Mit den Worten kamen ihm die Tränen: In seiner bewegenden Rede zur Verleihung des “Bertini-Preises“ im Ernst-Deutsch-Theater sprach Ralph Giordano von seiner großen Liebe zu Kindern und darüber, was er nie zuvor öffentlich gemacht hatte: warum er keine eigenen Kinder bekam. Das Abendblatt druckt den Originaltext.

Meine lieben Schülerinnen und Schüler, liebe Anwesende, Sie alle, wie Sie hier versammelt sind.

"Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen" - jeder kennt dieses geflügelte Wort und könnte prüfen, ob der Spruch auch fürs eigene Leben gilt. Flitzen da doch die Stationen nur so an einem vorbei, verändert sich das Tempo, wechseln die Geräusche, gibt es Begegnungen, schöne und widrige. Endlich angekommen, überblickt man die zurückgelegte Strecke und fragt sich, wer man ist und ob und was sich an Veränderungen getan hat.

Das werde ich oft gefragt. Als spontane Antwort darauf fällt mir nichts Besseres ein als: " Die Tränen kommen früher als einst. " In der Mitte des neunten Lebensjahrzehnts aber tiefer in mich hineingehorcht, steht die Erkenntnis einer immer deutlicher gewachsenen inneren Nähe zu jungen Menschen. Je weiter ich mich von meinem Ursprung entfernte, über die eigene Jugend hinaus erst in mittlere, dann in spätere und ganz späte Altersabschnitte, desto neugieriger und wissbegieriger wurde ich, und immer bereiter, Jugend verstehen zu wollen. Das hat auch eine ästhetische Note, insofern ich mehr und mehr Sinn bekommen habe für die Schönheit von Jugend: Ich meine nicht bloß Gesichtszüge und Körper, ich meine die Aura, von der Jugend umgeben ist, diese Morgenröte des Daseins. Ich habe sie überall gefunden, weil sie allgegenwärtig ist und unabhängig von Rasse und Hautfarbe, von Kulturen und Kontinenten. Wo immer ich als Fernsehmann auf dem Globus filmte, stets ballten sich Kinder vor der Kamera - und ich konnte mich an ihnen nicht sattsehen.

( ... )Ich hatte, ganz egal wo auf der Erde, bei ihrem Anblick immer nur einen, einen einzigen Gedanken: "Es soll ihnen gut gehen! Es soll ihnen gut gehen!" - und die Erwachsenen haben dafür zu sorgen. Es gibt nichts Wichtigeres. Kinder sind ja über eine gewisse Strecke hin nicht nur kleiner, sie sind, auch wenn sie größer werden, schutzbedürftig. Wieso kann das außer Acht gelassen werden? Wieso können Erwachsene Dinge tun, die Kindern schaden? Wieso liegt das Gesetz nicht darin, die Welt durch Fürsorge für die Kinder bewohnbarer zu machen, als sie ist, und sie so einzurichten, dass es den Nachgeborenen, verdammt noch mal, gut geht? Nur so werden Kinder wissen, sie sie zu handeln haben, wenn sie einst selbst zu Eltern geworden sind.

( ... ) In weiten Teilen der Erde sind Kinder, sind junge Menschen das Letzte, worauf Rücksicht genommen wird, ist der Katalog ihres Missbrauchs und ihrer Leiden endlos.

Denk ich an persönlich erschütternde Beispiele, so neben manchem ähnlichen an das von Danny O'Hagan, Belfast, Elektrikerlehrling, 19, erschossen - ein Opfer der jahrhundertealten Auseinandersetzung zwischen protestantischer Mehrheit und katholischer Minderheit in Nordirland. Er lag da, aufgebahrt in seinem Bett, über der Nasenwurzel der kleine Einschuss, wo ihn die Kugel getroffen hatte. Neben dem Bett, auf einem Stuhl der Vater, tränenlos weinend und die Hand des Sohnes in der Seinen, in einem anderen Zimmer bei lebendigem Leibe gelähmt vor Entsetzen, die Mutter. Wie könnte man ein solches Bild je vergessen? Es gibt Tausende davon, es gibt sie jeden Tag, - ich brauche die des Nahostkonfliktes hier nicht extra anzuführen, sie drehen einem das Herz um.

Vor diesem Toten stand ich da, lange, und dachte: dass sein Leben ausgelöscht wurde, kann durch keine Ideologie, keine Staatsräson, keinen Konfessionsstreit gerechtfertigt werden - durch absolut nichts! Kriterien, die ich mir von niemandem ausreden lassen werde.

Ich selber habe keine Kinder, was eine Geschichte für sich ist, und ich habe mir lange überlegt, ob ich darüber sprechen soll oder nicht - vor allem, weil es, wenn ich es täte, das erste Mal öffentlich wäre. Aber ich will es tun, aus dem heutigen Anlass, der Verleihung des elften "Bertini-Preises" am 27. Januar 2009, des 64. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz, an dem wir um die Ermordeten trauern, aber auch das Leben preisen.

Ich habe malocht und malocht, von Jugend auf an, habe geschrieben, habe gefilmt und gesprochen, ohne Sonn- und Feiertage - ich hatte die Kraft dazu, mehr als ein halbes Jahrhundert lang. Und ich frage mich nun: Was wäre gewesen, wenn eine Tochter oder ein Sohn oder beide da gewesen wären? Was wäre aus diesem, dem schöpferischen Teil meins Lebens, geworden? Ich weiß die Antwort, und das seit Langem: Es wäre möglich, es wäre vereinbar gewesen - und ein glücklicheres Leben.

Doch so ist es nicht gekommen. Warum nicht? Ich überwinde mich, es Ihnen mitzuteilen.

In meinen kürzlich herausgekommenen Memoiren, den "Erinnerungen eines Davongekommenen", schildere ich, wie ich 1944 als 21-Jähriger abgeholt und in Hafennähe zum Johannisbollwerk gebracht werde, damals Sitz der Rassengestapo Hamburg - eine Adresse, die sich meinem Gedächtnis unauslöschlich eingestanzt hat. Dort der "Rassenschande" angeklagt, heißt es in dem Buch weiter:

" Der erste Schlag trifft mich in die Magengrube. Ich falle vom Stuhl und bleibe auf der Erde liegen, punktuell getroffen, aber doch mit Wirkung auf den ganzen Körper. Ich werde hochgerissen und weiter geschlagen, wahllos, an Kopf und Körper, eine Art Trommelfeuer, das den Schmerz verstreut, über die ganze Hautfläche bis in jede Pore.

Die Gestapomänner, beide um die Vierzig herum, verrichten ihr Werk routiniert. Sie dreschen auf mich ein, machen eine Pause, schlagen weiter und - reden dabei von etwas ganz anderem. Sie sprechen von Tomatenstauden, die sie auf ihren Balkons pflegen, über ihre Düngung und eine spezielle Sorte, die besonders fest sei.

Hier erreicht mich eine neue Dimension des Zugriffs auf die eigene Person, überflutet mich das Gefühl, im gesamten Kosmos mit diesen beiden seltsam unbeteiligten Ungeheuern allein zu sein. Hier steuere ich in einem Wirbel zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit auf eine rauschhafte, Schmerz geborene Wunschvorstellung zu, die Endformel eines utopischen Glücks: 'Wäre ich doch nie geboren worden, nie geboren, nie. '

Wie Sie sehen, habe ich Hitlerdeutschland überlebt, aber das mit einer Überzeugung, einer Gewissheit: In diese Welt setzt du keine Kinder, dieser Welt setzt du niemandem aus. Wer sagt dir denn, dass sie nicht Ahnliches wie du, oder gar noch Schlimmeres, erleben werden? Wer sagt dir denn, dass sie nicht eines Tages, wie du selbst, die Stunden verfluchen würden, in der sie geboren wurden?

Auf diese Fragen war meine Antwort: keine Kinder, keine eigenen Kinder. Heute weiß ich: Sie war, nach allem, vielleicht verständlich, aber falsch. Eine Erkenntnis, die zu spät kam.

Die Nazis haben mir Vieles angetan - sie haben mich früh von meinen Spielgefährten und Freunden getrennt, sie haben die erste Liebe getötet, sie haben mir die Seele aus dem Leib geprügelt und Angst zu meinem zentralen Lebensgefühl gemacht - Angst um die jüdische Mutter, um den Vater, die Brüder und um mich selbst ... Ja, die Nazis haben mir vieles angetan. Aber dass sie mich zu dieser Verweigerung gebracht, dass sie mir den Mut zu eigenen Kindern genommen haben, das ist von all ihren Verbrechen das größte. Und ich musste alt werden, um es zu erkennen und zu bekennen. Dabei herausgekommen aber ist, das Gute im Bösen, die tiefe, innige, mich immer wieder wärmende Beziehung zu Kindern, auch wenn sie nicht die meinen sind.

Jetzt fühle ich mich erleichtert und danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.

Gleichzeitig waren die Eigenerlebnisse in der Nazizeit, und was ihnen an persönlicher Geschichte seit der Befreiung 1945 folgte, für mich die Quelle, der Antrieb, die Motivation, aufzuklären. Dass dabei der "Bertini-Preis" herausgekommen ist, benannt nach meiner Hamburger Familien- und Verfolgten-Saga "Die Bertinis", bleibt so etwas wie die Krönung meines Lebens. Und deshalb mein bleibender Dank an seinen Ideenvater Michael Magunna, und an alle, die diese Idee verwirklichten.

Aber gemach, Ihr Schülerinnen und Schüler. Nicht, dass ich dem Irrtum verfallen bin, Ihr wäret pflegeleicht - das nun doch nicht. Ich will hier dem Jugendwahn, der bei uns aus durchsichtigen kommerziellen Gründen nach wie vor Konjunktur hat, keine weitere Variante hinzufügen, keineswegs. "Die Öster können ganz schön anstrengend sein", wie mir erst jüngst noch ein liebendes Elternpaar genervt beichtete. Während ich mich, so überflüssig er ist, mit dem Gedanken plage, dass ich im Falle eines Falles mit größter Wahrscheinlichkeit alle erzieherischen Irrtümer meiner Eltern, aus Liebe zu ihren Kindern, wiederholt hätte, voran die Erziehung zur Unselbstständigkeit durch ein, sagen wir mal: überbordendes Hegebedürfnis. Meine Mutter jedenfalls war nur glücklich, wenn wir als Kinder in unseren Betten lagen - denn da hatte sie die vollständige Aufsicht, da konnte uns gar nichts geschehen ...

Bei dieser Idylle geblieben ist es natürlich nicht - worüber ich mehrere Bücher geschrieben habe, nicht nur "Die Bertinis".

Ihr seid hineingeboren in eine Welt voller Bewegung und gewaltiger Veränderungen. Global hat eine wahre Völkerwanderung eingesetzt, deren Hauptziel Europa ist und deren Wellen seit Langem schon auch an deutsche Ufer schlagen. Das hat zu dem ungenauen Begriff "Migrationshintergrund" geführt, was nichts anderes bedeutet, als dass Millionen Menschen verschiedener Kulturen auf engem Raum aufeinandertreffen und dadurch nachhaltig Probleme geschaffen werden, die nur eine Aussicht haben können: friedlich gelöst zu werden. Und das durch eine offene, ehrliche Diskussion, die Kritik nicht scheut, eingedenk der Tatsachen, dass es sowohl von deutscher wie auch von zugewanderter Seite Kräfte gibt, die einer friedlichen Auseinandersetzung entgegenstehen, also integrationsfeindlich sind. Gegen sie haben beide Seiten einen gemeinsamen, entschlossenen Standpunkt einzunehmen - viele von euch sind mit dieser Problematik konfrontiert. Ich will hier keine weisen Ratschläge erteilen, aber was ich, an beide Seiten gerichtet, begrüßen würde, ist dies: Hört dem anderen zu, öffnet euch ihm, seht in ihm erst den Mitmenschen, der nichts anderes will, wie ihr selbst. Aber beharrt auch da, wo ihr ihn vertreten müsst, auf eurem eigenen Standpunkt.

Über allem stehen die Werte der Demokratie: Freiheit, Meinungsvielfalt, Menschenrechte, Pluralismus, Gleichstellung der Geschlechter - sie sind nicht verhandelbar. Wie das hohe Gut, das auch heute wieder diesen Tag geprägt hat: die angstfreie Rede. Ihre Grundlage: die demokratische Republik.

Eine Selbstverständlichkeit bis in alle Ewigkeiten aber ist sie nicht, vielmehr muss sie, wie alles Kostbare und Schöne, immer aufs Neue verteidigt werden gegen ihre offenen und versteckten Widersacher, von welcher Seite auch immer sie kommen mögen.

Wie wir dem jüngsten Verfassungsschutzbericht entnehmen können, hat es wieder auf deutschem Territorium Zehntausende von rechtsmotivierten Anschlägen gegeben, viele davon gewalttätig und, wie kürzlich in Passau, mit Mordabsicht. Was eine traurige Bilanz bestätigt: Wohl ist Hitler und was der Name symbolisiert, militärisch geschlagen, nicht aber auch schon geistig, oder besser ungeistig.

Die Aufgabe bleibt also.

Und lassen Sie uns auch in Zeiten finsterster Nachrichten nicht übersehen, dass es dahinter anderes gibt und das lange Unausdenkbare doch Wirklichkeit werden kann. Dafür zum Schluss drei Beispiele:

Das erste: Der Afroamerikaner Barack Obama ist seit einer Woche Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Nein, auch er ist kein Übermensch und die Enttäuschungen mögen vorprogrammiert sein, zumal bei dem Erbe, das er zu übernehmen hat. Ebenso sicher aber ist, dass mit dieser Wahl ein neues Zeitalter in der Geschichte der USA eröffnet worden ist. Das Codewort des ermordeten Menschenrechtlers und ebenfalls Afroamerikaners Martin Luther King "I have a dream!" ist damit wahr geworden. Als es im November 2008 klar war, dass ein Schwarzer das höchste Amt bekleiden würde, und als er die auf seine Ankunft wartenden Hunderttausenden in seiner Heimatstadt mit einem lässigen "Hello, Chicago!" begrüßte, da habe ich - "Yes, he can!" richtiggehend geheult.

Und so auch ein zweites Mal: bei der Nachricht, dass die streitenden Parteien in Nordirland nach über 3500 Toten und Zigtausenden Verletzten die Waffen gestreckt und sich an einem Tisch zusammengefunden hatten. Mit bleibenden politischen Spannungen zwar, aber ebenfalls ohne Rückkehr in die Ära jener blutigen Auseinandersetzung, der Danny O'Hagan, 19, Elektrikerlehrling, Katholik, zum Opfer gefallen war, wie so viele Protestanten auch. ( ... )

Da habe ich ein weiteres Mal geheult.

Und das dritte Mal? Beim Fall der Mauer - für euch, liebe Schülerinnen und Schüler, schon Geschichte. Und doch, wie anders sähe auch eure Welt aus, wenn es diesen 9. November 1989 nicht gegeben hätte ...

Ich erlebte ihn vor dem Bildschirm, und es raubte mir den Atem. Der Andrang vor dem Berliner Grenzübergang Bornholmer Straße, die immer größere, immer lautere Masse gegen den Kordon der uniformierten Staatsgewalt. Vor ungläubigem Staunen entgleiste Gesichter, Aufschreie "Wahnsinn! Wahnsinn!", Augen, die nicht fassen konnten, was sich da tat. Und mitten unter ihnen ich, jedenfalls fühlte es sich so an, denn es hielt mich nicht mehr auf meinem Stuhl, ich tanzte wild im Zimmer umher, brüllte ebenfalls: "Wahnsinn! Wahnsinn!" und heulte - heulte wie ein Schlosshund. Heute wissen wir, wie schwer es war und ist, "zusammenzuführen, was zusammengehört", aber das kann nichts ändern an meinem bleibenden Jubel über diesen Knalleffekt einer deutschen Revolution, die dem Zwangssystem der DDR unblutig den Garaus machte. ( ... ) Also habe ich mir an jenem 9. November 1989 vor Freude die Haare gerauft, habe vor mich hingestammelt und war einfach überwältigt, ein Grundgefühl, das in mir bleiben wird, solange ich lebe.

Ich habe diese drei Beispiele meiner Heularie um einer Schlussfolgerung willen angeführt: "Das Unmögliche kann möglich werden!"

Und denke inbrünstig an den Nahostkonflikt, an meine Liebe zu Israel und zu meinem palästinensischen Patenkind Samar aus Beith Sahour bei Bethlehem.

Mit dieser Hoffnung also in das zweite Jahrzehnt des "Bertini-Preises"! Und dass ich daran noch möglichst lange teilnehmen kann.