Hamburg/Henstedt-Ulzburg. Kurz vor Weihnachten kommt es zur Zwangsräumung – für Jürgen Welsch unfassbar! Was die Schließung für die Beschäftigten bedeutet.
Ein schlichter weißer Zettel im Schaufenster, das war‘s dann. „Diese Filiale ist geschlossen!“ Jürgen Welsch steht vor dem Schuhgeschäft in Henstedt-Ulzburg, in dem er fast 25 Jahre als Filialleiter für das Hamburger Unternehmen Görtz gearbeitet hat. Drinnen ein Tannenbaum als Weihnachtsdekoration. Man sieht lange Regalreihen mit Schuhkartons. Darauf Stiefel, Boots, Sneaker, Pumps und Herrenschuhe sorgfältig drapiert, als ob gleich die Türen aufgehen und Kunden hereinkommen. Aber das ist seit einigen Tagen vorbei – ohne Vorankündigung, von einem Moment auf den anderen.
„Als ich am vergangenen Montag kurz vor zehn Uhr wie immer zur Arbeit kam, stand die Gerichtsvollzieherin mit ihren Leuten schon vor der Tür“, sagt Welsch. Es war ein Schock, dann ging alles ganz schnell: Die Schlösser wurden ausgetauscht, die Beschäftigten nach Hause geschickt. Sämtliches Bargeld aus Kasse und Tresor musste der Filialleiter aushändigen. Alles andere, nach seiner Rechnung etwa 9000 Paar Schuhe, ist gepfändet. „Es hat nicht mal eine Stunde gedauert“, sagt der 53-Jährige und ringt auch Tage danach noch um Fassung. „Schluss. Aus – und das kurz vor Weihnachten.“
Görtz-Filiale in Henstedt-Ulzburg: Laden schließt nach fast 25 Jahren
Das Fachgeschäft war 1987 unter dem Namen Hess Schuhe in der schleswig-holsteinischen Gemeinde eröffnet worden. Obwohl die Görtz-Tochter schon vor Jahren in die Muttergesellschaft integriert worden war, flattern die gelben Hess-Fahnen immer noch auf dem Parkplatz. „Unsere Filiale war eine der stärksten im gesamten Unternehmen Görtz, vor allem bei Kinderschuhen. Auch der letzte Verkaufstag am zweiten Adventssonnabend war sehr erfolgreich“, sagt der langjährige Filialleiter.
Trotzdem hatte Görtz offenbar hohe Mietschulden angehäuft. Nach Abendblatt-Informationen hat die Eigentümerin des Gebäudes im Gewerbepark Nord in Henstedt-Ulzburg, eine Hamburger Immobilienfirma, deshalb schon vor Monaten einen Räumungstitel beim Amtsgericht Norderstedt beantragt. Weder Filialleiter Welsch noch sein Team waren über den Termin für die Zwangsräumung informiert worden. Auch danach habe sich außer der Personalabteilung niemand gemeldet.
Görtz: Räumungsklagen für sechs Hamburger Filialen
Die schlechten Nachrichten für das Hamburger Traditionsunternehmen Görtz, das der Unternehmer Bolko Kissling im Juli 2023 aus der Insolvenz übernommen und einen Neuanfang mit verändertem Konzept angekündigt hatte, häufen sich derzeit. Anfang Dezember hatte ein Gerichtsvollzieher im Zuge einer Zwangsräumung die Schlösser im früheren Görtz-Zentrallager ausgetauscht und alle Beschäftigten nach Hause geschickt. Der Grund: ebenfalls Mietrückstände. Der Standort, der zuletzt an eine Firma aus dem Firmengeflecht von Investor Kissling vermietet war, ist seither geschlossen. Ein kleinerer Standort in Uetersen soll angemietet worden sein.
Kurz darauf war nach einer Abendblatt-Rercherche bekannt geworden, dass die Vermietergesellschaften von sechs Görtz-Filialen in Hamburg zwischen August und November Räumungsklagen wegen Mietschulden gegen die Görtz Retail GmbH beantragt haben. Darunter ist auch das Görtz-Hauptgeschäft in der Innenstadt. Außerdem sind die Standorte der Schuhhandelskette in der Europa Passage, im AEZ, im EEZ, in Altona und in Bergedorf betroffen.
Zahlungsrückstände und Räumungsklage: Görtz schließt Filiale in Lüneburg
Für die Filiale in Lüneburg war beim Landgericht Lüneburg bereits im Juli eine Räumungsklage wegen Zahlungsrückständen aus dem Mietverhältnis gegen die Görtz Retail eingegangen, bestätigte eine Gerichtssprecherin auf Abendblatt-Anfrage. Im August war ein sogenanntes Säumnisurteil ergangen, weil die Beklagte sich nicht fristgerecht erklärt habe. Das Urteil legt fest, dass Görtz die Fläche räumen und auch die ausstehenden Zahlungen leisten muss. Am vergangenen Donnerstag war der Laden von einer Lüneburger Gerichtsvollzieherin geräumt worden, bestätigte der Sprecher des Amtsgerichts Lüneburg auf Abendblatt-Anfrage.
Auch in Wien war nach einer Räumungsklage in der vergangenen Woche eine Gerichtsvollzieherin in einem Görtz-Geschäft in der Innenstadt. Dort kam es zu einer Einigung, quasi in letzter Minute. Der Laden ist praktisch leer, der Geschäftsbetrieb eingestellt. Für einen weiteren Laden in der österreichischen Landeshauptstadt ist nach Informationen unserer Redaktion ebenfalls eine Räumungsklage anhängig.
16 Görtz-Beschäftigte in Henstedt-Ulzburg betroffen
Auf mehrfache Abendblatt-Anfragen hatte sich Görtz nicht zu möglichen Mietschulden geäußert. Gegenüber dem NDR hatte ein Firmensprecher erklärt, man führe Gespräche mit allen Vermietern und fahre die Strategie, dass man Teile aufgebe und neue Flächen anmiete. Die Mieten müssten stimmen. Deutschlandweit waren diverse Standorte geschlossen worden, zuletzt etwa in Frankfurt, Dortmund oder Erfurt neue kleinere Läden eröffnet worden.
In Henstedt-Ulzburg haben die Beschäftigten die Nachrichten der vergangenen Wochen verfolgt. „Man hat es ja schon geahnt“, sagt Görtz-Filialchef Jürgen Welsch. „Aber wir haben gehofft, dass wir nicht betroffen sind.“ 16 Frauen und Männer waren zuletzt in dem Schuhgeschäft mit mehr als 600 Quadratmetern beschäftigt, der Großteil als Aushilfen. Erst am 1. Dezember waren drei Schüler für das Weihnachtsgeschäft beschäftigt worden. „Dass es mit einer Zwangsräumung zu Ende geht, haben wir uns nicht vorstellen können.“
Bekannte Schuhmarken aus den Läden verschwunden
Einzelhandelskaufmann Welsch hatte zunächst im Lebensmittelhandel als Filialleiter in Süddeutschland gearbeitet, bevor er 1999 in den Norden gekommen war – für seinen Traumjob bei Görtz. Aber schon in den Jahren vor der Insolvenz, als der 1875 gegründete Betrieb noch mehrheitlich im Familieneigentum war, seien Probleme sichtbar geworden. „Alles war auf Sparkurs ausgelegt.“ Das vergangene Jahr, und damit das erste nach der Insolvenz und mit neuem Inhaber, „war eine Katastrophe“, sagt der Filialleiter. Der Onlineshop ist seit dem Sommer offline.
Viele bekannte Schuhmarken seien aus dem Sortiment verschwunden, unter anderem Gabor und Lloyd. Von Adidas und Nike, Ara und Ecco seien nur noch Lagerbestände vorhanden, weil die Firmen keine Neuware mehr lieferten. Zwar seien andere Marken dazugekommen. „Aber selbst Kunden, die Bedarfsartikel wie Gummistiefel, Hausschuhe oder Gymnastikschläppchen brauchten, konnten wir nicht bedienen.“
16 Mitarbeitern wurde eine Weiterbeschäftigung im Hauptgeschäft angeboten
In den vergangenen Jahren haben viele aus der Görtz-Stammbelegschaft das Unternehmen verlassen. Genaue Zahlen wurden zuletzt nicht genannt. Löhne würden gezahlt, wenn auch teilweise etwas verspätet, wie Welsch berichtet. Den 16 Beschäftigten in Henstedt-Ulzburg war nach der Schließung des Ladens am vorvergangenen Montag direkt eine Weiterbeschäftigung in dem Hauptgeschäft in der Spitalerstraße angeboten worden.
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Wer das nicht will, erhält nach Abendblatt-Informationen eine betriebsbedingte Kündigung zum 15. Januar. Nach Angaben von Welsch hat bislang nur eine Aushilfskraft dem Wechsel zugestimmt. „Die Verunsicherung ist groß. Wir wissen nicht, wie es weitergeht.“
Görtz in Henstedt-Ulzburg: Versetzung in die Spitalerstraße oder Kündigung
Er ist wie zwei weitere Kolleginnen im Moment krankgeschrieben. „Mich nimmt das alles sehr mit.“ Am vergangenen Freitag durften er und sein Team noch mal in den Laden, um persönliche Sachen abzuholen. „Das war sehr emotional. Da sind auch Tränen geflossen.“ Eine Mitarbeiterin war dabei, die seit 40 Jahren im Unternehmen sei. Wie es für Welsch weitergeht, will er demnächst entscheiden. Auch er hat ein Versetzungsangebot in die Spitalerstraße. Dort wird dringend jemand gesucht, der den Wareneingang managt.