikt 'Antisemitismus'" auszusetzen.
Ist Günter Grass ein Antisemit? Ist der deutsche Literaturnobelpreisträger, wie Henryk M. Broder in der "Welt" postuliert, der "Prototyp des gebildeten Antisemiten"?
Vor einem guten halben Jahrhundert, als "Die Blechtrommel" in einer Bundesrepublik erschien, deren Gesellschaft sich enorm schwertat mit der noch nicht lange zurückliegenden Vergangenheit des "Dritten Reichs" und in der noch zahlreiche NS-Täter an Schaltstellen von Staat und Wirtschaft saßen, wäre ein solcher Vorwurf absurd erschienen. Damals wurde Günter Grass beschimpft, weil er die Deutschen an ihre Schuld erinnert hatte - einerseits mit hohem moralischen Anspruch und andererseits mit einer Unerbittlichkeit, die seither zu seinem Markenzeichen geworden ist.
Literarisch verlor Grass seit den 1960er-Jahren mehr und mehr an Bedeutung, auch wenn seine Bücher bis heute hohe Auflagen erreichen. Politisch findet er jedoch stets Gehör, auch oder vielleicht gerade weil er gern provokativ formuliert und oft Minderheitspositionen vertrat. Dass ihn die Wirklichkeit manchmal widerlegt hat - etwa in seiner Unheilsvorhersage zu den Folgen der deutschen Einheit -, schien ihn nie zu beeindrucken. Grass hat die Rolle der moralischen Autorität verinnerlicht, jeder Gestus der Nachdenklichkeit scheint ihm fremd. Er sprach und spricht stets mit großem Selbstbewusstsein.
Auch jetzt wieder - obwohl ihm doch vor einigen Jahren, anlässlich des Erscheinens des autobiografischen Buches "Beim Häuten der Zwiebel", heftige Kritik entgegenschlug. Dort offenbarte der Schriftsteller seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS als 17-Jähriger. Einen Tatbestand, den er jahrzehntelang verschwiegen hatte, ohne auf Angriffe auf Zeitgenossen zu verzichten, die ihrerseits in den Nationalsozialismus verstrickt waren. Seinen Status als moralische Instanz schien Grass verwirkt zu haben.
Irritation löste der Lübecker auch im vergangenen Sommer aus, als er im Gespräch mit dem israelischen Historiker Tom Segev sinngemäß auf sechs Millionen deutsche Soldaten abhob, die in der russischen Kriegsgefangenschaft zu Tode kamen. Eine Zahl, die erwiesenermaßen falsch ist: Tatsächlich starben 1,1 Millionen Deutsche in den Kriegsgefangenenlagern.
Man kann nicht umhin, insbesondere beim späten Günter Grass eine Unbehagen auslösende Tendenz festzustellen: Er versucht, die traumatische Geschichte für die Deutschen ein wenig freundlicher zu gestalten, indem die Täter in den Hintergrund gerückt werden. Wer wie Grass in seinen Äußerungen nur noch von den deutschen Opfern spricht - so auch in der Novelle "Im Krebsgang", die das Schicksal der deutschen Vertriebenen und den Untergang der "Wilhelm Gustloff" schildert - und die Schoah nur noch en passant streift, verliert die historischen Maßstäbe.
Die allerdings sollte gerade ein Deutscher kennen: Unsere Vergangenheit darf kein Stigma sein, sie ist aber Verpflichtung. Die Argumentation in Grass' Gedicht ist nicht akzeptabel. Mit keinem Wort geht Grass darauf ein, dass es der Iran ist, der das Existenzrecht des jüdischen Staates nicht anerkennt. In einem Konflikt, in dem in jeder Äußerung jede einzelne Formulierung auf der Feinwaage gewogen wird, ist dies mindestens fahrlässig, wenn nicht mehr. Das Verdikt "Antisemitismus" sei geläufig, sagt Grass. Und wenn er damit den reflexhaften Vorwurf meinte, der oft zu hören ist, wenn man israelische Politik kritisiert, dann hätte er recht. Seine Einlassung ist freilich von einem anderen Kaliber als die vieler Wohlmeinender, die aus guten Gründen auch für die Palästinenser eintreten.
Wer behauptet, es sei "die Atommacht Israel", die den Weltfrieden gefährde, der münzt seine eigenen Schamgefühle über die Vergangenheit Deutschlands in eine Behauptung um, die den Nachfahren der von den Nazis ermordeten Juden die Schurkenrolle zuweist. Ist Grass deswegen also ein Antisemit? Nein, das ist er nicht; so wenig wie sein Schriftsteller-Kollege Martin Walser ein Antisemit war, als er 1998 in seiner zu Recht umstrittenen Friedenspreis-Rede von Auschwitz als "Moralkeule" sprach.
Aber was treibt Grass dann? Es ist mehr als nur die Lust an der Provokation und der eitlen Selbstdarstellung. Grass ist vielmehr der Repräsentant einer von der NS-Zeit lebenslang gezeichneten Generation, die am Ende ihrer Tage falsche Rechnungen aufmacht, um das eigene Gewissen auf unzulässige Weise zu erleichtern.