Hamburg. Das Hamburger IT-Unternehmen Auticon stellt vor allem Beschäftigte aus dem Autismus-Spektrum ein. Jochen S. erzählt seine Geschichte.
Jochen S. hasst spontane Anrufe. Am besten erreichen ihn Kolleginnen und Kollegen telefonisch, wenn sie sich vorher schriftlich ankündigen. Für viele junge Menschen ist so eine Abneigung gegenüber unerwarteten Anrufen normal. Aber was heißt schon „normal“? Eine Frage, die Jochen S. seit Langem bewegt. Denn der 41-Jährige ist Autist.
Autismus als Skill: IT-Unternehmen Auticon setzt auf Neurodivergenz
„Ich denke anders als die meisten anderen Menschen“, sagt Jochen S. „Neurodivergenz“ ist das Fachwort, das viele Autistinnen und Autisten nutzen, um zu beschreiben: Ihr Gehirn verarbeitet Informationen auf eine andere, ganz eigene Weise. Autismus ist dabei ein Spektrum. Das heißt: Nicht bei allen neurodivergenten Menschen zeigt sich die Entwicklungsstörung auf dieselbe Weise und in der gleichen Intensität.
Viele Autistinnen und Autisten haben jedoch gemeinsam, dass sie nicht nur in sozialen Interaktionen auf Herausforderungen stoßen, sondern auch im Beruf. Nach Jahrzehnten der Suche – nach einer Diagnose, nach Hilfe und nach einem passenden Job – hat Jochen S. einen Arbeitgeber in Hamburg gefunden, der seine Neurodivergenz nicht als Nachteil, sondern als Chance sieht: Der IT-Dienstleister Auticon stellt für die IT-Services ausschließlich Menschen ein, die aus dem Autismus-Spektrum sind.
Autisten sind gebildeter als der Durchschnitt – aber fünfmal häufiger arbeitslos
Dirk Müller-Remus hatte das Unternehmen 2011 in Berlin gegründet. Als Vater eines Autisten störte ihn die mangelnde berufliche Perspektive von Menschen im Autismus-Spektrum: Denn laut einer Studie aus dem Jahr 2023 sind Autistinnen und Autisten in Deutschland im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich hochgebildet – aber trotzdem fünfmal häufiger arbeitslos. Und das nicht, weil sie nicht arbeiten wollen.
Viele Arbeitsstrukturen passen nicht zu den Bedürfnissen, die Autistinnen und Autisten haben. Die unterscheiden sich zwar von Person zu Person, besonders häufig erschweren allerdings zwischenmenschliche Probleme die Arbeit. „Für andere stehen bei der Kommunikation Gefühle im Vordergrund“, sagt Jochen S. „Ich denke eher strukturiert und logisch.“
Autismus im Job: Laute Geräusche, Ablenkung, grelles Licht, Stress auf dem Arbeitsweg
Den 41-Jährigen bringen nicht nur spontane Anrufe aus dem Konzept. „Ich bekomme dann Angst und frage mich, was die Person von mir möchte. Ich kann mich geistig nicht darauf einstellen.“ Meist reicht ein kurzer Hinweis, dass man ihn gleich sprechen möchte und ein Stichwort, worum es gehen wird. „Das finde ich deutlich angenehmer.“
Aber auch laute Geräusche, Ablenkung bei der Arbeit durch Kolleginnen und Kollegen, kurzfristige Meetings oder Reizüberflutungen anderer Art – zum Beispiel grelles Licht – kann Jochen S. nicht gut ertragen. Er meidet Blickkontakt. Veränderungen sollten seiner Meinung nach rechtzeitig angekündigt werden. Er hat schon dadurch weniger Beschwerden, dass er dauerhaft im Homeoffice arbeiten kann. „Wenn ich in Präsenz arbeite, bin ich nur halb so produktiv“, sagt Jochen S. Und auch der stressige Arbeitsweg im öffentlichen Nahverkehr fällt so weg.
Die meisten der insgesamt 575 Beschäftigten von Auticon arbeiten in der Regel im Homeoffice. Sie sind auf der ganzen Welt verteilt: Das Unternehmen ist mit mehreren Standorten in EU-Ländern, in Großbritannien, der Schweiz, in den Vereinigten Staaten, Kanada sowie in Australien und Neuseeland vertreten.
Autist Jochen S. hatte keinen leichten Karriereweg
80 Prozent der Beschäftigten sind aus dem Autismus-Spektrum. Für die IT-Dienstleistungen, die das Unternehmen anbietet – Programmieren, Qualitätssicherung, Datenanalyse, Testautomatisierung, Software-Architektur, IT-Security oder Prozessmanagement – werden ausschließlich Autistinnen und Autisten eingestellt. Am Standort Hamburg sind mehr als 15 autistische IT-Spezialisten beschäftigt. Einer von ihnen ist Jochen S.
Als Kind wollte er beruflich irgendetwas mit Dinosauriern machen, Archäologe werden zum Beispiel. Mit zwölf Jahren programmierte er dann im Rahmen eines Schulprojekts seine erste Website – und zog das Programmieren auch beruflich in Betracht. Aber so einfach, wie er sich seinen Karriereweg vorgestellt hatte, wurde er nicht. Bis zum Abitur kam Jochen S. relativ problemlos durch. „Danach habe ich viel versucht zu studieren“, sagt der heute 41-Jährige.
Unentdeckter Autismus führte zu Schwierigkeiten im Studium
Bei Versuchen blieb es auch: In Karlsruhe schrieb er sich für Wirtschaftsinformatik ein, verlor jedoch seine Studienberechtigung, als er sich nicht rechtzeitig von einer Prüfung abgemeldet hatte. Wenig später erhielt er die Diagnose ADHS – und versuchte noch einmal zu studieren, diesmal in Hamburg.
Doch auch an der HAW Hamburg klappte es nicht. Im Hörsaal war es zu laut, Gruppenarbeiten stressten ihn und dann brach auch noch seine Finanzierung weg. S. hatte jahrelang den Online-Shop für die Apotheke seines Vaters programmiert. Als dieser in Rente ging, fehlte das Geld, um weiterzustudieren. Also übernahm er die Erziehung seines Sohnes, während seine Ehefrau arbeiten ging.
Quereinstieg als Programmierer bei Auticon
Nebenbei räumte Jochen S. Regale in einer großen Supermarktkette ein. „Das war jeden Tag das Gleiche und mein Kopf war leer“, sagt der 41-Jährige. Als er auch noch Depressionen bekam, ging er in eine Klinik in Bad Bevensen. Dort sprach er zum ersten Mal den Verdacht aus, dass er Autist ist.
Seit 2019 hat Jochen S. die Diagnose. Während der Corona-Pandemie bewarb er sich zum ersten Mal bei Auticon, doch es gab einen Einstellungsstopp. Im vergangenen Jahr war er dann erfolgreich: Seit September 2023 programmiert er Smart-Home-Lösungen für ein großes Unternehmen mit Sitz in Süddeutschland, das Schaltgeräte produziert. Jochen S. ist dafür zuständig, Prototypen zu entwickeln.
Stärken als Autist: „Ich arbeite sehr genau, fast pedantisch.“
„Die Entwicklung von kleinen Geräten ist mein größtes Interesse“, sagt der 41-Jährige. Daran mag er besonders die Herausforderung: Speicher und Rechenleistung sind begrenzt. „Dadurch muss man sorgfältiger arbeiten“, sagt der Programmierer. Das ist anders als etwa bei der Entwicklung von Websites, wo man sich weniger Gedanken um Speicherkapazitäten machen muss.
Bei seiner Arbeit bemerkt Jochen S. einige Stärken, die er mit Autismus in Verbindung bringt: Er arbeite sehr genau, „fast pedantisch“. Außerdem könne er gut Informationen filtern und zusammenfassen. Doch der Haken ist: Die Dinge müssen ihn auch interessieren. Ist das nicht der Fall, erscheinen ihm auch manchmal alltägliche Aufgaben nicht bewältigbar. „Dann stehe ich auch mal zu Hause vor der Waschmaschine und kann sie nicht bedienen“, sagt der zweifache Vater.
Job-Coaches arbeiten mit autistischen Beschäftigten zusammen
Einmal pro Woche telefoniert der Programmierer mit Merle Klena. Auticon beschäftigt mehrere Job-Coaches, die den autistischen Beschäftigten bei Schwierigkeiten im Arbeitsleben zur Seite stehen. „Manche Kolleginnen und Kollegen sprechen über mentale Herausforderungen, manche wollen projektspezifische Angelegenheiten besprechen und andere bringen konkrete Situationen mit, in denen sie Kommunikationsschwierigkeiten hatten“, sagt Klena.
Kommunikation ist auch so eine Schwäche von Jochen S.: „Ich würde gern in soziale Situationen gehen können und sofort meinen Platz wissen“, sagt er. Oft wisse er nicht, wie er sich verhalten soll. Das kann kräftezehrend sein. „Bei anderen Arbeitgebern ging etwa ein Viertel meiner Energie für Soziales drauf“, sagt der IT-Experte.
Merle Klena stellt Mythen und Halbwahrheiten zu Autismus richtig
Zu Merle Klenas Job gehört auch das Autismus-Briefing in Unternehmen, die neu mit Auticon zusammenarbeiten. Eine Aufgabe, die der 25-jährigen Psychologin besonders viel Spaß macht. „Man hat die Möglichkeit, viele Vorurteile aus dem Weg zu räumen“, sagt die Job-Coachin.
Denn manche Menschen halten Autismus für eine Krankheit oder glauben, Autistinnen und Autisten hätten keine Gefühle. Solche Mythen und Halbwahrheiten stellt Klena in ihren Briefings richtig. Dabei versucht sie, Verallgemeinerungen zu vermeiden. Denn: „Wenn man einen Autisten kennt, kennt man wirklich nur einen Autisten“, sagt die Job-Coachin. „Jeder Mensch aus dem Autismus-Spektrum hat andere Bedürfnisse, Herausforderungen und Stärken.“
Abschläge beim Gehalt: „Ich verdiene lieber weniger Geld und fühle mich wohl“
Dass den Beschäftigten bei Auticon so eine enge Betreuung ermöglicht wird, hat aber auch seinen Preis: „Die Gehaltsspanne in der IT-Branche ist sehr groß“, sagt Tanja Nittel, Projektkoordinatorin bei Auticon. „Wir liegen durch unser besonderes Business-Modell als Social Enterprise nicht im obersten Bereich.“ Doch für viele ist ein Job bei Auticon ein Schritt zu mehr Selbstständigkeit: Sie sind unabhängig von staatlicher oder familiärer Unterstützung – oder einem schlecht bezahlten Hilfsjob, der nicht ihrem tatsächlichen Können entspricht.
Für Jochen S. ist das Gehalt allein nicht ausschlaggebend. „Ich verdiene lieber weniger Geld und fühle mich wohl, als dass ich mehr verdiene, aber verheizt werde“, sagt er. Bei Autistinnen und Autisten treten vermehrt psychische Erkrankungen auf – bei Jochen S. sind es Depressionen. Seine Symptome bemerke er aber seltener und schwächer, wenn er „artgerecht gehalten“ werde, wie er es selbst ironisch nennt. Auticon hält er für einen Arbeitgeber, der auf die Bedürfnisse von Autistinnen und Autisten in besonderem Maße eingeht.
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Und auch Kundinnen und Kunden überzeugt das Konzept von Auticon. „Wir haben viele Unternehmen, die wiederholt mit uns zusammenarbeiten“, sagt Tanja Nittel. Mit Autistinnen und Autisten zu arbeiten, sei für diese eine bewusste Entscheidung. Denn nicht nur fachlich, sondern auch menschlich kann die Zusammenarbeit gewinnbringend sein.
Das Hamburger Familienunternehmen Hoyer war bereits mehrfach Kunde bei Auticon. Das Fazit von Stefan Pchalek, Senior IT-Manager bei Hoyer, fällt positiv aus: „Wir haben eine sehr ausgereifte technische Lösung und einen immensen Wissenstransfer erhalten und möchten die menschliche Erfahrung nicht missen.“